Keinen Frühling mehr

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 31.03.2009, 13:33

Keinen Frühling mehr


Der Sommer war ein Pflichtbesuch.
Ein kurzer Geruch, der
nur Erinnerungen weckte.

Nun fällt der Herbst vom Himmel
und wickelt das Land in nasse Lappen.

Eine Weile bleibe ich noch,
damit ich sehen kann,
aus welcher Richtung der Winter kommt.
Vielleicht ist er ein alter Mann,
der sich zu mir auf die Parkbank setzt,
zusieht wie ich Tauben füttere oder versuche,
die Zeitung im Wind zu lesen.

Und wenn er aufsteht,
gehe ich mit.

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 01.04.2009, 21:26

Lieber Sam,

es ist eine einfache Sprache. Aber sie berührt hier etwas Wesentliches. Ein Gefühl wird wiedergegeben auf die schlichte Art und doch packt es einen in der letzten Zeile.

Auch ich bin oft hin-und hergerissen zwischen neuen Wegen der Sprache.
Eine Weile fasziniert es mich, Egger oder Stein zu lesen, dann wieder
entwickle ich einen Überdruß an der ständig bemühten Originalität,

Viele Grüße
Benjamin

Sam

Beitragvon Sam » 03.04.2009, 13:12

Hallo Louisa,

der Rezeptvergleich ist gut. Manche Zutaten haben sich im Laufe der Zeit kaum verändert (gentechnisch vielleicht - aber merkt man das?), aber es kommen immer wieder mal neue hinzu und die Komposition variiert. Mit der Zeit ändern sich auch die Geschmäcker und es entstehen immer auch allgemeine Tendenzen.

Ich lehne das Neue nun wirklich nicht grundsätzlich ab. Ich sagte nur, dass mich meine Beschäftigung mit Lyrik (nicht nur der modernen) immer mehr zu dem Schluß kommen lässt, dass sie eine Arbeit mit dem Wort und weniger an dem Wort darstellt. Wo Neues entstand, dann war dies oftmals ein Spiegel dessen, was von außen auf den Dichter wirkte und nicht das Bemühen, etwas "Neues" zu schaffen, in dem Sinne, als es dass das Geschriebene nichts gelte, wenn es denn nicht irgendendetwas neues, oder originelles enthalte.
"Bevor das Neue nicht in der Welt ist", sagte Goehte, "hat keiner eine Vorstellung davon." Vielleicht noch nichtmal der Dichter selber. Es entsteht aus einem Zusammenspiel der vielfältigsten Dinge. Aber ich glaube am allerwenigsten nur aus dem Wunsch, etwas Neues zu machen.

Wiederholung ist ein Stilmittel. Und das Wiederholen eines bekannten Bildes (der Winter als alter Mann z.B.) kann auch ein Ausdrucksmittel sein. Es werden in dem Gedicht keine Angaben gemacht, über das Alter des LyrI. Aber es gibt Hinweise. Und ich glaube, diese zusammengenommen lassen ein Bild entstehen. Schwer vorstellbar, hier einen jungen Menschen zu sehen, der todkrank auf sein Ende wartet. Nein, ich vermute, die meisten Leser denken bei dem Gedicht automatisch an einen alten Menschen (auch ohne die Erwähnung des Winters als alten Mann). Jedenfalls hoffe ich, dass es so ist. Und wenn dem so ist, dann liegt es bestimmt auch daran, dass Sprache und Bildhaftigkeit des Gedichtes eher rückgreifend sind, sich anlehnen, anstatt sich nach vorne auszustrecken.


Liebe Grüße

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 03.04.2009, 13:21

Hallo Ben,

Eine Weile fasziniert es mich, Egger oder Stein zu lesen, dann wieder
entwickle ich einen Überdruß an der ständig bemühten Originalität,


"Bemühte Originalität! - das ist das Stichwort. Daran scheitert ja vieles, dem der Wunsch etwas Neues bieten zu wollen merklich anhaftet.
Die andere Seite der Skala bilden dann die reine Abschreiberei bzw. das pure Nachahmen.

Vielen Dank für deinen Kommentar!


Liebe Grüße

Sam

Mucki
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Beitragvon Mucki » 03.04.2009, 16:31

Hi Sam,

mir gefällt dein Gedicht rundum, wie es ist. Da passt alles. Am besten gefällt mir das Versöhnliche darin. Ich musste da an mein "Und es ist gut" denken. Es enthält die gleiche Aussage am Schluss.
Eine, die ich für mich selbst gerne auch so finden würde.
Gern gelesen!

Saludos
Mucki

Sam

Beitragvon Sam » 03.04.2009, 19:23

Hallo Mucki,

vielen Dank!

Ich habe mir gerade nochmal dein Gedicht durchgelesen und du hast Recht. Die Aussage am Ende ist die gleiche. Jenes Hinnehmen des Unabwendbaren mit dem Gefühl der Gelassenheit.
Oh ja, das wünsche ich mir auch...

Liebe Grüße

Sam

scarlett

Beitragvon scarlett » 03.04.2009, 21:00

Hallo Sam,

hast du mal daran gedacht, nach "aus welcher Richtung der Winter kommt" eine neue Strophe beginnen zu lassen?
Ich denke, dass das inhaltlich gerechtfertigt wäre und dem Gedicht an dieser Stelle eine Zäsur gut zu Gesicht stehen würde.
Das Folgende würde intensiver rezipiert ... wenn es etwas "befreiter" wäre ... So wirkt die Strophe schon fast ein wenig gedrungen.

Kam mir nur grad so, dieser Gedanke ... vielleicht hat er ja was auch für dich.

Liebe Grüße,

scarlett

Max

Beitragvon Max » 03.04.2009, 21:32

Lieber Sam,

ohne viel der anderen Kommentare im Detauil studiert zu haben, gefällt mir das Gedicht.
Ich finde mich in diese Zeilen, mir fällt vieles angenehm auf, die Bilder vor allem, in die ich mich leicht finde, der melancholische Ausklang, nuicht unangenehm ..
Carls doppeltes Wahrnehmen des zeitungslesens finde ich schön .. das hätte ich nicht gewusst, aber ich finde es sehr angenehm, dass beide Lesarten nebeneinander leben können.

Liebe Grüße
max

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annette
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Beitragvon annette » 05.04.2009, 10:30

Sam hat geschrieben:Also ist das Kommen wesentlich interessanter. Kommt er von hinten, überraschend, kommt er in Gestalt eines Richters (von vorne) oder in Gestalt eines...sagen wir Meuchelmörders (von hinten).
Oder eben eines alten Mannes, der sich (von weitem schon sichtbar, langsam und harmlos) auf die Parkbank setzt.
Sam


Lieber Sam,

ja, sicher ist das Kommen interessanter. Aber mir wird aus Deiner Antwort erst klar, dass Richtung und Gestalt für Dich an dieser Stelle eigentlich dasselbe bedeuten.
Ja, jetzt kann ich das auch so lesen.

Viele Grüße - annette

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 06.04.2009, 20:25

Ein schönes Spät-Gedicht, aber irgendwie fehlt mir hier jede Perspektive.

In Kürze

MlG

Moshe

Sam

Beitragvon Sam » 07.04.2009, 06:14

Hallo Zusammen,


Scarlett,

ich werde deinen Vorschlag überdenken (bzw. tue ich schon, seitdem ich gestern deinen Kommentar gelesen habe). Die Umstellung könnte dem Gedicht auf jeden Fall nicht schaden.
Meine Setzung folgte dem Schema:
Erinnerung
Jetztbeobachtung
Reflektion/Vermutung
Entschluss

Dass da der Reflektionsteil etwas dichter (ja vielleicht gedrungen) ist, erschien mir passend und stimmig.
Aber wie gesagt, ich denke drüber nach.

Vielen Dank!

Max,

auch dir vielen Dank! Das Ende soll auch nicht unangenehm sein, zumindest nicht in dem Sinn einer negativen Empfindung. Nur melancholische Gelassenheit.

Anette,

freut mich, dass du Richtung und Gestalt nun miteinander in Einklang bringen kannst. Wenn das allerdings erst durch meine Erklärung funktioniert, muss ich über diese Stelle auf jeden Fall nochmal nachdenken. Neben der von Scarlett angeregten Setzung.
Herzlichen Dank!

Moshe,

danke schön für deinen Kommentar. Perspektive....mmhh... die eines alten Mannes, der mit melancholischer Gelassenheit feststellt, dass seine Zeit gekommen ist? Wobei alle Fragen eigentlich schon beantwortet sind und nur noch die übrigbleibt, wie das Gehen am Ende wirklich aussehen mag.

Euch allen nochmals vielen Dank!

Liebe Grüße

Sam


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