Die kurze Geschichte von Vera und Max
Vera
Wenn es dunkel ist, fängt sie an zu beten. Weil sie Angst hat. Und, natürlich, weil sie alleine ist.
Komisch, denkt sie, dass man sich im Dunkeln so einsam fühlt. Wo man doch gar nicht sehen kann, wie alleine man ist. Wo doch all das unsichtbar geworden ist, das einem tagsüber ständig entgegenschreit: Bist allein, bleibst allein!
In die Dunkelheit hineinsprechen und wissen, da ist jemand, der zuhört. Die höchste Form von Zärtlichkeit wäre das. Aber keiner der Männer, mit denen sie in letzter Zeit die Nacht verbracht hatte, sprach noch mit ihr, wenn das Licht aus war. Die Dunkelheit schien ihnen die Kehle zuzuschnüren. Als wäre in die Dunkelheit hineinzusprechen so was wie ein Heiratsantrag. An den Hals geworfen hätte sie sich demjenigen, der im Dunkeln mit ihr gesprochen hätte. So aber schwiegen sie alle und gingen meist, ohne sich zu verabschieden.
Max
Das Leben ist wie eine Zigarette. So richtig gut schmeckt nur die erste Hälfte. Sagt er und ist jetzt zweiundvierzig. Weiß also, wovon er spricht. Älter wie achtzig werd’ ich eh nicht. Zeigt mit großer Geste auf`s Bierglas, danach auf`s Schnapsglas. Die Kippe zwischen Ring- und Stinkefinger. Nach vierzig kommt nichts mehr. Die ersten vierzig Jahre sind die Wichsvorlage für den Rest deines Lebens. Das darf ruhig jeder hören. Beim Schorsch. Manchmal auch im grünen Dingsda oder wie der Laden heißt. Tagsüber ist er Buchhalter und so unauffällig wie jeder andere Geschiedene mit zwei oder mehr Kindern im Geldbeutel. Wenn du über vierzig bist, das sagt er auch beim Schorsch und im grünen Wieauchimmer, dann sind fast alle deine Kolleginnen jünger als du. Und jünger heißt, mindestens um die Hälfte jünger. Also wirklich jung. Jugend wird jenseits der Vierzig zu einer Obsession. Das denkt er, sagt es aber nicht, weil weder beim Schorsch noch im grünen Weißnichwas jemand so ein Wort versteht.
Vera + Max
Sie treffen sich in einer Konditorei. Er vor ihr in der Schlange und nimmt das letzte Stück Bienenstich. Das hätt’ ich aber gern gehabt, sagt sie und er sagt, ich schenk’s dir, wenn du einen Kaffee mit mir trinkst. Dann sitzen sie draußen und er erklärt ihr die Problematik der zweiten Lebenshälfte während sie den Bienenstich isst. Und dabei friert, weil es schon langsam kühler wird und der Herbst längst angefangen hat, alle Bäume zu bekleckern.
Von ihrer Angst vor der Dunkelheit und ihrem Bedürfnis in diese Dunkelheit hinein zu sprechen oder zu beten sagt sie nichts. Natürlich. Am Samstag gehen sie erst ins Kino und dann ins Bett. Der Sex mit ihm ist, sie weiß auch nicht wie. Er weiß gleich, wo alles ist und bedient die Maschine. Aber er will nichts entdecken, das merkt sie gleich. Wenn ein Mann noch nicht mal deinen Körper entdecken will, denkt sie, dann ist ihm der Rest so ziemlich scheißegal. Dabei hat sie das Licht angelassen. Aber nein, der will beim Ficken lieber alleine bleiben. Wie Hühnersuppe riecht sie, denkt er und überlegt, wohin er in den Urlaub fahren soll. Während er ihren Orgasmus bewerkstelligt. Frauen wollen doch immer nur das eine. Und genau den Mann, den sie gerade nicht haben. Das schlimmste am Übervierzigsein, denkt er, ist, dass man alles schon kennt. Es gibt einfach nichts mehr zu entdecken. Er rollt von ihr und sie löscht das Licht. Sie wartet. Wenn ab vierzig, sagt sie, alles schlechter wird, dann war vorher ja alles besser. Er schweigt. Wenn du morgen sterben würdest, sagt sie, dann wäre die zweite Hälfte deines Lebens ja so schlecht auch nicht gewesen.
Er zieht sich im Dunkeln so geräuschvoll an, wie es ihm möglich ist.
Vera
Der Morgen ist eine einsame Semmel.
Max
Irgendeiner fass ich heut’ an den Arsch.
Zwei Kleinigkeiten (Merci Lisa!) verändert und ein paar Kommas plaziert
Die kurze Geschichte von Vera und Max
Himmel Sam,
nach dem Lesen deines wirklich depremierenden Textes weiß ich erst, wie gut es mir geht...
Meiner Meinung nach, hast du hier einen wirklich beeindruckend gut geschriebenen Kurzprosatext geschrieben, der mir thematisch zwar zu hoffnungslos-frustrierend ist, stilistisch habe ich jedoch nichts auszusetzen. Chapeau!
Grüße von no-name.
nach dem Lesen deines wirklich depremierenden Textes weiß ich erst, wie gut es mir geht...
Meiner Meinung nach, hast du hier einen wirklich beeindruckend gut geschriebenen Kurzprosatext geschrieben, der mir thematisch zwar zu hoffnungslos-frustrierend ist, stilistisch habe ich jedoch nichts auszusetzen. Chapeau!
Grüße von no-name.
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