Bildung! Hohes, höchstes Gut! Erst in der Bildung und durch sie erhebt sich der Mensch über die Tierheit und bringt sein Wesen zur Gänze, die Bildung richtet ihn, den Halbgebückten, Halbrohen, Halbverhöhlten, Halbbehaarten zu trutziger Geradheit auf, bekocht ihn, behaust ihn und rasiert ihn. Dies gelingt freilich nur, wenn man auch mit ihr selbst ganze Sache macht: Der Gegenfall, die Halbbildung, ist, wie Adorno so klug bemerkte, "nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind". Hier und da ein gefälliges Zitat aufschnappen und damit das eigene Gegrunze ausschmücken, das Wohnzimmer als Prahlerei mit den Rücken von Büchern einrichten, von deren Inhalt man nur das übliche Gerede darüber kennt, bei allem und jedem den Abgrund der eigenen Unkenntnis hinter einem wissenden Lächeln verbergen - das verrät, dass man auf dem "Weg vom Wurm zum Menschen" (Nietzsche) auf der Hälfte steckengeblieben ist und es allenfalls bis zum Pfauen gebracht hat. Gewiß: „Eitel wäre die Einbildung, irgend jemand – und damit meint man immer sich selber – wäre von der Tendenz zur sozialisierten Halbbildung ausgenommen.“ (wieder Adorno) Gleichwohl gilt es, diese würdelose Verfassung nach Kräften zu vermeiden, und, wo das mißlingt, dies alsbald zu bemerken und sich gestreng ins Authentische zurück zu rufen. Nun wäre es ein unverzeihlicher Egoismus, wollte man das Geschenk der hierzu nötigen Kritik für sich behalten. Wie es Heidegger so treffend formulierte: "Dasein ist wesentlich Mitsein": Und wie man sich, um bei "Sein und Zeit" zu bleiben, aus der "Verlorenheit in das Man" ständig zurückreißen muss, so ist man in der Pflicht, auch seinem Mitmenschen ein Vorbild, ja, ein Leuchtsignal! zum "Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) zu sein.
Wo süße Ziele sind, da ist auch saure Mühe (Ich selbst). Bisweilen ist die Halbbildung in ihrer Prätention, Bildung zu sein, von einer Hartnäckigkeit, die ans Unverwüstliche gemahnt. Erst kürzlich habe ich eine "Erfahrung" (Hegel) hiervon gemacht.
Ich hatte schon eine Weile im ICE gesessen, als jemand auf dem Sitz zu meiner Rechten Platz nahm. Frei nach Sartre wurde ich mir nun durch dessen Blick auf unangenehme Weise meiner selbst bewußt: Vor mir nämlich stand mein Laptop, und diesen benutzte ich just, um mit einer Ihnen gewiss geläufigen Figur der Popkultur, Batman, durch die dunkeln Gassen eines simulierten Arkham City zu gleiten und mich bisweilen in wüste Schlägereien mit allerlei Gesindel verwickeln zu lassen. Ein harmloser Ausflug ins Banale, werden Sie sagen, eine notwendige Erholung des durch stete Reflektion überspannten Geistes, eine Öffnung des Horizontes, um aufgeschlossen zu bleiben und sich nicht in fruchtlosen Verengungen des Bildungsbegriffes zu verlieren - und da sind wir uns ganz einig.
Aber was sollte mein Sitznachbar nun von mir denken? Nicht, dass mir an seiner Meinung gelegen wäre, weit gefehlt - der echt Gebildete weiß gut, was er an sich hat, folgt der doch stets dem "Γνῶθι σεαυτόν", dem "Erkenne dich selbst" des Chilon von Sparta, das ehedem den Eingang des Apollotempels von Delphi schmückte . Wahre Bildung hat und weiß ihren Wert in sich. Aber womöglich glaubte der Mann nun, ich täte sonst nichts, und fühlte sich dadurch in seiner eigenen Batman-spielenden Bildungsbarbarei bestätigt; womöglich nahm er meine Albernheit zum Anlaß, selbst nichts über das Banale hinaus zu suchen, kurz: Womöglich trug ich gerade aktiv zu Kulturverweigerung und Banausentum bei, leistete meinen Beitrag zum "Untergang des Abendlandes" (Spengler). Das war mir denn doch ein zu großes Risiko; mit Strg+Alt+Entf - und einem gewissen Bedauern über den verlorenen Spielstand - beendete ich meine heroische Eskapade und murmelte: "Wollte nur mal sehen, was mein Sohn da immer spielt". (Ich habe keinen Sohn, doch heiligt der große Zweck wohl dieses sehr harmlose Mittel.)
Binnen kurzem zeigte der Bildschirm stattdessen den Vorspann zu Polanskis übrigens ganz ausgezeichneter Verfilmung des Macbeth. Mein Nachbar warf einen flüchtigen Blick herüber, klappte seinen Tisch herunter, kramte in seiner Tasche und legte ein Buch darauf. Ich muss ihm lassen, dass er das ganze sehr geschickt anfing, doch meiner Menschenkenntnis entging es nicht. Das Buch zwar mit der Rückseite nach oben, aber mit dem Rücken zu mir zu platzieren, um dann zu einer guten Minute sinnloser Kramerei unter den Tisch abzutauchen konnte nur einen Sinn haben: Mir aufzudrängen, was er las. Dieser Barbar machte wertvolles Bildungsgut zum Werkzeug seiner Eitelkeit! So gut ich konnte, versuchte ich, wegzuschauen. Dennoch fing mein Augenwinkel einen Titel auf: "Der Zauberberg".
Man mußte dem Banausen lassen, dass er bei aller Ignoranz seine Waffen zu wählen wußte. Gegen diesen Wälzer drohte mein Polanski trotz aller Werktreue als Unterhaltungsfilmchen da zu stehen. Doch wer sich wie ich engagiert für einen authentischen Kulturbezug einsetzt, ist auf solche Fälle vorbereitet. Ich hatte in meinem Koffer natürlich einige Bücher vorrätig; alle waren mit Lesezeichen auf den mittleren bis hinteren Seiten bestückt, ferner gebraucht von Universitätsbibliotheken erworben, also mit Randkommentaren versehen, die die intensive und mehrmalige Rezeption eindeutig bezeugen. Aber den Rechner nun auszuschalten und eines davon hervor zu kramen, hätte mich leicht in den Verdacht der Prahlerei gebracht und meine edle Absicht zunichte werden lassen. Mir blieb also nur, den Film zu wechseln: "Bloom", eine filmische Adaption des lange für unverfilmbar gehaltenen Meisterwerkes des großen Joyce: Ulysses. Mein barbarischer Nebensitzer kam gerade wieder unter dem Sitz hervor, als der Film anlief. Ich sah seinen Blick auf meinen Bildschirm gleiten und frohlockte innerlich.
Der Kerl verzog keine Miene! Stirnrunzelnd sah er sein Buch an und schlug sich dann vor die Stirn. Offenbar wollte er mir sagen, er habe ganz aus Versehen das falsche Buch heraus geholt und eigentlich in einem ganz anderen lesen wollen, denn er nahm das Buch wieder fort und verschwand erneut unter dem Tisch. Ich genoß die ersten Momente eines großen Filmes und grinste in mich hinein. Mann! Da mußte man schon früher aufstehen, um mich zu überrumpeln! Fast ein wenig mitleidig fragte ich mich, was er wohl als nächstes ausgraben mochte. Kafka vielleicht, das würde zu so einem passen. Den konnte ja wirklich jeder lesen. Damit soll nichts gegen diesen Meister des Wortes gesagt sein, aber wem der Sinn fürs Tiefe und Feine fehlt, für den ist "Die Verwandlung" ja die reinste Unterhaltungsliteratur. Als er nach zweiminütigem Tauchgang noch immer nicht wieder auftauchte, war ich mir sicher, dass er ohnehin bloß blöffte. Sollte er sich doch den Rest der Reise unter dem Tisch verstecken, um seine Niederlage nicht eingestehen zu müssen - die Nackenschmerzen würden ihn dann sicherlich noch eine Woche lang daran erinnern, dass mit der Bildung nicht zu spaßen ist. Siegesgewiß lehnte ich mich zurück.
Ich hatte die Tücke unterschätzt, zu der so eine Schlange von Barbar fähig ist! Nach weiteren fünf Minuten tauchte er wieder auf, ein dickes Buch in den Händen. Erneut platzierte er es in peinlichem Geltungsbewußtsein so, dass dem Titel gar nicht auszuweichen war. Es verschlug mir den Atem: "Ulysses". Das Lesezeichen lag in der Mitte, und als er es an der markierten Stelle aufschlug, sprangen die Unterstreichungen und mit Kommentaren versehenen Ränder ins Auge. Nun konnte an der Verderbtheit seiner Natur kein Zweifel mehr bestehen: Buch schlägt Film, das war eine der ehernen Regeln jenes würdelosen Wettbewerbes, in den er mich zu verwickeln versuchte. Da mochte man das Buch noch so gut kennen. (Tatsächlich habe ich "Ulysses" noch nicht gelesen. Bei meinen Versuchen bin ich stets nach den ersten Seiten eingeschlafen. Wenn ich nach einem langen Arbeitstag heimkomme, bin ich eben häufig etwas müde. Niemand wird wohl so kleinkariert sein, mir diese Schwäche des Fleisches als eine des Geistes auszulegen: Moralisch habe ich den "Ulysses" gelesen, und zwar mehrfach und auf das Gründlichste!) Er dagegen hatte vermutlich nie einen ernsthaften Versuch unternommen. Dies dickleibige Meisterwerk war ihm nur ein weiterer Stein in den Mauern jener Festung, mit der dieser Poseur seinen leeren Anspruch auf Bildung umgab. Eine Festung mit hohen Türmen und einem tiefen Graben. Es war zum Verzweifeln: Begriff dieser unselige Burgherr denn nicht, dass ich nicht zu meinem, sondern zu seinem, unser aller Wohl stritt? Eines war jedenfalls klar: Ich brauchte nun ein wirklich starkes Geschütz, sollte das Abendland hier keine schwere Niederlage erleiden.
Ja, es wurde eng. Auf meiner Festplatte wuchs nur ein Kraut, das in einem solchen Fall Erfolg versprach: "Satantango", Béla Tarrs unvergleichliches siebenstündiges schwarzweißes Meisterwerk. Schon die Eingangsszene ist eine Herausforderung, der nur der gehobene Geschmack gewachsen ist: Acht Minuten lang folgt die Kamera einer Kuhherde auf ihrem schlammigen Weg. Ungarisches Original, versteht sich, leider nur mit deutschen Untertiteln zu haben. Das würde den Kulturverächter zu meiner Rechten schon Mores lehren. Vermutlich würde er sich in Bälde schlafend stellen oder ganz das Weite suchen, um der Schande zu entgehen. Ich lehnte mich entspannt zurück.
Nach zehn Minuten riskierte ich einen kurzen Seitenblick. Mein Opponent hatte sein Buch beiseite gelegt und schaute Interesse heuchelnd auf meinen Bildschirm. Die Art, wie er sein Kinn dabei in seine Hand stützte, konnte nur als mephistophelische Parodie jener Geste verstanden werden, mit der ich, befangen in der Größe des Werks, das gleiche tat. Ein guter Zug, das mußte ich ihm lassen - wäre es denn um ein Spiel gegangen oder wenigstens um eines, in dem der Einsatz nicht so hoch war. So aber durfte ich seiner füchsischen Verschlagenheit, die fast unweigerlich mit dem Mangel an Aufrichtigkeit einhergeht, den sie ermöglicht, keine Anerkennung zollen. Es galt nun, auf meinem Posten auszuharren, mit einer dem Dargebotenen gemäßen Miene, aufmerksam, gespannt, bewundernd. Irgendwann würde er schon aufgeben. Was konnte so einer an den zehn- bis zwanzigminütigen Einstellungen finden, in denen er nichts außer einem ärmlichen Dorf mit matschigen Straßen in schwarz-weiß sehen würde? Doch ich durfte meinen Posten auf keinen Fall verlassen. Wie lange es auch immer dauern mochte. Notfalls auch volle sieben Stunden lang.
Auch seiner Standhaftigkeit hätte Respekt gebührt, hätte er nicht so verderblichen Gebrauch davon gemacht. Die erste halbe Stunde Meisterstück waren vorbei gegangen, ohne dass er seine Position wesentlich verändert hatte. Eigentlich war es mein Plan gewesen, nach kurzem Kampf wieder zur zwar trivialen, aber doch für einen angespannten Geist wie den meinen zuweilen nötigen Entspannung - Batman - überzugehen. Aber es war gar nicht auszudenken, was der Kerl sich dabei gedacht hätte! Es hätte der Eindruck entstehen können, ich wäre, vom sperrigen Film gelangweilt, zum leichten Vergnügen gewechselt, mehr noch, als billige ich solche Wechsel! Da half nun nichts mehr. Der Endkampf mit Bayne mußte warten. Ein Hoffnungschimmer zeigte sich, als mein Antagonist nach knapp nur 45 Minuten verstohlen gähnte. Gähner verrieten Müdigkeit, Müdigkeit verriet Langeweile und Langeweile war hier ein klares Zeichen von Barbarei. Weiter konnte ich darauf hoffen, er werde in Bälde einschlafen. Unglücklicherweise gähnte kurz darauf, sicher vom Gähnen meines Gegners angesteckt, auch ich und führte damit den Ausgleich herbei. Danach hielt mich sehr tapfer: In Minute 120 stand es 18:7 für mich. Meine regelmäßigen Übungen vor dem Spiegel wurden belohnt, ich beherrschte meine Miene bestens. Das gleiche konnte ich leider nicht von meiner Blase sagen. In Minute 170 meldete sie zaghaft den Wunsch an, entleert zu werden, den sie ab Minute 225 mit gesteigerter Dringlichkeit vorzubringen begann. Nun saß ich freilich in der Klemme. Den Kunstgenuß gegen die Zugtoilette einzutauschen, und sei es auch für noch so kurze Zeit, kam nicht infrage. Ich erwog, beim nächsten Halt aus- und anschließend an anderer Stelle wieder einzusteigen; aber einerseits wäre dadurch in dem vollen Zug meine Reservierung verfallen und andererseits bestand immer die Gefahr, dass mich der Kerl bei einer Zugdurchwanderung entdeckte. Nein. Ich fragte mich, ob ich mich so stark ins Kunstwerk versunken geben konnte, dass es mir als Kulturnähe ausgelegt werden mußte, wenn mir darüber entging, wie ich mich einnäßte, konnte mich von dieser Möglichkeit aber nicht recht überzeugen. Dass mein Opponent in Minute 230 die Beine übereinander schlug und mit etwas angestrengterer Miene als zuvor auf seinem Sitz umherzurutschen begann, ließ mich zwar innerlich frohlocken, half aber ansonsten wenig. Ich mußte dringend etwas unternehmen, und wenn dieser Leibhaftige mir keine Wahl als die des letzten Mittels ließ, so mußte ich sie eben treffen. Vorsichtig ließ ich meine Hand in meine Jackentasche gleiten. Die richtigen Tasten blind zu treffen fiel mir dank intensiver Übung leicht. Bei aller Begeisterung für Lesungen, Theateraufführungen, klassische Konzerte und Opern muss ich mir natürlich die Möglichkeit offen halten, nötigenfalls die Veranstaltung zu verlassen, ohne den Eindruck zu erwecken, sie missfalle mir. Zu diesem Zweck habe ich mich bei einem Anruf-Dienst angemeldet: Man wählt eine Nummer, legt auf - und wird kurz darauf angerufen. Am anderen Ende ist dann zwar niemand, aber das Gespräch endet erst, wenn man auflegt. Mithilfe dieser sinnreichen Einrichtung ist es ein Leichtes, jedermann in Saal, Theater, Philharmonie oder Oper durch die richtigen Worte überzeugend davon in Kenntnis zu setzen, wie dringlich das Geschäft ist, das einen hinaus treibt.
Als es also kurz darauf in meiner Jackentasche vernehmlich vibrierte, schaute ich noch mit versonnenem Blick für ein paar Sekunden auf Minute 8 der etwa viertelstündigen (und vermutlich namensgebenden) Tanzszene, pausierte dann mit einem tiefen Seufzer den Film, erhob mich und verließ - "Ah, Herr Habermas! Schön, dass Sie sich mal wieder melden" - eilends das Abteil.
Als ich zurückkehrte, saß mein geschätzter Nachbar zwar pflichtschuldig an seinem Platz; doch sein mühsam unterdrückter beschleunigter Atem, die Schweißtropfen auf seiner Stirn und der Duft nach Flüssigseife von seinen Händen zeigten überdeutlich, dass der Schelm meine Abwesenheit genutzt haben mußte, um heimlich auf den Abort am Ende des übernächsten Abteils in der entgegengesetzten Richtung zu hasten. Nun wohl. Ich war bereit für die nächste Runde, wenn er es war.
Unglücklicherweise war meiner Aufmerksamkeit entgangen, dass ich nur noch eine Viertelstunde vom Reiseziel, der Film aber noch gute drei von seinem Ende entfernt war. Nun war guter Rat teuer: Verließ ich den Zug so kurz nach meiner Flucht zur Toilette, die zwar gut, aber auch nicht perfekt getarnt gewesen war, würde der Feind das womöglich als Kapitulation meinerseits auffassen und glauben, ich führe das zuvor erwogene Manöver aus und verlasse den Zug nur, um an anderer Stelle wieder einzusteigen. Was für einen Sinn hätte es außerdem ergeben, einen derart langen Film auf einer viel zu kurzen Reise anzufangen? Aus Sicht der Gegenseite war ich, wenn ich nun ausstieg, entweder ein Dummkopf, weil ich die Länge nicht schätzen konnte, gab mich geschlagen, war frevelhafterweise bereit, dieses Kunstwerk häppchenweise zu betrachten oder - im schlimmsten Fall - hatte den Film überhaupt nur begonnen, um Eindruck zu schinden.
Es kostete mich doch eine gewisse Überwindung, sitzenzubleiben, als der Zug schließlich in Köln hielt. Ich arbeite auswärts und hatte das Wochenende mit meiner Frau und den Kindern verbringen wollen. Tatsächlich durchfuhr mich, als sich die Türen zischend öffneten, ein leichter Ruck. Dennoch blieb ich stand- oder, wenn Sie mir den kleinen Kalauer verzeihen wollen, vielmehr seßhaft. Die heilige Pflicht leimte mich an meinen Sitz. Als wir schließlich wieder anfuhren, sah ich durch das Fenster noch kurz meine Frau, wie sie, an jeder Hand eine meiner Töchter, den Bahnsteig nach mir absuchte. Innerlich verfluchte ich den Narren neben mir. Es hätte ein schönes Wochenende werden können. Morgen sollte die Sonne scheinen, und die Kinder hatten noch so viel zu lernen. Nun fuhr ich unsinnigerweise nach Stralsund.
Nun, was sein muss, muss sein. Kurz ließ ich meine Miene einen stoischen Zug annehmen, gab ihn aber sofort wieder auf zugunsten eines Ausdrucks inniger Versunkenheit. Eine gewisse Nervosität kam auf, als nach einer Weile der Schaffner seine Runde machte. Mein Ticket galt nur bis Köln, wenn man es streng nahm, wie es Schaffner ja zu tun pflegen, so erschlich ich mir die Weiterfahrt. Natürlich hätte ich nachlösen können, aber doch wohl kaum vom Feind unbemerkt. So blieb ich mit meiner versunkenen Miene sitzen und hoffte das Beste. Was dann auch eintrat. Der Schaffner erinnerte sich offenbar, mich bereits zuvor kontrolliert zu haben, nicht aber an mein Reiseziel - und ging vorüber. Einen kurzen Augenblick lang überlegte ich, mich erneut davon zu stehlen, dem Schaffner zu folgen und das Ticket insgeheim zu lösen, befand dann aber, dass mein hehrer Zweck mich der Zahlungspflicht enthebe. Ich fuhr schließlich nicht zum Vergnügen.
Etwas später muss ich wohl, wie angesichts der Aufregung sicher verständlich, kurz eingenickt sein. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist der Abspann. Mein Antagonist hingegen lag mit geschlossenen Augen an die Fensterscheibe gelehnt; mindestens die letzten drei Stunden des Kunstwerks, das ich so bereitwillig mit ihm geteilt hatte, hatte er ganz offenbar verschlafen. Klarer hätte sein kulturfremder Charakter sich kaum zeigen können.
Mein Triumph, der zugleich ein Triumph des Films, der Kunst wie überhaupt der abendländischen, nein! aller Kultur war, hätte in diesem Augenblick einen Gipfelpunkt erreicht, wäre mir nicht gerade da der aufmerksame Blick aufgefallen, mit dem eine junge Dame auf dem Sitz hinter meinem durch den Spalt zwischen meinem Sitz und dem meines unterlegenen Rivalen hindurch auf meinen Bildschirm linste. Allem Anschein nach tat sie das schon eine ganze Weile.
Schon wappnete ich mich innerlich dafür, in einem sich hinziehenden Gespräch die Vorzüge dieses mir ja nun unglücklicherweise nur fragmentarisch bekannten Werkes zu loben, doch machte die Dame keine Anstalten, etwas zu sagen. Indem ich mir im Hinausgehen den Hals verrenkte, beobachtete ich, wie sie eine digitale Filmdatenbank nach Bela Tarr durchsuchte. Obwohl sie doch allein saß! Ich schüttelte den Kopf. So ein Angeberin!
Der Bildungsbürger
Liebe Mnem,
eine Reihe berühmter Schriftsteller wie etwa Hemingway haben in diese Heftchen geschrieben, weshalb sie bei vielen auch heute noch gern als Notiz- und Skizzenbücher dienen - natürlich nicht immer, aber meinem Gefühl nach häufig aus einer künstlichen Haltung heraus, die den Schreibern vor sich selbst das Gefühl von Echtheit verleihen soll.
Ich habe gerade nach weiteren Berühmtheiten gesucht, die das Heftchen verwendet haben, und bin hierauf gestoßen:
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte ... /Moleskine
Bin also nicht allein mit meiner Wahrnehmung, so böse hab ichs ja gar nicht mal gesagt
Liebe Grüße
Lisa
eine Reihe berühmter Schriftsteller wie etwa Hemingway haben in diese Heftchen geschrieben, weshalb sie bei vielen auch heute noch gern als Notiz- und Skizzenbücher dienen - natürlich nicht immer, aber meinem Gefühl nach häufig aus einer künstlichen Haltung heraus, die den Schreibern vor sich selbst das Gefühl von Echtheit verleihen soll.
Ich habe gerade nach weiteren Berühmtheiten gesucht, die das Heftchen verwendet haben, und bin hierauf gestoßen:
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte ... /Moleskine
Bin also nicht allein mit meiner Wahrnehmung, so böse hab ichs ja gar nicht mal gesagt

Liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Ey Mucki! Klar guck isch, Alda! Fett krass die Teil da!
Lisas Erläuterung war für mich allerdings hilfreicher, die prominente Rolle dieser Hefte war mir nicht klar. (Ich selbst schreibe fast ausschließlich auf Rückseiten - Briefe, Flugblätter, überzählige Übungszettel oder Klausuren etc. - und kaufe daher fast nie Papier.)
Jürgen, danke für deine erfreuliche Rückmeldung!

Jürgen, danke für deine erfreuliche Rückmeldung!
OT: das mit dem Moleskinheftchen erinnert mich an ein Gespräch, das ich kürzlich mit meiner Tochter (25) hatte. Das neue Auto meines Mannes ist ihm zu groß, und er sagt manchmal, er hätte sich ein kleines kaufen sollen, vielleicht den Mini 5Türer, der sei so stylish. Meine Tochter: "Ja, ich fand die Minis auch mal cool, aber heute ist das so ein (im bäbä-Ton) typisches Szeneauto, das kannst du nicht mehr fahren!"
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
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