Nizza

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 22.04.2013, 01:26

Ich hatte mehrere Male das Buch »Die Scham ist vorbei« von Anja Meulenbelt gelesen, vieles unterstrichen, ich war seelisch und geistig für die freie Liebe bereit. (Theoretisch vertrat ich sie und tue es immer noch.) Ich weiß, dass ich zu einer sehr kleinen Minderheit gehöre, eigentlich bin ich fast sicher, dass ich der Einzige bin, der daran glaubt und es wirklich praktiziert, damit meine ich, zu akzeptieren, dass die Frau, die man liebt, einen anderen Mann liebt. Natürlich ändert sich vieles mit der Zeit, der Sexualtrieb wird schwächer oder verschwindet sogar. Ich persönlich glaube, wahre Liebe ist das, was man empfindet, wenn man nicht mehr begehrt. Alles andere ist allzu sehr mit Instinkt, mit Hunger, mit Appetit vermischt.

Diotima und ich fuhren mit ihrem Golf nach Nizza. Karl Bruder, ein Freund von mir, wohnte in einem Vorort dieser Stadt. Er holte uns in der Nähe des Bahnhofs ab und fuhr vor uns her. Wir kamen zu einem Hügel mit einer schmalen, kurvenreichen, unasphaltierten Straße. Man musste hupen, um entgegenkommende Autos zu warnen. Dort oben wohnte eine siebzigjährige Schweizerin. Sie und ihr verstorbener Mann hatten sich ein großes Haus gebaut. Sie hatten im spanischen Bürgerkrieg gekämpft, sympathisierten immer noch mit der linken Szene, deshalb war Karl hier, sie hatten immer irgendwelche Gäste. Man wohnte nicht direkt im Haus sondern in einer der vier oder fünf Baracken, die sie in der Nähe des Hauses gebaut hatten, in denen auch sie ursprünglich gelebt hatten. Man brauchte nur die Unkosten zu zahlen.

Kurz nach der Ankunft nahm Diotima eine Dusche im Freien, mithilfe eines Schlauchs, sie zog sich wie selbstverständlich vor unseren Augen aus. Das muss schon Karls Appetit geweckt haben. Wir gingen zusammen in die Stadt einkaufen und kochten am Abend zusammen. Danach spielte Karl auf der Gitarre revolutionäre Lieder, insbesondere ein portugiesisches Lied, das damals in Mode war.
Das wiederholte sich in dieser Woche drei- oder viermal. Dann, am vorletzten oder letzten Abend, kurz vor Mitternacht hatte ich keine Lust mehr, mir dieses revolutionäre Lied aus Portugal anzuhören, und ging schlafen. »Ich komme gleich nach«, sagte Diotima. Aber sie kam nicht zu mir in dieser Nacht. Ich konnte nicht einschlafen, die Eifersucht, die Angst hielten mich wach. Am Anfang hörte ich noch von weitem Karls Gitarre, dann nichts mehr. Ich stand auf und schaute zu seiner Baracke, wo immer noch Licht brannte, ging wieder ins Bett, stand wieder auf, auf einmal brannte kein Licht mehr ... Ich lauschte, bildete mir ein, Diotimas Schritte auf dem Erdboden zu hören. Nichts. Nur die eine oder andere Grille. Ab und zu schlummerte ich ein. Es war hell, als sie endlich kam und sich neben mich legte. Ich weiß nicht mehr, ob ich mit ihr schlafen wollte. Es war mir klar, dass sie mit Karl geschlafen hatte, ich glaube, sie sagte es mir auch. Ich war im Begriff, mich von ihr zu trennen, alleine nach Frankfurt zurückzukehren. Ich wollte alleine, zu Fuß den Berg hinunter und zum Bahnhof laufen, ich war kurz davor, ich glaube, ich hätte es getan und wir hätten uns vielleicht nie wieder gesehen. Aber ich liebte sie so sehr, dass ich sofort alles vergaß, als sie zu mir sagte: »Lass mich nicht fallen!« Bevor ich antworten konnte, steckte sie mir ein Bonbon in den Mund.
Am nächsten Tag fuhren wir weg. Ich gab Karl die Hand zum Abschied. Vorher trugen wir uns in ein großes Gästebuch ein. Es war der 14. Juli. Ich versuchte, irgendetwas Geistreiches aus diesem Anlass zu schreiben.
Abends waren wir in einer anderen Stadt. Ich war innerlich immer noch verletzt und es kam immer wieder hoch, ich konnte keine Ruhe finden. Als sie vor mir her lief, fiel mir auf, dass ihre Waden seltsam zerkratzt waren. Plötzlich verstand ich, dass er sie nicht in der Baracke, sondern irgendwo auf diesem Hügel, im Gebüsch besessen hatte. Sie bestätigte es mir. Ich fühlte mich besser, als wir uns darüber unterhielten. Karl hatte ihr gesagt, er habe seit Monaten mit keiner Frau geschlafen ... »Ich habe eigentlich eine gute Tat getan«, sagte sie.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.04.2013, 09:54

Hola Carlos,

nachdem ich den ersten Absatz gelesen hatte, dachte ich, der Ich-Erzähler wäre ein abgeklärter Mensch, der die freie Liebe nicht nur akzeptiert, sondern sie auch praktiziert.
Bei der nachfolgenden Szene frage ich mich, ob sie viele Jahre zurückliegt oder fast zeitgleich ablaufen soll, denn in dieser Handlung ist der Ich-Erzähler nicht abgeklärt, sondern eifersüchtig und will seine Partnerin sogar fast verlassen.
Oder soll diese Handlung quasi den Grund oder den Beginn darstellen, wieso der Ich-Erzähler zu einem abgeklärten Menschen in Sachen freier Liebe wurde? Wobei ich das ein bisschen "dünn" finde. Es würde mir als Grundstein nicht ausreichen.

Außerdem sehe ich eine kleine Ungenauigkeit: du schreibst:
Klimperer hat geschrieben:... damit meine ich, zu akzeptieren, dass die Frau, die man liebt, einen anderen Mann liebt.

dieses zweite "liebt" meint wohl eher: mit einem anderen Mann zu schlafen, denn in der Szene geht es ja nicht um Liebe, sondern lediglich um Sex. Ein großer Unterschied.

Das Ende lässt du offen. Als Leser möchte ich erfahren, wie der Ich-Erzähler auf ihren "gute-Tat-Satz" reagiert hat. Soll dieser Satz von ihr lustig sein, hat er daraufhin gelacht und es akzeptiert? Dies hielte ich für unglaubwürdig, da er - zu dieser Zeit - eben nicht abgeklärt ist.
Oder hast du das absichtlich offen gelassen?

Saludos
Gabriella

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 22.04.2013, 10:39

Grüzi,

für mich -- perfekt geschrieben. Kein Gramm zu viel oder zu wenig. Nicht zu laut oder zu leise. Von allen Eigenschaften genau die beste Dosis. Der Zeitsprung was mir auch schnell klar. Kein Problem.

Jaja, das ist schon komisch mit der Monogamie. Ich glaube, der Verlustschmerz muss nur kompensiert werden, dann gehts. Aber mach das erstmal. Kompensieren. Entweder selber nebenhermachen, oder der Verlust an sich ist erst gar kein großer, weil es eben nicht mehr so wichtig ist.


Ahoi

P.

Yorick

Beitragvon Yorick » 22.04.2013, 13:22

Hallo Klimperer,

Diotima, sehr hübsch.

Der Text wirkt auf mich wie ein Gespinst aus Lügen, Selbstlügen, verletzten Gefühlen und der Unfähigkeit, sich darüber austauschen zu können. Die Personen agieren nebeneinander her. Der Bonbon als ultimative Demütigung ist ein krasses Bild - mit der Süssigkeit den Mund stopfen. Statt Liebe herrscht Abhängigkeit.

Dahinter vielleicht die Sehnsucht den Partner endlich wachzurütteln. So kann man den Bonbon auch lesen: als Aufforderung für das Süße. Sex wäre hier eine Möglichekti gewesen - aber der ohne Blumen, sondern als Kampfansage. Also als Liebesansage, ich kämpfe um dich. Das bleibt aber aus.

Deine Texte habe ich bisher als sehr filigrane Gebilde wahrgenommen Klimperer, dieserr hier ist anders. Am Anfang ja, aber später nicht mehr. Die Figuren Karl, DLI und Diotima werden kaum beleuchtet, die Schweizerin schon. Keine Blicke, kaum Emotionen. Die Aktionen und Reaktionen sind so verhalten, dass bei mir der Wunsch nach einer befreienden Aktion entstand. Ins Bild passen da die zerkrazten Waden: Leidenschaft.
Aber ich fühle ich mich vom Text sitzengelassen. Die Voranstellung wirkt auf mich wie die Entschuldig für diese Nichtauflösung, kopflastig ohne Entsprechung zum Rest des Textes.

Das Settings gefällt mir, auch der Carlos mit den revolutionären Liedern und Gitarre - das Leben ist einfach so einfach gestrickt. Auch die Schlauchszenen-Idee, aber mit mehr (innerem) Fleisch :-)

Sonnige Grüße,
Yorick.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 22.04.2013, 13:48

Ich komme mit diesem Text nicht klar, obwohl ich ihn wiederholt gelesen habe. Ich habe das Gefühl, der Erzähler ist nicht ehrlich, weder mit sich selbst noch mit uns; mir ist aber auch nicht ganz klar, was (anstelle dessen, was drinsteht) wirklich passiert ist ...

Vielleicht bekomme ich im Lauf des Tages noch eine Erleuchtung ... :12:

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)

pjesma

Beitragvon pjesma » 22.04.2013, 14:48

hm, ich denk darüber auch noch bisschen nach. als erste erinnerte mich an ein roman hemingways, fiesta, wo die hauptdarstellerin britt auch "rummacht" und liebt grad den jenigen mit dem sie nicht "macht"...dort liegt die asexualität aber an der tatsache dass er eine kriegsverletztung hat....hier? ich weiß nicht, es gibt sexualität ohne liebe, aber ob eine man-frau liebe ohne sexualität gebe...bezweifle ich. das ist dann freundschaft, nehm ich an. und hier hab ich mein problem damit das ein freund den anderen nicht belügt, und das der anderer sich mit krümmeln zufrieden gibt...das ist mir ein bisschen scheinheilig. jedenfalls, eine polarisierende geschichte und ich verfolge die diskussion neugierig ;-)
lg

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 22.04.2013, 20:26

Hallo meine literarischen Freunde,

ich bin darüber glücklich, so viel Aufmerksamkeit für die kleine Erzählung zu bekommen. Es liegt wahrscheinlich in erster Linie am Thema.

Normalerweise antworte ich sofort, jetzt aber fehlt mir gerade die Zeit, und ich möchte auch sehr gründlich die Kommentare lesen und entsprechend, so gut ich kann, antworten.

Ich sehe hier die Möglichkeit, für mich selbst auf jeden Fall, schlauer zu werden.

Ich danke Euch vom ganzen Herzen,


euer Freund,

Carlos

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.04.2013, 20:36

Klimperer hat geschrieben:Es liegt wahrscheinlich in erster Linie am Thema.

Claro, que si. ;-)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 22.04.2013, 22:04

Ich würde gern noch präzisieren, welchen Eindruck ich von dem Erzähler habe:
Mir kommt es so vor, als sei er geradezu erleichtert, dass seine Freundin ihren Appetit bei jemand anderem stillt. Ich habe das Gefühl, er fühlt sich ihren Ansprüchen nicht gewachsen. Seine Eifersucht, ohnehin etwas halbherzig, schwindet endgültig, als sich herausstellt, dass seine Freundin sich mit diesem Karl in der freien Natur gewälzt hat. Das hat etwas sehr Freizügiges, riecht geradezu nach Orgie - etwas, was er sich (so sehe ich es) selbst nicht zutraut. Zuerst stellt sie ihn mit Süßigkeiten ruhig; später tröstet er sich selbst damit, dass sie es ja eigentlich aus Mitleid gemacht hätte. Ich glaube, das hat sie nur gesagt, um ihn zu beruhigen - und beide wissen, dass nichts davon stimmt.

Irgendwie ist der Erzähler ein armer Tropf, aber andererseits hat ja fast jeder solche kleinen oder großen Lebenslügen.

Ich hoffe, ich habe jetzt den Klimperer nicht beleidigt mit dieser Deutung ...

Grüße von Zefira
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 23.04.2013, 00:53

Ich präzisiere auch noch ein bisschen. Dass die Akzeptanz schwierig ist und möglicherweise nicht vollkommen ehrlich, das wird mir schon in der Einleitung klargestellt:


"Ich weiß, dass ich zu einer sehr kleinen Minderheit gehöre, eigentlich bin ich fast sicher, dass ich der Einzige bin, der daran glaubt und es wirklich praktiziert, damit meine ich, zu akzeptieren, dass die Frau, die man liebt, einen anderen Mann liebt."


Am Übergang von der Einleitung zur Geschichte wird mir klar, dass die Einleitung gegenwärtig und die folgende Geschichte eine aus der Vergangenheit ist, -- dank des Kontexts und der Zeit-Grammatik:


"Natürlich ändert sich vieles mit der Zeit, der Sexualtrieb wird schwächer oder verschwindet sogar. Ich persönlich glaube, wahre Liebe ist das, was man empfindet, wenn man nicht mehr begehrt.

Diotima und ich fuhren ..."



Auch steckt in dieser Einleitung bereits die Erklärung, warum die Akzeptanz irgendwann doch funktionieren kann: Der Sexualtrieb schwindet, das Begehren endet. Das sagt mir, dass diese Akzeptanz damals, in jener beschriebenen Vergangenheit, keine echte gewesen sein kann, und dass die heutige, vermeintlich erlernte, Akzeptanz zwar nun echt sein mag, aber nun eben auch keine Kunst mehr ist, da das Triebfeuer sowieso aus ist.

Mir gefällt dieser Schreibstil, weil er ohne Schwafeln auf den Punkt kommt, dazu die Selbstironie, gewürzt mit Witz.


Ahoi

P.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 23.04.2013, 01:32

Liebe Gabriella,
ich hatte bei Anja Meulenbelt über die freie Liebe gelesen, bildete mir ein, ich könnte es praktizieren ...
Theorie und Praxis ...
In der Praxis hast du ja gelesen, wie ich empfand, wie ich reagierte.
Du hast Recht, es ging nicht um Liebe, sondern um Sex.
Meine Reaktion auf Diotimas Worte war so, wie du für unwahrscheinlich hältst.
Mit Einschränkungen, mit gewaltigen Einschränkungen, war ich, nach dieser Erfahrung, irgendwie ein "abgeklärter" Mensch.
Mir ist bewusst, dass wir den literarischen Rahmen verlassen, bei dem es nur um den ästhetischen Wert des Geschriebenen gehen sollte. Ich bin aber gerne bereit, über dieses komplizierte Thema zu reden.
Herzlichen Gruß,
Carlos

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 23.04.2013, 09:22

Grüß dich Pjotr,

ich habe mir vorgenommen, der Reihe nach jedem Kommentar zu antworten.

Nun, ich bedanke mich sehr für diesen, deinen ersten Kommentar. Der zweite ist ausführlicher, den werde ich am Schluss beantworten. Ich kann dir aber im Voraus sagen: Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.

Herzliche Grüße,

Carlos

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 23.04.2013, 09:50

Hallo Yorick,
ich danke dir für deine Rückmeldung.
Ich sehe, du hast den Namen Diotima gut erkannt: so nannte Hölderlin die Frau des Bankiers in Frankfurt, bei dem er als Hauslehrer angestellt war. Auch Hegel, ein Zeitgenosse, verdiente sich anfänglich so sein Geld.
Mit Kritik ist schwieriger als mit Lob umzugehen ...
Was ich beschrieben habe hat sich exakt so abgespielt. Natürlich könnte ich viele Details hinzufügen, zum Beispiel, wie Diotima mir in einem kleinen Bassin auf diesem Grundstück das Schwimmen beibringt.
Ein wahrer Schriftsteller hätte eine Novelle daraus machen können.
Vielleicht lerne ich das noch.
Du weißt, wie unterschiedlich die Menschen sind: Das mit dem Bonbon hätte wahrscheinlich bei dir anders gewirkt. Mich hat es betört.
Herzliche Grüße,
Carlos

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 23.04.2013, 10:30

Hallo Klimperer,
jetzt, wo Du kund getan hast, dass Du selbst der Erzähler bist, ist mir meine letzte Stellungnahme recht peinlich.
Vielleicht gehen wir einfach einvernehmlich drüber weg?

Grüße von Zefira
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(Ikkyu Sojun)


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