Gedankenstadt&Flucht - DZusG IX

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 20.01.2010, 11:47

Hier steht Teil VIII:
viewtopic.php?f=1&t=10399&p=138160#p138160



Gedankenstadt

Konit begann, sich albern vorzukommen. Was tat er hier eigentlich? Seit Stunden kauerte er im kalten Wind hinter einer Düne, dem Hinweis abergläubischer Halbwilder folgend, die behauptet hatten, dort gebe es Geister zu sehen. Lächerlich. Er rang sich ein gequältes Grinsen ab. Sie Sonne war längst untergangen. Was Glück, daß die Gespenster sich den Vollmond zum Erscheinen aussuchen, dachte er bitter. Dieser wirre Scharlatan würde es fertig bringen, mir im Stockdunkeln ein paar unsichtbare Geister als Beweis seiner Wahnideen vorzuführen, liefe er noch frei herum. Unwillig sah er auf die Uhr. Mitternacht. Der volle Mond stand hoch am Himmel und tauchte Meer und Dünen in ein milchiges Halblicht.
Energisch rief er sich zur Ordnung. >>Milchiges Halblicht<<? Warum nicht gleich >>halbes Milchlicht<<? Daß sein Spott der schwärmerischen Anfechtung, in die ihn der Anblick des mondbeschienen Strandes trieb, nicht das mindeste anhaben konnte, wurmte ihn noch mehr.
Kleine Wellen schwappten heran, feine Rinnsale von weiß schimmerndem Licht suchten sich ihren Weg durch den Sand, verzweigten sich, fanden wieder zueinander, eine forschende Vorhut für das gewaltige Heer, das dahinter im Anrücken begriffen war. Kürzer - und in jeder Hinsicht besser - gesagt: Flut.
"Tidenwechsel" murmelte er, wie zu einem anderen, schlechteren Ich, dem die Skrupel der Ratio fremd waren und sich an die Szenerie zu verlieren drohte. "Wenn jetzt nicht in der nächsten halben Stunde etwas geschieht, bin ich weg. Wenn diese Irren glauben, sie könnten mich zum Narren halten, irren sie sich. Am Ende ist das alles nur ein Ablenkungsmanöver..." Aus dem dünnen Rinnsal an der Spitze der hereinlaufenden Flut sprang ein weiß leuchtender Fisch, beschrieb einen flachen Bogen durch die Luft und verschwand. "Was zum...?" Er war jäh aufgefahren. Im Innern hörte er den Andern kichern. So ziemlich alles sprach gegen Gespensterfische, die im Uferstreifen herum sprangen. Aber er hatte ihn doch ganz deutlich gesehen... "Es. Nicht ihn. Wahrscheinlich nur ein Spritzer, angereichert mit diffusem Licht und der überbordenden Kreativität der menschlichen Gestaltwahrnehmung. Man kennt das von nächtlichen Waldwanderungen: Jeder Baum ein Riese, jeder Stumpf ein Wichtel, jedes Blatt... - EIN VOGEL!!?"
Eine quirlige leuchtende Kugel hatte sich aus dem Wasser gelöst und schwirrte aufgeregt zwitschernd umher.
Konit stöhnte auf. Er fühlte eine Tür in sich, wo eine Wand sein sollte. Der Andere hatte sich erhoben und klopfte. Beharrlich, zuversichtlich, ein unabweisbarer Besucher. Seine Pupillen waren weit vom langen Dunkel, die Augen voll staunender Neugier. Fragende Augen im festen Glauben an die Antwort. Der Andere war ein Kind. Es forderte Rechenschaft für dreißig verschlafene Jahre. Anklagend hielt es ihm die Bilder vor, die so unbarmherzig in die Netzhaut strömten. Es wollte eine Erklärung.
"Eine verirrte Möwe vielleicht." Stammelte er. "Eine Sternschnuppe, die nah erscheint. Eine Lichtbrechung auf eine dunklen Welle." Der Vogel stieg steil auf, flog einen Looping, tauchte im Sturzflug ins Wasser und gleich darauf einige Meter weiter wieder heraus. "Fata Morgana! Wahnvorstellung! Kugelblitz!"
schrien jahrhunderte empirischer Naturwissenschaft aus ihm heraus wie eine heißgelaufene Dampflok kurz vor der Explosion. Dann geschah es.
Vor seinen Augen, begleitet von einem Aufschrei des befreiten Gegen-Ich , der ebenso viel Überraschung wie Entzücken verriet, wuchs ein Baum aus dem Wasser. Fontänen von Mondlicht schossen empor, wanden sich in- und umeinander. Dann stoben sie auseinander, eine nach der anderen, und gerannen zu feingliedrigen Netzen von Zweigen, Rank- und Laubwerk. Als das Wachstum aufhörte, überspannte die Krone einer gewaltigen Eiche nahezu die gesamte Bucht. Der Vogel piepste fröhlich auf, setzte sich auf einen Ast und begann, ein Nest zu bauen. Hinter der Tür brach Jubel aus.
Mit steigender Flut ging es rascher. Weitere Bäume sprossen, Eichen, Buchen und Fichte, dann Pinien, prähistorische Schachtelhalme und Palmen, schließlich Sorten, die Konit noch nie gesehen hatte. Einige waren bar von Laub und ähnelten eher überdimensionalen Korallen, andere sahen aus wie lebendig gewordene Atompilze. Zwei Stämme schnellten aus dem Wasser, wirbelten empor und schlossen sich oben zu einem Herz zusammen. Ein Baum wuchs, der anstelle von Blättern kleine silberne Glöckchen trug, die bei jeder Bewegung der Äste klingelten. Ein Rudel Rehe sprang aus den Wellen und widmete sich dem frisch gewachsenen Gras, gefolgt von Hasen und Kaninchen, Füchsen, Wildschweinen, Igeln, einem Iltis. Ein Adler glitt neben der Eiche in majestätischen Kreisen durch die Luft. Zwischen den Ästen lugte ein Giraffenkopf hervor. Irgendwo in dem Dickicht trötete ein Elefant. Und das Wasser stieg.
Konits Staunen kam zum Stehen. Möglichkeit war nichts graduelles. Potenzen des Unmöglichen gab es nicht. So vernünftig war selbst seine Verblüffung.
Resigniert beobachtete er den Einzug eines halben Dutzend Einhörner. Schätzte ab, daß der Drache, der eben aufgeflogen war, zu weit entfernt war um ihm mit einem seiner Feuerstöße gefährlich zu werden. Die kichernden Wichte, Greife und Wolpertinger nahm er schon gar nicht mehr war. Das Pochen ignorierte er. Er hatte genug gesehen.
Sein Verdacht, so wahnhaft er sich ausgenommen haben mochte, hatte sich eindrucksvoll bestätigt. Dem Urteil seiner Augen mochte zu mißtrauen sein, sein Verstand dagegen funktionierte tadellos. Der Nebel verursachte Halluzinationen. Und er kam näher.
Er mußte hier weg.
Schnell.
Sekunden später war er die Düne herunter und rannte Richtung Stadt wie um sein Leben.

Obwohl der Mond schien, war der Weg vor ihm kaum zu erkennen. Nur der Leuchtturm warf seinen Strahl, ließ die Landschaft sekundenweise taghell aufblitzen, um sie gleich darauf der Dunkelheit zurückzugeben. Während er weiter keuchte, warf er einen Blick zurück über die Schulter nach dem unheimlichen Verfolger.
Von Blitz zu Blitz rückte er zehn Schritte vor. Der Jäger nahte in Sprüngen. Er war nah. Zu nah. Konit hatte kaum Zeit für einen Aufschrei. Mit einem Satz war der Graue um ihn. Mit einem Schlag wich alle Farbe aus den Dingen. Die Welt wurde grauer Diest. Das Rauschen des Meeres und der Gang seines eigenen Atems klangen eine Weile wie ein diffuses Echo von weit, weit her, ehe die Schwaden dichter wurden und jeder Laut erstarb. In der Ferne begannen die Berge zu verschwimmen. Von den Finger- und Zehenspitzen an wanderte Kälte durch seine Glieder, gefolgt von Taubheit. Er griff sich zum Kopf, in der Hoffnung auf einen Widerstand, der ihm bezeugte, daß er noch da war, wirklich da war, und nicht träumte - und faßte ins Nichts. Etwas in ihm bestand darauf, alles um ihn müsse sein wie immer, nur eben kurzzeitig unsichtbar, den Sinnen verschlossen. Doch im großen und ganzen glaubte er sich kein Wort. Was hier geschah, entlarvte das Märchen vom festen Objekt als abergläubisches Dogma. Das einzig Verläßliche war die Erde, auf der er stand.

Stand? Er spürte keinen Boden mehr. Jeder Raum schien ihm abhanden gekommen. Bewegte er sich? In welcher Position befand er sich? All diese Fragen waren eigentümlich bedeutungslos. Die nächste Analogie, die ihm einfiel, daß es sich so anfühlen müsse, schwerelos im All zu treiben. Treiben? Es gab kein Wort für seinen Zustand. Die Sprache sah derlei nicht vor. Wie konnte er nur einen Augenblick bestehen? Wohl aus Erinnerung? Aber was bezeugte die Erinnerung? Sie konnte ein Trugbild sein. Was ihn hielt, er gestand es ungern, war Glaube. So trieb er dahin und spürte, angstlos, nüchtern, daß er verlöschen müsse, wenn er nicht bald eine Welt gewann. Da tauchte etwas auf. Langsam, undeutlich, halbwirklich, Schatten in der Verborgenheit... Ein Unsinn: Was sich sehen ließ, ließ sich klar sehen. Und doch... Nachgerade war, was sich entbarg, so unwahrscheinlich, daß sich die vormalige Schattenwelt dagegen geradezu handfest ausnahm.

Rings um ihn schwebte eine ungeheure Stadt, die sich in alle Richtungen erstreckte wie ein Himmel in sternenklarer Nacht. Straßen oder Brücken suchte man vergebens - unzählige Bauten standen hier frei im Nichts, dazwischen lag Leere, die nicht einmal mehr Abgrund war. Die Gebäude glichen zumeist kühnen Türmen durch ihren schlanken, geraden Wuchs - im übrigen ähnelten sie nichts, was Konit je zuvor gesehen hatte. Nach unten war so wenig ein Fundament auszumachen wie nach oben eine Spitze: Sie trugen ihre Köpfe in den Wolken, und ihre Füße waren bloß hinzugedacht, erschlossen, nur schwindende Ahnungen des am Grenzenlosen scheiternden Verstandes. Vereinzelt waren auch kompaktere Formen zu erkennen: Nicht weit vor ihm - aber was hieß das schon? Es hätte ebenso der Mond sein können wie die eigene Nasenspitze! - lag eine Burg mit hohen Mauern und Zinnen voll bunter Flaggen, die sich unter dem Anhauch eines Windes, der weder zu hören noch zu spüren war, blähten und streckten. Mehrere der Bauten hatten die Gestalt schmaler Spindeln, andere entfalteten sich von einem dünnen Schlauch nach oben hin zu breiten Trichtern wie in der Kälte des Weltalls gefrorene Wirbelstürme.
Am genauesten erkennbar aber war eines der turmartigen. Wenn dies Gebäude von jemand errichtet worden war, dann war es das Werk eines Wahnsinnigen. Über lange Strecken war er weiter nichts als Baugerüst, filigrane Streben, wie Spinnenbeine, auf denen die nächsten Stockwerke um so ärger zu lasten schienen. An anderen Stellen standen feste Mauern, üppig verziert durch Statuen und Wasserspeier, zwischen denen kleine Erker hervor ragten. Hier und da wuchsen solche Erker sich zu ganzen Nebentürmen aus, die, wenn man ihnen mit dem Blick nach oben folgte, mal in ihrem Wachstum unvermittelt abbrachen, mal sich wieder näher an den Hauptturm schmiegten und mit ihm verschmolzen. Gewisse Teile des Mauerwerks waren rissig und bröckelten auseinander, ihre Umrisse zerflossen zu staubigen Wolken als seien sie schon viele hundert Jahre alt. Nichts an diesem Gebilde paßte zusammen, ein wahlloses Durch- und Ineinander von Entwurf und Ausführung, frühgeboren, unfertig, eine Baustelle, von Arbeitern und Architekten lange aufgegeben..
An der Fassade kletterte ein ungeheurer Schatten empor. Konit wandte sich um. Eine Burg schwebte herbei, in gerader Linie auf den Turm zu, erreichte ihn und verschwand darin.
Erst nach einer Weile akzeptierte er das Urteil seiner Augen, dem er aufgrund offenkundiger Unmöglichkeit bislang die Annahme verweigert hatte. Der Turm bewegte sich. Er neigte sich hin und her, wand sich, pulsierte und zuckte wie ein ungeheurer Schlangenleib.
Plötzlich spürte er ein ungeheures Verlangen, hinein zu gelangen. Dies war seine Schlange, seine Sonne, sein Grund - sie sollte ihn sich einverleiben, ihn packen und hinunterschlingen, hier war sein Platz, sein Sinn, seine Heimat...

Ein Stimme erhob sich. Nicht von hier oder dort. Sie kam ihn nicht an. Er stand, nein, er schwamm darin. Die formalen Zwänge zeitlicher Verläufe fochten sie nicht an. Sie ereignete sich, doch sie verlief sich nicht. Sie sprach, doch sie verflog nicht. Ein Klang, der so wenig vom Makel der Flüchtigkeit angekränkelt war, daß er selbst, der vermeintlich Beständige, sich gegen die Stimme ausnahm wie ein Lufthauch. Unverortbar, ohne sich auch nur als innere oder äußere klar zu erkennen zu geben, war es dieser raumlosen Wirklichkeit noch am gemäßesten, zu sagen, sie komme von überall her zugleich. War er Sprechender oder Hörender, Angesprochener oder Lauschender? Alle Versuche, sein Verhältnis zu ihr zu bestimmen, zerfielen im Ansatz. Es gab keinen Standpunkt, von dem aus er sich ihr hätte entgegensetzen können, um sich auf sie zu beziehen. Er ging in ihr auf, war ein Teil von ihr.
Sie entsprach der Dramatik dieses Eindrucks nicht im mindesten. Mit der indignierten Nüchternheit eines zur Unzeit belästigten Verwaltungsbeamten tönte es:
"Was tun Sie hier? Sie dürfen nicht hier sein. Das ist gegen die Vorschriften."
Stille. Konit blickte gehetzt um sich. Er hatte plötzlich das Gefühl, angeschaut zu werden. Nein, nicht angeschaut. Durchschaut, überschaut, ganz und gar gelichtet, einem Blick ausgesetzt, dem sich Bereiche seines Wesens öffneten, die sogar ihm selbst verborgen waren. Als die Stimme wieder einsetzte, war sie unvermindert bestimmt, doch klang sie jetzt um einiges freundlicher.
"Ach, Sie sind es? Na, entschuldigen Sie, aber Sie müssen schon verstehen. Wo kämen wir da hin, wenn jeder so einfach... Nein, wirklich... Wir haben hier schon genug Scherereien."
"Wo bin ich?"
Schlimmer noch als die Bedrängung, die aus der Frage erwuchs, war, daß die Stimme nach kurzem Zögern erwiderte.
"Sie sind - ja, wie soll ich sagen? Im Grunde ist die Frage schon ein Fehler. Auf einer Karte für Sie möglicher Orte wären Sie nirgends. Sie sind... außerhalb."
Die verlangte Auskunft war offenbar so beschaffen, daß vermehrtes Nachfragen nur die Verwirrung steigern konnte. Es gab anderes, vielleicht wichtigeres, was man in Erfahrung bringen konnte. "Und was tue ich hier? Wie bin ich hergekommen?"
"Interessante Frage. Ich werde darüber nachdenken. Auf jeden Fall sind Sie hier fehl am Platz. Hier gibt es nichts. Alles nur ein Traum. Ein Traum, hören Sie. Sie träumen. Es gibt kein Außerhalb und keinen Turm, keine Wolke und keine Stimme. Alles Hirngespinste, halluzinogene Dämpfe, Sie wissen schon. Sie sind nicht hier - wie sollte das auch möglich sein, hier gibt es ja gar nicht - aber was rede ich da. Sie schlafen, tief und fest, mit scheußlich wirren Träumen, der Tag war hart, und solche Träume haben Sie ja öfter - vergaß ich, das zu erwähnen? - nun, jetzt wissen Sie es, vielleicht erinnern Sie sich auch bald an ein paar andere. Waren Sie deswegen in Behandlung? Könnte sein. Nein, eher haben Sie sich selbst analysiert. Nicht wahr, das ist Ihnen viel gemäßer. Oder Sie haben Fieber - natürlich, am Strand war es frisch, Sie haben sich eine deftige Erkältung eingefangen, jetzt liegen Sie in Ihrem Bett und phantasieren. Das käme ungelegen, Sie haben morgen ja noch eine Menge vor - meinen Sie, sie kommen schnell genug wieder auf die Beine? Aber wen frage ich das? Sie sollten längst fort sein. Ab jetzt, Schlafmütze. Husch, husch!"




Flucht

Als er am kommenden Morgen erwachte, war der Spuk wie erwartet vorbei; das Fenster gewährte einen klaren Blick über die Dächer bis weit in die nahen Berge. Nebel kam und ging. Kein Grund, in etwas feuchter Luft Gespenster zu vermuten. Verworrene Träume fanden zum Glück mit dem Erwachen ihr jähes Ende.
Durch das Fenster drangen Fetzen eines lautstarken Gespräches. Konit schaute heraus. Auf der Gasse unterstrich ein Herr mittleren Alters mit hektischen Gesten einige Worte an seine Kumpanen, über deren Gegenstand er derart aufgebracht war, daß seine Stimme sich beinahe überschlagen.
"Ich schlage mein Tagebuch auf - und glaube mir kein Wort! Meine Schrift, kein Zweifel - gestern erst habe ich es geschrieben. Und doch - nichts lag mir ferner, als krank das Bett zu hüten, ihr alle wart Zeugen meiner unrühmlichen Handgreiflichkeit mit dem Herrn Bürgermeister auf dem Marktplatz!" "Mit dem Postboten!" "Nein, mit dem Bürgermeister." "Dann warst du entweder besonders streitlustig an diesem Tag oder der Herr Bürgermeister beliebte aus unerfindlichem Grund eine gelbe Uniform zu tragen."
Offenbar eine Saufbruderschaft, die sich an ihren Gedächtnislücken freute. Konit schüttelte unwillkürlich den Kopf und schloß die Läden.
Von der Treppe her drang das Poltern übereilter Schritte herein, gepaart mit dem Ton einer Lunge, die trotz Atemlosigkeit Atem zu schöpfen gezwungen wird. Kurz darauf donnerte es heftig an die Zimmertür, offenbar schlug jemand mit der Faust dagegen.
"Dr. Konit? Dr. Konit! Kommen Sie! Das müssen Sie sehen!" Die Stimme war ein heiseres Kreischen, durchsetzt von Röcheln und Keuchen, doch unverkennbar die von Kommissar Halvoder. Konit öffnete die Tür einen Spalt und blickte in ein Paar Augen, deren panischer Ausdruck ihn an ein Pferd denken ließen, das neben einem Brandherd angepflockt ist. "Was ist denn los?" fragte er noch, doch was immer das sein mochte, hatte für sein Gegenüber den Rahmen des Sagbaren weit überschritten. Wortlos faßte ihn der Mann am Handgelenk und zog ihn mit erstaunlicher Energie die Treppe hinab.
"He, langsam, wohin denn so eilig?" Er versuchte, den Griff zu lockern, mit dem Ergebnis, daß sich Halvoder nun noch fester daran klammerte. Nach mehrfacher Wiederholung stammelte er "Marktplatz", und das war alles, was er auf dem Weg dorthin herausbrachte.
Schon einige Gassen vor ihrem Ziel bemerkte Konit jenes Geräusch, das größere Menschenansammlungen unverkennbar begleitet und anzeigt: Jenes formlose Summen wie von einem Bienenschwarm, das unverortbar in der Luft lag und sich erst aus nächster Nähe hie und da in Teile einzelner Gespräche auflöste.
Schon die Gasse war tatsächlich so voll von Menschen, daß der Kommissar selbst unter Aufbietung seiner Amtswürde Mühe hatte, sie bis dorthin durchzulotsen. Konit konnte vermochte den Grund der Aufregung nicht auszumachen und sah seinen Begleiter fragend an. Statt einer Antwort deutete er in Richtung auf die Berge hin, und Konit ließ seinen Blick dem Fingerzeig folgen.
Dann sah er es. Auf dem flachen Gipfel der grünen Höhe, der gestern am längsten und stärksten jedem Einblick verwehrt hatte, standen Türme und Mauern: Dort, wo er noch gestern die Kahlheit des Gipfels bewundert hatte, erhob sich nun eine gewaltige Burg.
Seine Fassungslosigkeit währte nur für den Moment, den er in ärgerlicher Gewohnheit gegen seine Überzeugung seinen Sinnen traute. Gleich darauf gewann der Verstand wieder die Oberhand, errang sich die Herrschaft über die Gesichtszüge zurück und faßte das scheinbar Unfaßbare mit dem Würgegriff der klaren Worte.
Man sah also in einiger Entfernung ein Gebäude, wo vorher keines gewesen war. Und also jetzt keines sein konnte. Und also auch keines war. Kein Grund zur Beunruhigung - hatte er nicht besseres gesehen? Kein größerer Zirkus war um jemand verlegen, der vor den Augen eines aufmerksamen Publikums in nächster Nähe Elefanten verschwinden und wieder auftauchen lassen konnte. Ein klassisches Stück des Großillusionismus bestand darin, ähnliches mit einem Sattelschlepper vorzuführen. Hatte er nicht selbst in seiner Jugend einen Plan erdacht, wie man das große Denkmal auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt für einige Minuten in den Nachbarort versetzen konnte? Am hellichten Tag, bei guter Sicht, wohl bemerkt, nicht über Nacht in stundenlangem Nebel, kilometerweit vom nächsten Beobachter entfernt! Nur an den Mitteln war der Plan gescheitert, was die Frage nach sich zog, wer über die Kenntnisse verfügte, solch ein Kunststück zu planen, die Mittel, es umzusetzen und ein ausreichendes Interesse, sie einzusetzen. Und der Kreis dieser Personen war beschränkt. Sehr beschränkt - mit ziemlicher Sicherheit auf eine einzige Person, die es nicht gewesen sein konnte, weil er selbst ihr das beste Alibi verschafft hatte, das man sich wünschen konnte. Es sei denn...
Abrupt riß er sich vom Anblick des fernen Bauwerks los und rannte, so schnell er konnte, zurück die Straße hinunter, durch schmale, verwinkelte Gassen in fiebernder Hast. Es fehlte nicht viel, und er hätte den jungen Polizisten über den Haufen gerannt, der plötzlich vor ihm in vollem Lauf um die Ecke bog und zuerst Anstalten machte, ihn beiseite zu stoßen. Als er ihn aber erkannte, blieb er stehen und brachte keuchend und stammelnd heraus, was Konit längst wußte: Zwei Vollzugsbeamten hatten Zelle 17, die sicherste der Stadt, die hinter drei schweren stählernen Türen lag, bei ihrem morgendlichen Kontrollgang leer vorgefunden. Vagonar war entkommen. Nirgends fand sich ein Zeichen seiner Flucht. Er war spurlos verschwunden. Und mit ihm der Junge und der Dolch.



Hier steht Teil X:
viewtopic.php?f=1&t=10406&p=138313#p138313
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 21.01.2010, 12:32, insgesamt 4-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 21.01.2010, 00:38

Weiter, mehr!!! Du hast mich voll am Haken, Merlin! :daumen:

aufgewühlte Mucki :mrgreen:

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 21.01.2010, 12:45

Hallo Gabriella,
oh, das freut mich! :-) Dann will ich dich mal nicht länger zappeln lassen und stelle den letzten Teil ein.
Liebe Grüße
Merlin


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