Übriggeblieben

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 07.12.2007, 17:53

Übriggeblieben

„Es ist erschreckend.“ Karla zuckte zusammen, denn die Spitze des Zahnstochers, mit dem sie nach einem Kuchenkrümel zwischen zwei frisch verkronten Backenzähnen pulte, stach ins irritierte Zahnfleisch. „Ich meine, der Zahnarzt ist gut, aber privat ...“
Pauline machte sich über ihr zweites Tortenstück her. „Wieso? Was ist mit ihm?“
„Na, er hat was mit seiner Sprechstundenhilfe! Dabei drei Kinder und seit Ewigkeiten verheiratet, der geile Bock.“ Endlich war der Krümel draußen, Karla atmete erleichtert auf. Paulines Augen leuchteten vor Entzücken über den Zündstoff, den Karla da anlieferte. Ähnliches Schicksal schmiedete Karla und Pauline zusammen: sie waren beide übrig geblieben, ungeküsst. Beim Wienern ihrer Eingangsbereiche hatten sie Freundschaft geschlossen. Ab da polierten sie zur selben Zeit ihre Türen und Klinken; ein wunderbares Alibi für Spionagetätigkeiten. Zweimal wöchentlich spazierten sie in die Konditorei gegenüber dem Wohnhaus und gönnten sich einen Zuckerstoß.
Jetzt tunkte Pauline ihren Busen beinahe in das Sahnehäubchen auf ihrer Torte, um eine junge Frau besser sehen zu können, die gerade die Straße überquerte. „Ordinär. Kein Wunder, mit so kurzen Röcken laufen die herum, das muss die Männer ja verrückt machen.“ Karla nickte erbittert, und die Marionettenfalten um ihren Mund wurden noch tiefer.

Im Gegensatz zu sonst, wo sie recht vergnügt nach diesen Nachmittagen den Fernseher einschaltete, war sie schlecht drauf. Dabei hatte Karla schon die ganze Woche auf die Sendung mit Hansi Hinterseer gewartet.
Als das Luder vorhin die Straße überquert hatte, war Karla aufgefallen, wie sehr sie Marla ähnelte. Seit dreißig Jahren verging kein Tag, an dem sie sich nicht erinnerte, aber heute war es besonders widerlich.
Sie versuchte es mit einem Aromaölbad. Ihr schlaffer, weißer Bauch ragte wie eine Insel aus dem Wasser. Sanfte Wellen umspielten ihn. Karla schloss die Augen. „Ich habe bald gewusst, was da oben passierte“, sagte sie und patschte ins Wasser. „Ich brauche Ruhe zum Lernen, Schwesterherz“, äffte sie ihre Zwillingsschwester nach, „unser Häuschen ist einfach zu klein und ich würde dich stören beim Studieren, wo ich alles laut lesen muss, damit es in meinen Kopf reingeht, gell?“ Karla kam die Torte hoch, wenn sie nur dran dachte, wie leichtfüßig Marla nach diesen Lügen die Treppe zum Dachboden hinaufgeflattert war. Dabei war es doch Karla, der das Lernen schwerfiel. Heute noch, aber zu dem Zeitpunkt besonders, knapp zwei Monate vor dem Abitur.
„Als wir klein waren und uns als Prinzessinnen verkleideten, hatten wir es gut miteinander“, wandte Karla sich an die Kachelwand, an der sich das Kondenswasser sammelte, „das Namentauschen habe ich so gern gehabt, in deine Haut schlüpfen damit, ein bisschen du sein.“
Mit ungefähr zehn sagte Marla plötzlich, sie wolle ab nun ausschließlich sie selbst sein.
„Und wie du davongehüpft bist, hast du alles kaputtgemacht, du Schlampe!“ Karla wischte den Schweiß von der Stirn, den Schläfen.

Marla war mir nichts, dir nichts ins Frausein geglitten. Sie wurde Mittelpunkt ihres großen Freundeskreises, war überall eingeladen und gern gesehen.
Karla spürte immer noch die Narben, die die Akne auf Gesicht und Dekolleté hinterlassen hatte. Ihre Periode war von Krämpfen begleitet gewesen. Heilfroh, diese Tortur schon ein paar Jahre hinter sich zu haben, wusch sie sich zwischen den Beinen. Sie lachte, weil sie an das Gefühl dachte, dass ihre Teenagerarme denen Quasimodos geglichen hatte, als würden sie bald auf dem Boden schleifen. „Damals gab es nichts zum Lachen für mich, keiner konnte das verstehen.“
Alle hatten sie gemieden, als wäre sie von einer düsteren Wolke umgeben. Wenn sie auf dem Pausenhof an einer Gruppe Mitschülerinnen vorbeikam, verstummte das Gespräch. Hob sie die Hand im Unterricht, wurde es übersehen.

„Gegen dich hatte ich keine Chance, weder mit Zigaretten, noch mit den Leckereien, die ich verschenkt habe. Du warst das Licht, ich der Schatten. Kein Wunder, dass ich Süßigkeiten gefressen habe!“ Mittlerweile war Karla ihre Figur egal, sie hatte sich dran gewöhnt. „Immer die Ausreden, warum ich nicht auf die Partys mitdurfte. Es seien ja deine Freunde und ich wäre so unfreundlich, so muffig. Muffig, hast du gesagt, Miststück!“ Karla drehte ihren schweren Körper zur Seite, ihre Haut quietschte am Emaille entlang. Das Wasser war nur mehr lauwarm, trotzdem schwitzte sie vor Wut.

Dabei war sie überglücklich gewesen, weil Marla sie dann doch einmal mitgenommen hatte. Zum Feuerwehrfest.
„Was war ich überrascht, dass Jan mich aufforderte. Er legte den Arm um meine Hüften. Ich hatte ja keine Tanzerfahrung und merkte, dass er sich abmühte, mit mir zu Return to sender einen flotten Rock’n’roll hinzukriegen. Knallrot bin ich geworden, als er aufgab, mich zu den anderen zurückbrachte.“ Dann schnappte er sich Marla, wirbelte mit ihr über den Bretterboden. „Ich hasse dich! Immer noch!“, zischte Karla. Nach dem Schweißausbruch fröstelte sie. Sie rappelte sich hoch und stieg aus der Wanne. „Besoffen haben sie mich gemacht, bis ich mich erbrach. Was die gelacht haben!“

Karla war allein auf der Bank zurückgeblieben und eingeschlafen. Irgendwann kam sie zu sich und wankte heim, musste immer wieder kotzen. Marla hatte zusammengekringelt mit einem süßen Lächeln auf den Lippen geschlafen.
„Das hast du absichtlich gemacht, nichts konntest du auslassen, um mich fertigzumachen!“ Sie schlüpfte in den flauschigen Schlafrock und schlurfte in die Küche. Gönnte sich ein Gläschen Eierlikör. Die cremige Süße breitete sich in ihrem Mund aus. „Ah“, sagte Karla. Aber dann fiel ihr ein, wie die Sache mit Jan begonnen hatte. Marla und er trieben es miteinander. Auf dem Dachboden. „Haha, zum Lernen bist du raufgegangen! Jeden Nachmittag. Zumindest einweihen hättest du mich als deine Schwester können.“ Sie genehmigte sich noch ein Glas.
Manchmal war Karla nach oben geschlichen, hatte mit dem Ohr an der Tür gehört, wie die zwei flüsterten und stöhnten.
„Alles kommt einem zurück, gell, Marla?“ Karla ging ins Wohnzimmer, zur Anrichte aus Kirschholz. Vor der Fotografie im Silberrahmen, die sie und ihre Schwester in scheinbarem Einvernehmen lächeln zeigte, verharrte sie. „So ein Pech aber auch.“ Karla nippte am Likör.

Einen Tag vor dem Abitur ging der Dachboden in Flammen auf. Das trockene Holz brannte lichterloh, der Dachstuhl fiel schnell in sich zusammen. Die Schreie von Marla und Jan waren längst verstummt, als die Feuerwehr eintraf. Sie waren verkohlte, verschrumpelte Puppen.
Karla war nach einem Waldspaziergang von den verzweifelten Eltern und den Rettungsleuten informiert worden. Sie brach bühnenreif zusammen.
„Schauspielerin hätte ich werden sollen“, sagte sie zum Fernseher.
Die Untersuchung hatte dann ergeben, dass die beiden unachtsam mit einer Petroleumlampe umgegangen sein mussten. Sie war wohl umgekippt und hatte den daneben stehenden Kanister mit Heizöl entflammt.
Zerschmolzene Reste davon wurden in der Nähe der Dachbodentür gefunden.

Nach einem Blick auf Hansi Hinterseer, der mit seinen Gästen den bunten Abend zum Finale brachte, schaltete Karla ab. Mit einer großen Tafel Milchschokolade ging sie ins Bett.
Morgen würde sie die Messingklinke der Wohnungstür mit Politur behandeln, danach zum praktischen Arzt gehen und sehen, was sich dort im Wartezimmer tat. Später dann vielleicht in die Konditorei mit Pauline ...




1. Version
„Es ist erschreckend.“ Karla zuckte zusammen, denn die Spitze des Zahnstochers, mit dem sie nach einem Kuchenkrümel zwischen zwei frisch verkronten Backenzähnen pulte, stach ins irritierte Zahnfleisch. „Ich meine, der Zahnarzt ist gut, aber privat ...“
Pauline, die schon das zweite Tortenstück verspeiste, fragte mampfend: „Wieso? Was ist mit ihm?“
„Na, er hat was mit seiner Sprechstundenhilfe! Dabei drei Kinder und seit Ewigkeiten verheiratet, der geile Bock.“ Endlich war der Krümel draußen, Karla atmete erleichtert auf.
„Das Mädel? Die ist blutjung! Also wirklich!“ Paulines Augen leuchteten vor Entzücken über den Zündstoff, den Karla da anlieferte.

Ähnliches Schicksal schmiedete Karla und Pauline zusammen: sie waren beide übrig geblieben, ungeküsst. Beim Wienern ihrer Eingangsbereiche hatten sie Freundschaft geschlossen. Ab da polierten sie zur selben Zeit ihre Türen und Klinken; ein wunderbares Alibi für Spionagetätigkeiten. Zweimal wöchentlich spazierten sie in die Konditorei gegenüber dem Wohnhaus und gönnten sich einen Zuckerstoß.

„Sieh mal, da kommt die Sprechstundenhilfe ja.“ Pauline tunkte ihren Busen beinahe in das Sahnehäubchen auf ihrer Torte, um die junge Frau besser sehen zu können, die gerade die Straße überquerte. „Ordinär. Kein Wunder, mit so kurzen Röcken laufen die herum, das muss die Männer ja verrückt machen.“
Karla nickte erbittert, und die Marionettenfalten um ihren Mund wurden noch tiefer.

Im Gegensatz zu sonst, wo sie recht vergnügt nach diesen Nachmittagen den Fernseher einschaltete, war sie schlecht drauf. Dabei hatte Karla schon die ganze Woche auf die Sendung mit Hansi Hinterseer gewartet.
Vielleicht lag es an dem Sprechstunden-Luder vom Doktor. Als die Kleine vorhin die Straße überquerte, fiel Karla auf, wie sehr sie Marla ähnelte. Wieder kamen Erinnerungen hoch. Seit dreißig Jahren verging kein Tag, an dem sie sich nicht erinnerte, aber heute war es besonders widerlich durch dieses dumme Ding.
Sie versuchte es mit einem Aromaölbad. Ihr schlaffer, weißer Bauch ragte wie eine Insel aus dem Wasser. Sanfte Wellen umspielten ihn. Karla schloss die Augen.
Der Geruch von Fichtennadel versetzte sie auf den Dachboden ihres Elternhauses, und sie sah deutlich den Quilt auf den rauen Dielen liegen, Marlas Liebeslager.
„Ich habe bald gewusst, was da oben passierte“, sagte sie und patschte ins Wasser.

Jeden Nachmittag war Marla nach oben verschwunden. „Ich brauche Ruhe zum Lernen, Schwesterherz. Unser Häuschen ist einfach zu klein und ich würde dich stören beim Studieren, wo ich alles laut lesen muss, damit es in meinen Kopf reingeht, gell?“ Und damit flatterte sie leichtfüßig die Treppe hinauf.
Marla log. Karla war es, der das Lernen schwerfiel, und es waren nur noch zwei Monate bis zum Abitur.
Sie waren Zwillinge, aber seit der Pubertät so verschieden wie Feuer und Wasser. Als kleine Kinder spielten sie die üblichen Rollenspiele. Die Mädchen verkleideten sich als Prinzessinnen oder Heldinnen. Ganz besonders gern tauschten sie ihre Namen im Spiel, denn Karla liebte es, in Marlas Haut zu schlüpfen. Mit Zehn endete das Spiel.
„Ich will jetzt alleine ich sein“, sagte Marla und lief davon.
Karla blieb zurück.

Dann wuchsen ihnen Brüste. Marla glitt von der Kindheit ins Frausein. Sie wurde Mittelpunkt ihres großen Freundeskreises, war überall eingeladen und gern gesehen.
Karla hingegen litt sehr unter Akne. Weil ihr Gesicht und Dekollete mit gelben Pusteln übersät war, wagte sie sich kaum vor die Tür. Ihre Periode war von Krämpfen begleitet. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihre Arme denen Quasimodos glichen, sie bald auf dem Boden schleifen würden, dann wieder zogen Wachstumsschmerzen in den Beinen. Die Pubertätserscheinungen raubten Karla den letzten Rest an Frohsinn. Sie wurde gemieden, als wäre sie von einer düsteren Wolke umgeben. Wenn sie auf dem Pausenhof an einer Gruppe Mitschülerinnen vorbeikam, verstummte das Gespräch. Hob sie die Hand im Unterricht, wurde es übersehen.
Gegen ihre Schwester hatte sie keine Chance, weder mit Zigaretten, noch mit den Leckereien, die sie verschenkte.
Marla war das Licht, sie der Schatten.
Und sie fraß Süßigkeiten in sich hinein, wurde fett und ungelenk. Mit siebzehn hatten die Schwestern nichts mehr gemein.

Marla hätte mich mitnehmen können zu den Partys, aber nein, es hieß immer, es wären ihre Freunde und ich würde mich ja so unfreundlich geben, so muffig sein. Sie sagte wirklich: muffig! Karla drehte ihren schweren Körper zur Seite, ihre Haut quietschte am Email entlang.

Das Frühlingsfest der Feuerwehr fand statt und Marla fragte, ob Karla nicht Lust hätte, mitzukommen. Vollkommen aus dem Häuschen war sie damals gewesen, ihr Herz war ihr beinahe aus der Brust gesprungen. Nun würde sie doch dazugehören, hatte sie gehofft.

Das Wasser war nur mehr lauwarm, trotzdem überzog ein Schweißfilm ihren Körper, so sehr schämte Kalra sich immer noch.

Die Dorfjugend empfing die Zwillinge mit fröhlichem Lachen auf der Festwiese. Marla, die Hübsche, erblühte neben ihrer plumpen Schwester zur Prinzessin. Deswegen war Karla sehr überrascht, als Jan sie zum Tanz holte. Er legte den Arm um ihre dicken Hüften und mühte sich ab, mit ihr zu Elvis Presleys Return to sender einen flotten Rock’n’roll auf den Bretterboden zu legen. Karla schnaufte, lief rot an und sie brachen den Tanz ab. Jan grinste und sie plumpste auf die Bank. Dann schnappte er sich Marla. Die beiden wirbelten über die Tanzfläche.
Irgendeiner spendierte Karla ein Bier. Danach drückte ihr ein anderer eine Flasche in die Hand. Sie trank weiter. Schließlich lallte sie und erbrach sich zum Gaudium der Anwesenden.
„Bäh, Karla, was bist du ekelig“, sagten sie und lachten.
Betrunken blieb Karla allein auf der Bank zurück und schlief ein. Irgendwann kam sie zu sich und wankte heim, musste immer wieder kotzen. In der Früh kam sie zu Hause an. Sie ertrug die Beschimpfungen ihrer Mutter. Die Worte knallten wie Peitschenhiebe. „Eine Säuferin habe ich in die Welt gesetzt, schäm dich! Wer weiß, was du die halbe Nacht getrieben hast, betrunken, enthemmt!“
Karla kroch ins Bett. Sie schaute hinüber zu Marla. Diese schlief zusammengekringelt mit einem süßen Lächeln auf den Lippen.

„Ich hasse dich! Immer noch!“, zischte Karla den beschlagenen Fliesen zu. Nach dem Schweißausbruch fröstelte sie. Sie rappelte sich hoch und ließ heißes Wasser nachlaufen.

Und dann hatte die Sache mit Jan begonnen. Die trieben es miteinander. Auf dem Dachboden. Jeden Nachmittag. Das wäre ja in Ordnung gewesen, wenn wenigstens ein Junge Karla beachtet hätte, und wenn es der hässlichste von allen gewesen wäre. Aber niemand schaute sie an. Das machte sie traurig und wütend. Dazu kam, dass Marla sie nicht einweihte in diese Liebessachen. Zumindest als Vertraute der Schwester hätte Karla dienen können. Wie immer übersah Marla Karlas stummes Flehen.
Jan kam jeden Nachmittag. Manchmal schlich Karla die Treppe rauf und presste das Ohr an die Tür. Sie flüsterten und stöhnten. Karlas Wut wuchs von Tag zu Tag. Schließlich konnte sie es nicht mehr aushalten. Sie stampfte die Stufen nach oben, riss die Tür auf.
Da lagen sie. Nackt, ineinander verschlungen. Braungebrannt, schlank und schön. So schön. Nach einer Schrecksekunde fingen sie zu kichern an. Karla schlug mit der Faust gegen den Türrahmen, dass Holzstaub aus den Dachsparren auf die beiden herabrieselte. Sie knallte die Tür zu, floh die Treppe hinunter. Gelächter verfolgte sie.
Immer lauter sind die zwei da oben geworden ...

Karla drehte den Hahn ab und versank bis zum Mund im heißen Wasser.

Einen Tag vor dem Abitur ging der Dachboden in Flammen auf. Das trockene Holz brannte lichterloh, der Dachstuhl fiel schnell in sich zusammen. Die Schreie von Marla und Jan waren längst verstummt, als die Feuerwehr eintraf. Sie waren verkohlte, verschrumpelte Puppen.
Die Untersuchung der Brandursache ergab, dass die beiden unachtsam mit einer Petroleumlampe umgegangen sein mussten, sodass diese wahrscheinlich umgekippt war und den daneben stehenden Kanister mit Heizöl entflammt hatte.
Zerschmolzene Reste davon wurden in der Nähe der Dachbodentür gefunden.

Karla fuhr hoch und spuckte das ölige Wasser aus. „Baäh.“ Der Badezusatz roch betörend und schmeckte ekelig. Sie schrubbte sich ab, stieg aus der Wanne. Nach einem Blick zum Fernseher, in dem Hansi Hinterseer mit seinen Gästen den bunten Abend zum Finale gebracht hatte, schaltete Karla ab. Mit einer großen Tafel Milchschokolade ging sie ins Bett.
Morgen würde sie die Messingklinke der Wohnungstür mit Politur behandeln, danach zum praktischen Arzt gehen und sehen, was sich dort im Wartezimmer tat. Später dann vielleicht in die Konditorei mit Pauline ...
Zuletzt geändert von Elsa am 30.05.2010, 20:03, insgesamt 2-mal geändert.
Schreiben ist atmen

scarlett

Beitragvon scarlett » 09.12.2007, 14:07

Wie Feuer und Wasser

Es hätte ein ganz possierlicher Nachmittag werden können, mit Klatsch und Tratsch, mit Hansi Hinterseer als Sahnehäubchen und der Gute – Nacht – Schokolade als Trostpflaster. Aber es kam – diesmal zumindest – alles ganz anders.

Die Autorin nimmt den Daily Talk zweier biederer Nachbarinnen und Freundinnen aus Not zum Anlaß, den Leser in die seelischen Abgründe der Protagonistin Karla blicken zu lassen.
Unter der Oberfläche brodelt nämlich ein Sumpf, der einen Vergleich mit Chabrol nicht scheuen muß.

Sie, die Zwillingsschwester Karla, ist übriggeblieben und das im doppelten Wortsinn: einmal als „alte Jungfer“, die keinen Mann abbekommen hat, ferner als Überlebende: die Schwester ist tot, gestorben im/durchs Feuer, während Karla sich im (Bade)Wasser liegend zurückerinnert. Sie waren eben sehr verschieden, die Schwestern, wie Feuer und Wasser eben.

Auf einfühlsame und nachvollziehbare Art zeigt Elsa die Verletzungen, Demütigungen, ja die Grausamkeiten auf, denen ihre Hauptfigur ausgesetzt war und das in einer wichtigen, prägenden Entwicklungsphase. Als häßliches junges Entlein immer im Schatten der strahlenden Prinzessin, konnte sie sich keinen Zugang zu deren Welt verschaffen, nicht durch Bestechung, nicht durch Flehen. Immer links liegengelassen und ohne Hoffnung, es jemals mit ihrer Schwester aufnehmen zu können, entwickelten sich daraus Wut und Verbitterung und ein Haß, der noch über den Tod der Schwester hinaus anhält.

Und „Karla drehte den Hahn ab“ ...

Die Ursache des Unglücks demzufolge Marla starb, wird als eine wahrscheinliche bezeichnet.
Die Positionierung dieses Satzes unmittelbar nach der Schilderung der alles entlarvenden Liebesszene, des höhnischen Gelächters, mit dem Karla einmal mehr bedacht wurde und kurz vor der erinnerten Katastrophe bewirkt nicht nur eine gelungene Verzahnung der dargestellten Sitationen. Dieser Satz liefert m M nach auch ein Indiz, die Schlußfolgerung mag jeder Leser für sich ziehen ...

Ähnliche, äußerst gelungene Verzahnungen von erzählter Zeit und Erzählzeit finden sich auch noch an anderen Stellen dieser flott geschriebenen Erzählung, anhand derer der Leser behutsam durch den Text geleitet wird.
Sprachlich rund, mit einigen köstlichen Formulierungen, denen allerdings stets der Geschmack des Bitteren anhaftet (wirklich lachen kann man dabei nicht), ist dies eine empfehlenswerte Lektüre.

„Worte knallen wie Peitschenhiebe“ ...

scarlett

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 26.01.2008, 15:11

Es ist ja nichts gewesen

Diesen Part der Geschichte fand ich ganz großartig zu lesen:

Übriggeblieben

„Es ist erschreckend.“ Karla zuckte zusammen, denn die Spitze des Zahnstochers, mit dem sie nach einem Kuchenkrümel zwischen zwei frisch verkronten Backenzähnen pulte, stach ins irritierte Zahnfleisch. „Ich meine, der Zahnarzt ist gut, aber privat ...“
Pauline, die schon das zweite Tortenstück verspeiste, fragte mampfend: „Wieso? Was ist mit ihm?“
„Na, er hat was mit seiner Sprechstundenhilfe! Dabei drei Kinder und seit Ewigkeiten verheiratet, der geile Bock.“ Endlich war der Krümel draußen, Karla atmete erleichtert auf.
„Das Mädel? Die ist blutjung! Also wirklich!“ Paulines Augen leuchteten vor Entzücken über den Zündstoff, den Karla da anlieferte.

Ähnliches Schicksal schmiedete Karla und Pauline zusammen: sie waren beide übrig geblieben, ungeküsst. Beim Wienern ihrer Eingangsbereiche hatten sie Freundschaft geschlossen. Ab da polierten sie zur selben Zeit ihre Türen und Klinken; ein wunderbares Alibi für Spionagetätigkeiten. Zweimal wöchentlich spazierten sie in die Konditorei gegenüber dem Wohnhaus und gönnten sich einen Zuckerstoß.

„Sieh mal, da kommt die Sprechstundenhilfe ja.“ Pauline tunkte ihren Busen beinahe in das Sahnehäubchen auf ihrer Torte, um die junge Frau besser sehen zu können, die gerade die Straße überquerte. „Ordinär. Kein Wunder, mit so kurzen Röcken laufen die herum, das muss die Männer ja verrückt machen.“
Karla nickte erbittert, und die Marionettenfalten um ihren Mund wurden noch tiefer.

Im Gegensatz zu sonst, wo sie recht vergnügt nach diesen Nachmittagen den Fernseher einschaltete, war sie schlecht drauf. Dabei hatte Karla schon die ganze Woche auf die Sendung mit Hansi Hinterseer gewartet.
Vielleicht lag es an dem Sprechstunden-Luder vom Doktor. Als die Kleine vorhin die Straße überquerte, fiel Karla auf, wie sehr sie Marla ähnelte. Wieder kamen Erinnerungen hoch. Seit dreißig Jahren verging kein Tag, an dem sie sich nicht erinnerte, aber heute war es besonders widerlich durch dieses dumme Ding.
Sie versuchte es mit einem Aromaölbad. Ihr schlaffer, weißer Bauch ragte wie eine Insel aus dem Wasser. Sanfte Wellen umspielten ihn. Karla schloss die Augen.


Gelungen ironisch pointierter Stil, gekonnte Zeichnung der Typenfiguren, sind sofort präsent und vollständig ausgezeichnet, scharfe, witzige, skurril gefärbte Sprache, dann noch allerlei spickende Details ich hätte das Stunden weiterlesen können -

- wäre der Stil nicht so völlig gebrochen worden mit dem Einsetzen der Rückblende: Welche ich ganz für sich genommen in Teilen ins Kitschige abdriftende finde, auch verfällt sie für mich in die Klischeedramatik allzu großer Kontraste (die Schöne, die Hässliche, kann man das Übrigbleiben und das nicht gefunden werden (auch durch den Körper) nicht feiner erzählen? Muss alles neiderbrennen? Und wenn alles niederbrennen muss, muss dann vorher alles so dramatisch sein?
Leider aber zerstört diese Rückblende auch die Brillianz des ersten Teils, da seine Hintergrüdigkeit, seine lauernde Wahrheit, die Herzwinkelbosheit aus nicht verwirken können durch die emotionale-dramtische Erklärungsrückblende vollkommen beduetungslos (ich übertreibe @vollkommen) macht- dabei sagt doch diese Sprache des ersten Teils doch fast alles!

Mir scheint, die Autorin wollte mehrfach die Seele der Hautpdarstellerin brechen: erst beiderer Hansi schein mit drückendem Hass hinter der Fassade, dann die Bestätigung, das etwas im Argen liegt, doch dann wieder als Seeleneinfindung in die Protagonistin durch das Auszeichnen ihres Leids (dem Aufzeigen der wahren Gründe), dann wieder der Rückbruch ins Heute, als sei nichts gewesen (und es ist ja eben auch nichts gewesen, das ist ja der Graus). Die Idee der Kompositionsmethode durchaus gut angelegt (ginge aber auch anders, ohne Rückblende, meine ich), aber die Durchführung für mich im Mittelteil leider überhaupt nicht gelungen, umso gelungener dafür aber der erste Teil.

Für mich steht dem Text noch eine schwere, aber hoffnungsvolle Geburt bevor, die ich mir wünschen würde!
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 27.01.2008, 10:58

Hallo Elsa!

Ich finde, Lisa hat eine sehr treffende Einschätzung deines Textes geschrieben!

Auch mir erscheint er in weiten Teilen als zu schematisch. Nun spricht (jedenfalls meinem Empfinden nach) nichts dagegen, ein Schema als Grundlage einer Erzählung zu nehmen - nur muss dann auf dieses Schema etwas eigenes aufgesetzt werden, dass dem ganzen dann zu Leben verhilft. Das fehlt mir hier ein wenig, du rufst das Schema zwar aus der Gedankenwelt ins Fleisch der Worte, lässt es dann aber nackt vor dem Leser stehen. Äh, oder so...

Ein wenig störe ich mich auch an der sprachlichen Ausarbeitung. Der allgemeine Ton ist für meinen Geschmack etwas zu gleichmäßig, etwas zu distanziert und trocken berichtend. Das geht zum Teil bis in die Satzstrukturen: Pauline, die schon das zweite Tortenstück verspeiste, fragte mampfend: „Wieso? Was ist mit ihm?“ Hier hast du eine Information, die du gerne im Text hättest, und schiebst sie mit einem bequemen Relativsatz einfach ein. Das erinnert mich eher an einen Zeitungsartikel (Der Mann, der nach Zeugenangaben eine Maske trug, betrat...) als dass ich es in einer Erzählung erwarten würde, wo die balance und Ausgewogenheit der Perioden doch wichtiger ist?! Pauline machte sich über das zweite Stück Kuchen her. "Wieso? Was ist mit ihm?" hätte auf mich einen besseren Eindruck gemacht?! Abe natürlich gebe ich gerne zu, dass es bei solchen Betrachtungen nicht nur um "gut" oder "schlecht", sondern auch um den persönlichen Geschmack geht.

Schmunzeln musste ich auch! Zum Beispiel über das "Wienern der Eingangsbereiche", eine Beschäftigung, der hier in Westfalen niemand nachgeht - oder sie zumindest nicht so nennen würde ;-) Auch über "Email", was ich willentlich von der Bedeutung "elektronische Nachricht" lösen musste, und schließlich (und hier könntest du, im Gegensatz zu den bisherigen Beispielen, als Autorin hellhörig werden) beim "enthemmt" - mir fällt es schon sehr schwer, mir das Wort an sich in einer Standpauke vorzustellen, geschweige denn in dem von dir gewählten Satzbau :-)

Ein paar Buchstabendreher sind noch drin ("Kalra" statt "Karla" etwa), aber sowas hat hier ja nichts verloren. Ich schweige daher :-)

Insgesamt hat die Beschäftigung mit deinem Text Spaß gemacht. Vielleicht gehst du ja wirklich auf Lisas Vorschlag einer weiteren Arbeit am Text ein?! Ich denke, es würde sich lohnen.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Caty

Beitragvon Caty » 27.01.2008, 13:01

Elsa, ich mach dir einen Vorschlag: Erzähl die Geschichte Marla-Karla direkt, nicht als Rückblende.
Zumal die einleitende Handlung mit der Sprechstundenhilfe lediglich den Aufhänger für die Rückblende bildet und weiter keine Konsequenzen für die Geschichte hat. Dadurch ergeben sich indirekt zwei Rahmenhandlungen: die Sprechstundenhilfe und die Bad-Szene. Sprachlich will mir der Text noch nicht so recht gefallen. Du, Elsa, so will es mir scheinen, erzählst die Geschichte nicht einem Gegenüber, sondern sprichst sie ins Leere. Daraus resultieren eben blässliche Stellen. Nein, Karla muss ihren Leser überzeugen, dass sie im Recht ist, und dazu alle Mittel der Überredungskunst anwenden. Was mir auffiel: Du wechselst auch die Sprachebene, das tut der Geschichte nicht besonders gut und macht sie stellenweise sogar etwas unbeweglich. Aber die Geschichte hat Substanz, und ich könnte mir vorstellen, dass sie nach gründlicher Überarbeitung entweder eine interessante psychologische Studie ergibt oder eine Geschichte "aus dem Leben".
Aber für eines musst du dich entscheiden. Toi, toi, toi. Caty

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 30.05.2010, 17:55

Liebes Team, wäre es möglich, die Geschichte wohin zu schieben, wo ich eine 2. Fassung einstellen könnte?

Liebe Dankesgrüße
ELsa
Schreiben ist atmen

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Beitragvon Mucki » 30.05.2010, 18:09

Ich verschiebe es nach Kamin-Erzählungen, Elsie

Saludos
Mucki

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Beitragvon Elsa » 30.05.2010, 18:23

Vielen Dank, Mucki!

Ich habe jetzt nach den Kommentaren einen neuen Anlauf versucht, ist oben.

Lieben Gruß
ELsie
Schreiben ist atmen


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