Deutscher Arbeiter 1936-1945

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Caty

Beitragvon Caty » 29.07.2007, 07:15

Deutscher Arbeiter 1936-1945

Großvater, als sie dir dann wieder
Arbeit gaben, du warst ein stolzer Prolet mit
Sauberem Kragen, dein Haar war noch dicht,
Und als sie dir fünf Mann unterstellten,
Warst du wieder wer, freudig ließest du dich
Mit so etwas ein. Alles sprang nach deinen Befehlen.
Dankbar grüßtest du ihre blutigen Fahnen,
Sangest ihre verfluchten Lieder.
Und als dann die Welt zu Scherben zerbrach,
War es auch deine Nacht der langen Messer, du
Merktest noch immer nicht, worum sie
Dich betrogen, du warst ihr kleiner Befehlsausführer,
Du hattest dich eingeordnet, nie aufbegehrt,
und darum glücklicherweise noch, was man
Leichthin nennt das nackte Menschenleben.

Klara
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Beitragvon Klara » 01.09.2007, 23:32

Hallo Orit,

ich glaube nicht, dass man für jemanden deshalb mehr Trauer empfindet, weil er derselben Staatsform angehört. Jedenfalls nicht mehr Trauer für einen aus einem deutschen Staat, (den es so seit 1945 nicht mehr gibt) als um jemand anderen, den man nicht kennt, der aus einem anderen Staat kommt. Staat und Gemeinschaft bzw. politisch/wirtschaftliche Organisationsform und Gemeinschaft ist etwas so grundsätzlich Verschiedenes, dass ich das nicht empfinden kann. Das mag an der mir von Moshe attestierten Hartherzigkeit liegen.

Wie definiert sich "Gemeinschaft"? Über Sprache? Kultur? Religion? Obrigkeit? Ausschlussverfahren? Und in welchen Zeiträumen? Gehöre ich im Nachhinein der "Gemeinschaft" der Wehrmachtssoldaten an, weil sie "Deutsche" waren? Ich habe eine Aversion gegen den Begriff, aber auch das mag von Hitlers Begrifflichkeit herrühren. Hitler liebte den Begriff "Gemeinschaft", weil er auschließt. "Volksgemeinschaft" ist ein von den Nazis verseuchter Begriff, ein rassistisches Propaganda-Wort mit schlimmsten Folgen, das ich nicht unhinterfragt verwenden mag.

Viele Grüße
Klara

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 02.09.2007, 01:40

Hallo zusammen,

sind wir noch beim Text? Wahrscheinlich schon.

Klara schreibt:
"ich glaube nicht, dass man für jemanden deshalb mehr Trauer empfindet, weil er derselben Staatsform angehört"

und da ist absolut was Wahres dran, aber hier geht es nicht mehr um dem x-ten menschenverachtenden Krieg der Geschichte, sie hatte mehr als zuviel davon zu bieten, sondern um eine historische Einzigartigkeit in der Geschichte. Der Holocaust ist in seiner Konsequenzbereitschaft unvergleichbar. Kein anderer der ´zig Genozide der Welt lief derart kaltblütig und wie eine Maschine über die Bühne. Jeder denkende Mensch muß sich damit auseinandersetzen.
Und in Deutschland gibt es da ein massives Problem. Wir gedenken lieber der Opfer alliierter Bomben als den Opfern des Holocausts. Und wollen eben nichts von Leuten hören, die Schuldzuweisungen machen, wie Caty es ja tut.

So jedenfalls meine Meinung

Ansonsten würde ich mir wünschen, dass die Diskussion hier etwas ziviler abläuft.

Jürgen

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 02.09.2007, 09:48

Hallo nochmal,

ich muss mich korrigieren. Ich habe mich vielleicht mißverständlich ausgedrückt. Ich sehe kein Problem darin, dass der Opfer von Bomben gedacht wird, sondern wie in manchen Teilen der deutschen Gesellschaft dieser Krieg und die Verantwortung relativiert wird.

Darum finde ich zumindest aus meinem Blickwinkel Catys Gedichte nachvollziehbar.

Schönen Gruß

Jürgen

Orit

Beitragvon Orit » 02.09.2007, 20:58

Hallo Klara!
Welche Begrifflichkeit du auch immer verwenden möchtest: "Landsleute", "deutsche Mitbürger", wie auch immer, also Menschen mit denen dich gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition/Religion, Land verbindet - mit denen, unter denen du lebst, und kein Zusammengehörigkeitsgefühl empfindest - das empfinde ich als kalt. Wenn du sagen würdest, daß du es gerne hättest und vermißt, aber in Deutschland irgendwie nicht empfinden kannst ... vielleicht ist es ja so? Ich lese es aber aus deinen Zeilen nicht heraus.
Auch wenn Deutschland vor Mai 1945 eine andere Staatsform hatte, waren es auch Deutsche, die dort lebeten, die Generation der Eltern und Großeltern. Auch wenn man gerne will, man kann sich nicht von der Geschichte abtrennen.

Hallo Sethe!
Ich denke mit der Frage: wie ist es möglich, daß Menschen anderen Menschen solche Grausamkeiten antun konnten - nicht weiter kommt, in dem man versucht diese Grausamkeiten in Worte zu fassen, sondern den Weg beschreitet, den Caty mit ihrem Gedicht geht. Suchen, herausfinden, wer war unmittelbar aber auch mittelbar beteiligt. Die Stimmung, den gesellschaftlichen Hintergrund erfassen. Und dann auch in der "eigenen Gemeinschaft" bleiben und sehen, daß sie selbst Opfer ihrer eigenen Taten waren. Nicht das Schicksal hat ihnen das Opfer bereitet, sondern die eigenen Taten. Das würde meiner Meinung nach die Beantwortung dieser Frage näher bringen.

Orit

Klara
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Beitragvon Klara » 02.09.2007, 21:53

Hallo Orit,

Welche Begrifflichkeit du auch immer verwenden möchtest: "Landsleute", "deutsche Mitbürger", wie auch immer, also Menschen mit denen dich gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition/Religion, Land verbindet - mit denen, unter denen du lebst, und kein Zusammengehörigkeitsgefühl empfindest - das empfinde ich als kalt.

was mich daran stört, ist der Denkfehler. Denn diese gemeinsame Sprache und Kultur verband auch die assimilierten Juden mit den "Deutschen". Genauer gesagt: Die Juden im Deutschen Reich WAREN bis zu den Erlassen Deutsche. Sie wurden erst von den Nazis zu Nicht-Deutschen gemacht. Und wenn du jetzt die "Deutschen" von den "Juden" vor 1933 trennst, ist das ein bitterer ironischer Fehlschluss.

Tradition und Religion waren und sind verschieden bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen: Juden, Katholiken, Atheisten, Eingewanderten, Ausgewanderten, Sektenanhängern, Gebildeten, Arbeitern, deportierten Juden/Kommunisten/Homosexuellen/Behinderten etc. Ich weigere mich in der Tat, mich "Landsleuten" zugehörig zu fühlen, nur weil sie "Deutsche" sind/waren, weil dieses - mein? - Volk Menschen deportiert und umgebracht hat, EINFACH SO. Warum sollte ich um "deutsche" Kriegstote mehr Trauer empfinden als um jüdische Auschwitztote? Und warum führen wir eigentlich diese groteske Debatte?
Mit Kälte hat meine Empfindlichkeit bei Begriffen wie "Gemeinschaft" nichts zu tun, eher mit Genauigkeit. Es mag aber auch sein, dass hier ein großes Missverständnis vorliegt.

Liebe Grüße
Klara

Orit

Beitragvon Orit » 03.09.2007, 18:09

Hallo Klara, hallo Jürgen!

Ein Mißverständnis vielleicht durch unterschiedliche Wahrnehmung. Ich gehe einfach davon aus (nicht zur Relativierung der Taten, sondern zur eigenen Trauerarbeit), daß einem die "eigenen Leute" also im engeren Sinne die eigene Familie und deren Wurzeln/Herkunft am nächsten sind (was doch Wahrnehmung und Trauer für andere überhaupt nicht ausschließt). Und wundere mich, daß nicht zehntausende Mütter "dem Adolf die Bude eingerannt haben"!
Klara, wenn es eine wirkliche Integration gegeben hätte, hätten Millionen von Menschen (auch jene, die die NSDAP wegen den Arbeitsplätzen, Autobahnen usw. gewählt hatten) aus Solidarität gegen die Diskriminierung ihrer deutschen Mitbürger auch den gelben Stern getragen. Natürlch gab es welche, die den Verfolgten halfen. Aber wie war die Mehrheit? Ein Ansatz ist Catys Gedicht. Einen Aspekt drücken die Zeilen aus:

Und als sie dir fünf Mann unterstellten,
Warst du wieder wer, freudig ließest du dich
Mit so etwas ein. Alles sprang nach deinen Befehlen.


Zur Bewältigung/Aufarbeitung müssen Antworten auf die schmerzlichen Fragen nach dem Warum gefunden werden von den Generationen danach, deren Vorfahren diese Taten unmittelbar oder mittelbar begangen haben. "Es war so schrecklich und unfaßbar", so ehrlich und aus der Tiefe jeden einzelnen es auch kommt, bringt eine wirkliche Aufarbeitung nicht weiter.
Wer jetzt herausliest "Sippenhaft und Kollektivschuld" der nächsten Generationen, ist das ein großes Mißverständnis. Ich meine, die nachfolgeneden Generationen tragen die Verantwortung der ehrlichen Bewältigung/Aufarbeitung, was die beteiligten Generationen nicht getan haben. Denkmäler und Trauerveranstaltungen können dazu nur ein kleiner Anfang sein.

Liebe Grüße
Orit

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 03.09.2007, 18:56

Lieber Jürgen!

Ich stimme dir sehr zu.

Einen Gedanken möchte ich hier noch vorbringen:

Die Geschichte findet im Jetzt und fand in der Vergangenheit statt.
Die Geschichtsschreibung nur im Jetzt.

So long

Moshe


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