Drachenjunge, die unfertige Geschichte

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
derSibirier

Beitragvon derSibirier » 20.03.2010, 05:54

Ich bin in meinen Gedanken versunken und sehe den Jungen, der im Büffelgras am Rande der Klippen steht. Er trägt keinen Namen, ich habe es versäumt, ihm einen zu geben. Niemand kümmert sich um ihn. Er steht alleine da. Ich gebe ihm ein Stück Zucker, zum Zeitvertreib. Mit fast geschlossenen Augen sieht der Knabe auf das Meer hinaus. Kühle Luft schlägt ihm an die Stirn, hebt sein Haar und senkt es wieder. Er wartet auf ein Ereignis, aber es geschieht nichts, so sagt er nach einer Weile:
„Haben Sie Mitleid, mein Herr, und lassen Sie mich nach Hause gehen.“
„Nein“, rufe ich, „du hast kein Zuhause!“
Da sagt er: „Ach lieber Herr, Sie haben doch eine solch lebhafte Fantasie und könnten mir mit Leichtigkeit ein schönes Zuhause schaffen.“
„Gut“, sage ich, „aber zuvor musst du ein Abenteuer bestreiten, dem Leser eine Freude bereiten. Es ist nur so, dass der gemeine Leser einen einsamen Jungen in Gefahr lieber hat, als einen, dem es gut geht, mit einem schönen Haus.“
Das leuchtet ihm ein und er verlangt nach einem weiteren Stück Zucker. Ich werfe es in die Geschichte hinein.
„Was für ein Abenteuer hättest du denn gerne?“, frage ich und zähle dabei heimlich den Zucker in meinem Gedächtnis.
Er setzt sich auf einen Stein und sagt, die Süßigkeit von einer Backe in die andere schiebend: „Ich möchte Raumschiffpilot sein.“
„Das ist unmöglich“, lasse ich ihn etwas grob wissen, „ich schreibe eine Fantasygeschichte.“
„Was sagt Ihr da?“, ruft er viel zu laut für seine Kleinwüchsigkeit.
„Ich verlange von dir, dass du auf einem Drachen fliegst“, fordere ich, „zehn Stück Zucker bekommst du für deinen Einsatz.“
„Na gut, aber nur wenn's ein kleiner Drache ist und keiner mit Feuer im Mund, so wie ein wildes Tier in den Tropen.“
„Einverstanden“, sage ich, packe ihn am Kragen und hebe ihn hoch über die Klippen hinaus. Er strampelt hilflos mit den Füßen, als wäre er ein Frosch ohne Halt. Ich schreibe den Drachen nahe an die Klippen, er kommt im Aufwind von links daher. Platsch, und mein Held sitzt auf dem Tier.
Daraufhin wird der Knabe mutig. Er legt die Hände um den Hals des Transporteurs und tritt ihm fortwährend mit den Stiefeln in die Seiten. Erschrocken flattert der Drache wie eine Fledermaus und dies dreimal um die Welt. „Hey, Hey“, jauchzt der Junge, auf einmal wild geworden.
Er reitet den Transporteur noch zu Tode, denke ich und schnappe mir den Bengel am Rockzipfel, als er an der Küste vorbeifliegt.
„Genug ist es“, sage ich, „der Drache wird noch eingehen.“
Der erregte Junge lächelt kurz in einem Atemzug verborgen. Dann setzt er sich wieder auf den Stein und mit nachdenklichem Gesicht beginnt er zu erzählen: „Es hat niemals eine Zeit gegeben, in der ich durch mich selbst von meinem Leben überzeugt war. Ich erfasse die Dinge um mich nur in so hinfälligen Vorstellungen einiger Autoren, die sich meiner bedienen. Sie glauben immer, die Dinge hätten einmal gelebt, jetzt aber seien sie vorbei. Immer, lieber Herr, habe ich eine so quälende Lust, die Dinge so zu seh'n, wie sie für mich erfunden wurden. Ich vergesse keine Geschichte, in der ich vorkam. Aber die Menschen vergessen mich, es muss wohl so sein und doch macht es mich traurig. Ich möchte leben und nicht sterben. Ich möchte, dass sich die Menschen an mich erinnern. Ich bin der Junge aus den Geschichten, die sich die Menschen erzählen. Werden Sie mich auch vergessen, mein lieber Herr?“
„Nein, ich vergesse dich nicht, denn ich bin wie du, und nun komm, ich bau dir ein schönes Haus, dort hinter'm Hügel, in einem Meer aus Büffelgras.
Zuletzt geändert von derSibirier am 21.03.2010, 05:13, insgesamt 1-mal geändert.

derSibirier

Beitragvon derSibirier » 22.03.2010, 18:39

hallo Mnemosyne

Das sehe ich nicht. Höchstens zu einer Diashow. Ein "Film" aus zusammenhangslosen Bildern wäre nur ein buntes Flackern. Richtig, aber Freiheit und ihre Grade gibt es nur im Wechselspiel mit einer äußeren Ordnung, mit der sie ringt und mit der sie sich versöhnt. Sonst ist es Chaos.

Ich antworte dir mit einem Text von mir:

Diashow-
buntes Flackern-
keine Ordnung-
Chaos-

Schienenstrang

Sein Körper ist entspannt. Die immer gleich monoton klingenden Geräusche des Zuges verschmelzen seine Gegenwart in einen Zustand der Trance. Seine Augen sehen die Welt in Einzelaufnahmen, nahe Leitungsmasten unterbrechen den Bilderlauf. Kurze Momente des Erkennens, kurzes Erinnern, an seinem Blickfeld vorbeiziehende Landschaften. Abwechselnde Eindrücke, ein Kommen und Gehen, ein Nichts zu bestimmen, keines Wertes, sie zu behalten. Geschlossene Schranken, Autos mit Menschen an den Scheiben, ein Mann auf einem Fahrrad, eine tote Katze im Schotter der Gleise. Eine alte Fabrik, Mauern, die verfallen, von Spraydosen beleidigt, mit Moos und Spinnfäden überzogen. Wasser unter der Brücke, ein Fischer, der rudert, seine Bewegungen bestimmen, die keine Eile.
Stunden vergehen, es spielt keine Rolle. Was ist schon Zeit? Ist es gestern, oder war es Morgen, er hat es vergessen, weiß es vielleicht letztes Jahr wieder. Sein Ziel ist nicht wichtig, dort, aus dem er kommt, ist nicht Morgen, Heute, oder Gestern bestimmt.
Eine Frau mit Federn am Hut, zwei Koffer, ihr Zwingen durch den Gang. Er schließt seine Augen, denkt an nichts und weiß alles.
Was wird kommen, was wird geschehen, er hat schon genug davon, bevor es beginnt.
Der Schaffner will seine Fahrkarte. Soll er sie haben. Es ist ihm so gleichgültig wie dem Schaffner selbst. Klick, Klick, der Schaffner geht, er hat die Fahrkarte wieder in der Hand.
Sie hat ein Loch und dort noch ein Zweites. Was ist hinter diesen zwei Löchern, was ist ein Loch? Hinter den Löchern ist nichts, sie sind zu klein, um etwas dahinter zu sehen. Er lächelt ohne Mund, hinter ein Loch sehen, wer kann das schon, er vielleicht, oder die von gegenüber, oder der vom letzten Jahr, an das er sich nicht mehr erinnern kann.
Er versteht es, er weiß alles, sagt sich selbst, so ist es und wird es immer sein. Gedanken, die nicht denken, Gefühle, die nicht spüren, Schatten in keinem, ohne Licht.
Belanglosigkeit, Zufriedenheit, er streichelt sie und wirft sie weg.
Der Zug hält an, der Mann steht auf und steigt aus, geht dorthin zurück, was vorne ist.
Im Vorne angekommen, bleibt er stehen und rennt dabei im Gedanken zurück.
Der Zug fährt weiter und nimmt alles mit, auch dich und mich.

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Beitragvon Mnemosyne » 22.03.2010, 20:42

Hallo Sibirier,
da sage noch jemand, Diskussionen über Literatur seien nicht produktiv :-). Hast du das eigens als Gegenbeispiel geschrieben oder gab es das schon vorher?
Ja, im großen und ganzen ein hübscher Text. Es gefällt mir, wie der konturlose Protagonist im Einerlei der Eindrücke herumtreibt.
Allerdings wohnt dem Text zum einen doch noch ein gehöriges Maß an Ordnung inne: Es bleibt beim Zug, es bleibt in einer Welt, die unserer ähnlich ist, und schließlich, und vor allem bleibt die Einheit, die hier den Zusammenhang stiftet und die Eindrucksflut zusammenhält bzw. als Eindrücke erst ermöglicht, das beständige Ich bzw. das "er". Und diese Welt, durch die "er" fährt, ist alles andere als gesetzlos und chaotisch.
Zum anderen kann ich mir schwer vorstellen, wie du selbst dieses Vorgehen "auf Dauer" durchhalten wolltest. Spätestens nach den ersten zehn Seiten von so einer Schilderung würde jedenfalls mein Interesse erheblich nachlassen. Und dass der Ansatz für kurze Texte durchaus trägt, war ja gerade mein Punkt.
Schließlich ist eben auch nicht jeder Text eine Geschichte. Natürlich kann man Momentaufnahmen zu einem Mosaik kombinieren, was für gewisse Absichten möglicherweise sogar genau das richtige Darstellungsmittel ist. Ich denke gerade z.B. an Koyaanisqatsi, einen meiner Lieblingsfilme, wo kontemplative Naturaufnahmen der durch Zeitraffer, Luftaufnahmen, geschickte Wahl der Hintergrundmusik etc. zu einer irrwitzigen Raserei verfremdeten (und gerade dadurch gut eingefangenen) technischen Zivilisation gegenüber gestellt werden. Aber erstens sind hier die Bilder alles andere als zusammenhangslos (vor allem haben die meisten Einzelbilder der Filmrolle einen klaren Bezug zum folgenden), und zweitens würde ich nicht behaupten, der Film habe eine Handlung oder erzähle eine Geschichte - er schöpft seinen Reiz vielmehr gerade daraus, dass er das nicht tut und den Zuschauer mit seinen Eindrücken allein lässt. Ob ein Koyaanisqatsi als Text möglich (im Sinn von: Lesbar) wäre, kann ich nicht beurteilen, aber eine Geschichte würde so ein Text nicht erzählen.
Wesentliche Elemente von Geschichten, wie Spannungsbögen, unvorhersehbare Wendungen, selbst Humor spielen mit Erwartungen des Leser, also muss ein gewisser Raum da sein, um Erwartungen aufzubauen. In deinem Text erwarte ich z.B. nach wenigen Zeilen eine weitere Darstellung von Eindrücken eines Zugreisenden. Dadurch würde ich es z.B. als Überraschung empfinden, wenn der Zug plötzlich ein Wackelpudding wäre, der den Jupiter umkreist. Das wäre zwar möglich (und vielleicht ganz amüsant), aber eben gerade als Verletzung von Regeln, die Regeln nicht abschafft, sondern voraussetzt.
Längere Geschichten in Welten mit erheblich abweichenden Regeln sind darum auch erheblich schwierig. Mein Lieblingsbeispiel: Für mich ist das Harry-Potter-Universum in dem Moment kollabiert, als Rowling eine Zeitmaschine hineingeworfen hat. Eine Welt, in der Zeitreisen übereifrigen Schülerinnen ermöglicht werden können, ist einfach eine völlig andere und wirft eine Unzahl von Fragen auf: Warum z.B. reist kein Todesser nach Voldemorts Fall zurück und schneidet Harry die Kehle durch, ehe er den Fluch reflektiert? Ab da konnte ich nur weiterlesen, indem ich mich dazu zwang, die Zeitmaschine zu vergessen. Trotzdem entsteht im Lauf der Bände ein Netzwerk aus Zaubersprüchen und Möglichkeiten, die das Weitererzählen immer schwieriger machen. Im Grunde könnten die Protagonisten durch die Handlung gleiten wie Stahl durch Butter. Dadurch wird es nötig, die eröffneten Möglichkeiten auf mitunter sehr künstlich anmutende Weise wieder einzuschränken: Sich an einen anderen Ort zu zaubern geht zwar, aber nie an den, wo man gerade dringend hin muß, heranholen geht, aber nicht in Schatzkammern, in der Höhle, in der ein Horcrux lagert, kann man nicht apparieren, Hauselfen können es trotzdem, wovon Voldemort aber nichts weiß, man kann alles mögliche erschaffen, außer Essen... Ich habe den starken Eindruck, diese Geschichte hat gerade noch geendet, ehe sie unter ihrer eigenen Last zusammenbricht.
Interessantes Gespräch übrigens bisher, dafür schon einmal danke! :-)
Merlin

derSibirier

Beitragvon derSibirier » 23.03.2010, 17:34

Hallo Mnemosyne

Der Text ist mir zu deinem Kommentar eingefallen, geschrieben habe ich ihn etwa vor einem Jahr.

Du erzählst mir von Filmen und Büchern, die ich nicht kenne. Ich sehe mir keine Filme an und Bücher lese ich nur unter Qualen.
Du hast schon recht, eine gewisse Ordnung sollte sein, aber welche Ordnung? Für mich eigentlich nur die, das ein Text nachvollziehbar sein muss. Aber die meisten Bücher beinhalten immer nur das Gleiche: Fast alle Autoren versuchen Konflikte in Ordnung zu bringen, der eine kann's eben besser, der andere weniger gut. Aber es gibt auch andere, naja, eigentlich kenn ich nur einen. Vielleicht bin ich in hundert Jahren der zweite.

auch ich bedanke mich bei dir
derSibirier


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