Eigentlich begann diese Geschichte damit, dass ich ein lange verschollenes Rezept für die Pille, oder wie ich dieses Medikament gerne nenne, die „Anti-Baby-Drugs“, wiederfand. Ich löste meinen Zettel in einer Apotheke ein und klagte zwei Wochen lang über Schwindelgefühle.
Ratlos versuchte ich dem durch meinen Trisel nur noch verschwommenen Arzt zu erklären, was meine Beschwerden seien und bezeichnete sie als „Brausetabletten, die sich in meinen Gehirnwindungen auflösen würden“, was diesen nur ein „Ah, ja…“ erwidern ließ.
In der Nacht nach dem Arztbesuch bemerkte ich auf einmal eine unglaubliche Sensibilität an mir. Drei Fehler in einer Französischarbeit rührten mich zu Tränen, genauso wie die Tatsache, dass ich seit zwei Wochen kaum das Haus verlassen hatte und die anderen ohne mich die Nacht verwüsteten.
Also setzte ich die Anti-Baby-Drugs wieder ab und am nächsten Morgen, einem Samstag, ging es mir wieder blendend. Sarah und ich stürzten uns also in das dunkle Wochenende und kamen schließlich gegen zwei Uhr Nachts im altbekannten Kaffee Burger an.
Für die Unwissenden: Das Kaffee Burger ist eine Mischung aus Künstlercafé, touristenbefallenem, tanzenden, trauernden, abgedunkelten, rotbraunen, maroden 60er Jahre Schuppen, wo sich die halbe Welt zusammentut, um entweder ihre Lebenslügen zu besaufen oder zu feiern oder aber das ganze zu beobachten und solche Geschichten hier zu schreiben oder aber (siehe folgende Absätze):
Voller Schreck musste ich erkennen, dass der Barmann, nennen wir ihn Marcello, in den ich mich vor einem Jahr leicht verliebt hatte, wiedergekehrt war. Mich erschreckte diese Tatsache, da ich mich nach wochenlanger Verliebtheit und endlosen Abenden, an denen ich immer wieder etwas bei ihm bestellt hatte in der Hoffnung er würde mehr darauf antworten als „3,50 bitte.“ damals dazu entschlossen hatte ihm meine Telefonnummer zu geben, die er in jener verregneten, verhängnisvollen Nacht nicht an sich nehmen wollte –
Das war mir erstens noch nie passiert und zweitens wusste ich Trottel auch genau wieso er sie nicht annehmen wollte, denn ein schwuler Freund hatte mir vorher erzählt, dass Marcello eine Freundin hätte, mit der er bald zusammenziehen würde und mit welcher er neulich händchenhaltend auf einem Trödelmarkt geschlendert wäre.
Mich hinderte nicht die Freundin, mich hinderte nicht das Zusammenziehen, aber das Bild des gemeinsamen Schlenderns über einen Trödelmarkt erscheint mir als der Inbegriff des menschlichen Glücks.
Als ich an diesem neuen Samstag versuchte mich möglichst unauffällig an der Bar vorbei zu schleichen, ohne das Marcellos Augen, welche eine liebevolle braune Klugheit ausstrahlen, mich entdeckten. Sarah und ich warteten einen günstigen Zeitpunkt ab und füllten das Warten mit psychologischen Betrachtungen über mein Liebesleben.
„Dir gefallen immer die gleichen Typen. Die sind immer zu alt, haben aber trotzdem etwas Kindliches oder Sanftes an sich. Der sieht aus wie die anderen. Aber der sieht schon geil aus.“
„Mm… das stimmt. Der sieht aus wie mein Deutschlehrer. Alle, die aussehen wie mein Deutschlehrer sind schön. Das ist wie ein Naturgesetz. Das wird sich nie ändern. Dir gefallen auch immer die gleichen. Die sind meistens ebenfalls zu alt und haben nichts Kindliches oder Sanftes an sich.“
Wir grinsten.
„Ja, stimmt. Alle, die dir gefallen sehen jedenfalls so wie der aus. Also ich geh´ dann schon mal voraus.“
Leider war ich so aufgeregt, dass ich mich an einer Heizung festhalten musste. Sarah war schon einige Schritte weiter gewandert, als plötzlich eine schwere lange Eisenkette, die aus unerfindlichen Gründen auf dieser Heizung lag, dieselbe langsam herab rasselte.
Dies bewirkte, dass nicht nur Marcello, sondern der halbe Laden in meine Richtung starrte. Mir kam es vor, als hätte sogar die Musik aufgehört zu spielen.
Mein Schock löste sofort eine allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber der bösen Welt aus, welche mich dazu bewog mein Spielchen des „beseelt lächeln und einen Cocktail bei Marcello bestellen“ erneut in Gang brachte. Aber auch dieses Mal sagte er nichts, außer „3,50 bitte.“ Und ich musste wieder denken: „Wie unglaublich klug er doch ist!“
Wieso ich das immer denke ist mir allerdings auch rätselhaft. Mit einem „Wodka-Apfelsaft“ drehte ich mich zur Tanzfläche und suchte nach Sarah, aber anstatt dieser kam eine dicke 50-jährige Frau mit Pferdeschwanz auf mich zu, die mir zu bekannt vorkam. Es handelte sich nämlich um eine ehemalige Kunstlehrerin von mir und ich hätte niemals erwartet sie in diesem doch eher von jüngeren Generationen und vor allem von ziemlich grenzwertigen Existenzen (wie mir?) besiedelten Ort anzutreffen. Sie kam gerade aus der tanzenden, springenden Menge und hielt einen leeren Bierkrug vor den riesigen Brüsten. Ich schmunzelte und meinte:
„Ach, hallo Frau Ostpflug!“ Man hätte ihr vor Verblüffung ganz verzerrtes Gesicht in Stein meißeln sollen, bevor sie anfing hysterisch und atemlos auf mich einzureden…
„Ach! Na, das ist aber eine Überraschung! Na, das ist aber eine Überraschung! Also, wirklich! Ich hatte sie aber nicht lange oder?“
„Nein.“
„Also…haha….was verschlägt sie denn hierher in Berlins Mitte?“ Ich fing an zu lachen. Sie lachte einfach mit.
„Haha….ja….also, Frau Königin-Diesel ist auch noch hier. Dort hinten haben wir einen Tisch. Ist das nicht eine Überraschung?“
„Ja.“
„Also, aber sagen sie doch bitte niemand, dass sie uns hier gesehen haben. Haha… Nein?“
„Aber nein, was denken sie denn von mir?“ Ich grinste sie erfreut an und tätschelte sie am Jeans-Ärmel ihres Hemdes.
„Na, dann….also….ich hole dann noch etwas zu trinken…äh…sie können ja….sie können ja auch einmal zu uns herüberkommen….wir sind da hinten. Frau Königin-Diesel und ich.“
„Ok.“
Als Frau Ostpflug sich zur Bar an Marcello gewandt hatte eilte ich in den Raucherbereich zu Sarah um meinem Lachanfall freien Lauf zu lassen.
„Zwei Kunstlehrerinnen von dir?“
„Ja! Und noch dazu zwei von diesen Freak-Lehrern! Die eine ist so ´ne Dicke und die andere ist ganz klein und zierlich, dafür aber ganz faltig, knallbunt geschminkt und sie trägt ihr langes schwarzes Haar meistens fettig mit bunten Haarklammern für Kinder! Außerdem heißt sie Frau Königin-Diesel!“
„Nee, oder? Ich meine: Das wäre ja alles noch in Ordnung… Das ist ja ganz lustig, dass die in ihrem Alter noch abends weggehen… Aber in so einen Fick-Schuppen?“
„Wie nennst du das hier?“
„Fick-Schuppen! Hier will doch jeder jeden abschleppen!“
„Vielleicht wollen sie das auch? Naja, ich werde da später noch einmal hingehen…dann kann ich fragen wie es der Schule geht.“
„Ja, ja….wie es der Schule geht – du willst ganz sicher nicht wissen wie es der Schule geht…“
Wir wechselten das Thema… und irgendwann wurde Sarah müde und machte sich auf den Weg nach Hause, während ich mich in Richtung Frau Ostpflug und Frau Königin-Diesel bewegte.
Die beiden tanzten am Rande der Tanzfläche neben einem kleinen schwarzen Tisch, auf dem ihre Bierkrüge standen. Das heißt, ich weiß nicht, ob man das als Tanz bezeichnen konnte, vielmehr waren es sich wiederholende Bewegungsmuster, die bei Frau Ostpflug daraus bestanden sich um sich selbst zu drehen und die Hände über dem Kopf ausgestreckt mit den Fingern zappeln ließen, als wollte sie ein Feuer darstellen. Frau Königin-Diesel hingegen boxte vor und zurück und bewegte sich in Halbdrehungen. Nachdem ich „Hallo“ gerufen und mein Glas auf dem Tisch abgestellt hatte, begann Frau Ostpflug damit mich leicht wahnsinnig anzulachen ohne dabei aufzuhören sich um sich selbst zu drehen und „das Feuer“ darzustellen. Frau Königin-Diesel setzte sich nieder.
Ich fand diese Ausprägung der Wirklichkeit derart unfassbar, dass ich mich ebenfalls begann zu drehen, damit man mein Lachen nicht sah. Jedoch lachte Frau Ostpflug ja ebenfalls herzhaft in meine Richtung, was meine Scham etwas auflockerte. Ich überlegte mir, dass wenn ich ihnen die Unsicherheit nehmen würde, dass sie dann noch mehr durchdrehen würden und das der Abend ergo noch unwirklicher werden könnte…
Also bemühte ich mich um Freundlichkeit. Ich stieß mit den Bierkrügen an, tanzte etwas mit und ließ mich ebenfalls an ihrem Tischchen nieder. Dann überlegte ich, was wohl Marcello von diesem Anblick denken würde und vergaß es wieder, denn Frau Ostpflug fragte aus Höflichkeit:
„Und, was machen sie jetzt so?“
„Ach, ich reise, studiere und schreibe so ein bisschen.“
„Aha… und was studieren sie?“
„Französisch und Philosophie.“
„Na, das passt doch schön zusammen.“
„Das kann sein.“
„Und was wollen sie später damit machen?“
„Weiter schreiben und weiter reisen.“
„Aha.“
- Immer, wenn ich jemand, der nicht viel mit Literatur am Hut hat, erzähle, dass meine Berufsaussichten sich auf Schriftstellerin oder Pennerin beschränken, werde ich angesehen wie ein Behinderter, sodass ich mir manchmal wünsche etwas sagen zu können wie „Finanzbeamtin!“ – damit den leeren Antwortblicken endlich Einhalt geboten wird…
„Mm…und wie geht es der Schule?“
„Ach, ganz gut….joa…“
„Ich habe gelesen ein Mädchen ist im Sportunterricht gestorben.“
„Ja… ach, ja…. Naja, das war vor dem Sportunterricht. Ein Virus. Irgendein Virus.“
„Aha.“
„Naja…und Herr Hütte liegt seit so einem Schnarchanfall immer noch im Koma, Herr Ohnreifen hat nach dem Schlaganfall fast alles vergessen, aber jetzt ist ihm das Meiste wieder eingefallen und Herr Beile wurde operiert, jetzt ist er wohl wieder zu Hause, naja, der hat ja auch ausgesehen wie ein Skelett… “
„Und du siehst aus wie ein Königsberger Klops.“ dachte ich entrüstet und fragte resigniert:
„Mm. Aber der Schule geht es ganz gut?“
„Joa… also….schon komisch…mit den ganzen Männern, die ganzen männlichen Lehrer sind krank geworden.“
„Alles Deutschlehrer.“
„Ja. Haha…das stimmt.“
„Vielleicht sind die einfach nicht kreativ genug. Wir Kunstlehrer sind sehr kreativ. Ich sage ja immer: Lebensfreude! Mehr Lebensfreude! Man muss auch mal tanzen gehen! Warum nicht mal tanzen gehen?“
(Wie wahnsinnig muss man eigentlich sein, damit einem zu den Krankheiten seiner Kollegen nur noch einfällt: „Vielleicht sind wir einfach kreativer!?“???)
„Ich gehe mal in den Raucherraum.“
„Ach? Naja, dann komme ich mal mit. Frau Königin-Diesel raucht ja nicht mehr. Nicht?“
Frau Ostpflug spähte herunter zu Frau Königin-Diesel die mit einer unkoordinierten Handbewegung ausdrückte: „Geht ruhig weg!“
Ich saß neben Frau Ostpflug im Rotlicht auf einer braunen Ledercouch und zog an meinem Strohhalm. Sie wiederholte jetzt schon zum zehnten Mal:
„Mehr Lebensfreude! Die Leute haben einfach keine Lebensfreude mehr. Man muss mal tanzen gehen! Also mein Mann, der ist ja Koch, der würde ja auch tanzen gehen, wenn er nicht so viel arbeiten müsste.“
„Kocht der auch für sie?“
„Manchmal….haha….“
Ein für mich sehr angenehmes Schweigen begann sich auszubreiten. Ich überlegte mir, dass ich diese Frau noch nie leiden konnte, schon als Kind nicht und jetzt immer noch nicht – Weil sie einer dieser Menschen ist, der meint alles, was sich die Nase durchlöchert, ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom oder absichtlich fettige Haare mit bunten Haarklammern hat, sei automatisch „kreativ“ –
Und ich hasse diese plumpe, faule Form der „Kreativität“ – Weil sie nämlich auch unter Lebensfreude drei Liter Bier in einem Fick-Schuppen versteht, jawohl!
Während ich das also vor mich hin meckerte, schien ich telepathische Kräfte entwickelt zu haben, denn Frau Ostpflug nahm einen Schluck Bier zu sich, sah mich an und meinte aus heiterem Himmel:
„Also, den Herrn Beile, den konnte ich ja noch nie leiden.“
Ich erschrak wie ich immer erschrecke, wenn jemand nur den Namen dieses Menschen in meiner Gegenwart ausspricht. Dieser Schrecken ist ebenso ein Naturgesetz wie dieses, dass alle Männer, die aussehen wie der Unaussprechliche schön sind und für immer werden sie schön sein, die wie er aussehen und für immer werde ich erschrecken, wenn ich den Namen höre.
Also fasste ich mich wieder und fragte:
„Ach? Wieso denn nicht?“ Frau Ostpflug schien angestrengt nachzudenken.
„Weiß ich auch nicht.“ brachte sie schließlich als Antwort. Ich wollte am Liebsten den Kopf schütteln und entgegnete:
„Keine Lebensfreude?“
„Ja! Das könnte es sein! Keine Lebensfreude, ich sage ja immer: Man muss auch mal tanzen gehen! Dann ist man weniger mufflig! Man braucht einfach mehr Lebensfreude!“
Ich sah sie eine Weile an, seufzte und meinte:
„Also, wissen sie, Frau Ostpflug, ich glaube… ich habe auch keine Lebensfreude.“
Ich stand auf, vergaß Frau Ostpflug, Frau Königin-Diesel, Marcello und den Fick-Schuppen, ging auf die Straße und winkte ein Taxi herbei.
Keine Lebensfreude!
Mm... ich finde aber schon, dass es verschiedene Lebensmodelle, verschiedene Lebenseinstellungen gibt, die konträr verlaufen.
Sonst könnte ich ja nie jemand zustimmen oder jemand anders ablehnen, in dem was er vermittelt/ausstrahlt.
Natürlich hast du Recht, wenn du meinst, das jede Einstellung vielschichtig ist und man wahrscheinlich überall etwas finden kann, dass liebenswürdig erscheint - Aber gerade im Bezug auf Kunst und Leben finde ich sehr viele sich wiedersprechende Haltungen.
Bonne soirée!
l
Sonst könnte ich ja nie jemand zustimmen oder jemand anders ablehnen, in dem was er vermittelt/ausstrahlt.
Natürlich hast du Recht, wenn du meinst, das jede Einstellung vielschichtig ist und man wahrscheinlich überall etwas finden kann, dass liebenswürdig erscheint - Aber gerade im Bezug auf Kunst und Leben finde ich sehr viele sich wiedersprechende Haltungen.
Bonne soirée!
l
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