Im Bleiben

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Max

Beitragvon Max » 03.06.2007, 19:30

Im Bleiben

Einmal stießen sie mit den Köpfen aneinander und es kam ihm in den Sinn, dass er sie verlassen könnte.
Er bräuchte nur seinen Lederkoffer nehmen, etwas Wäsche einpacken, Rasierzeug, Hose und Pullover, ein paar Bücher. Er könnte seinen Schritt mit einer Nichtigkeit begründen, etwa ihrer Unpünktlichkeit, der nie ausgeräumten Waschmaschine oder den kleinen Kaugeräuschen, die sie beim Essen machte. Ebenso, dachte er, könnte sie ihn verlassen, weil er nach jeder Rasur die Bartstoppeln im Waschbecken zurückließ.
Letztlich aber wäre sein Gehen grundlos. Er würde einem Gedanken folgen, als sei das Leben in dieser Richtung ein wenig abschüssig.
Doch er rieb sich nur die schmerzende Stelle am Kopf und blieb, küsste sie allmorgendlich zum Abschied aufs Haar, leerte die Waschmaschine, bereitete beizeiten das Essen und wartete auf ihre Heimkehr. Beim Abendbrot schaltete er das Radio an. Mitunter schliefen sie danach miteinander.
In diesem Bleiben vermutete er einen Abdruck seiner Liebe.

Charly

Beitragvon Charly » 03.06.2007, 21:30

Oder auch seiner Bequemlichkeit.
Schön geschrieben, Max.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass aus solchen Gedanken einmal Zigaretten-holen-gehen (with no return) werden kann ...

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 03.06.2007, 22:01

Ich sehe das anders: Wieso sollte sein Bleiben einen tieferen Grund haben, wenn auch das Gehen keinen hätte?
"Er" scheint entweder große Selbstsicherheit zu besitzen oder an Selbstentfremdung zu leiden - so oder so hat sein Ich offenbar an seinem Gehen oder Bleiben nicht wirklich teil, würde dadurch nicht verändert.
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Wort Abdruck. Worauf würde sich dieser Abdruck denn befinden, was genau wäre eingedrückt?

Nebenbei: Die Überlegung, dass ebenso gut "sie" es sein könnte, die geht, ist irgendwie fehlplaziert an dieser Stelle, da ja gleich hinterher wieder von "seinem Gehen" die Rede ist. Ich würde sie hinter "abschüssig" ziehen - oder ganz weglassen.

Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Max

Beitragvon Max » 03.06.2007, 22:16

Lieber Charly,

danke für Dein Lob. Du schreibst:

Ich könnte mir gut vorstellen, dass aus solchen Gedanken einmal Zigaretten-holen-gehen (with no return) werden kann ...


eigentlich erzählt der Text davon, dass das nicht geschieht :cool:

Liebe Zefira,

mit Deinem Kommentar habe ich stellenweise Schwierigkeiten:

Ich sehe das anders:


verstehe ich nicht ganz, weil ich nicht weiß, was Du anders siehst und als wer.

"Er" scheint entweder große Selbstsicherheit zu besitzen oder an Selbstentfremdung zu leiden



finde ich eine spannende Analyse, ich weiß aber nicht ganz, wie Du drauf kommst.

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Wort Abdruck.



Ja, der Satz ist vielleicht tatsächlich der Schlüssel zum Text. Allerdings würde ich gerne mit dem Aufschließen noch etwas warten ...

Worauf würde sich dieser Abdruck denn befinden, was genau wäre eingedrückt?


Worauf, das möchte ich später beantworten, aber was, das müsste doch klar sein, bei einem Abdruck der Liebe, oder?

Deinen Hinweis auf Ihr Gehen werde ich mir gerne mal durch den Kopf gehen lassen. Danke.

Liebe Grüße
max

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 03.06.2007, 22:45

ich nicht weiß, was Du anders siehst und als wer


Ich bezog mich damit auf Charlys Kommentar: Ich würde nicht "Bequemlichkeit" als Grund für sein Bleiben vermuten.

Wie gesagt, scheint mir sein Ich von den Verhältnissen unberührt, als sei es für seinen innersten Kern egal, wie er lebt, ob mit der Frau oder ohne. Deshalb meinte ich, er müsse entweder sehr selbstbewusst oder selbstentfremdet sein, als sei sein Ich von der Außenwelt abgeschottet. Kann sein, dass das total am Text vorbeigeht, es war mein erster Gedanke.

lG Zefira
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Beitragvon leonie » 03.06.2007, 23:21

Liebe Zefi,

ich glaube eher, das Gehen wäre grundlos, weil das Bleiben einen Grund hat, ohne dass das lyrIch genau sagen könnte, welchen. Es kann nur vermuten.

Lieber Max,

ich mag diesen Text. Ich hänge solchen Gedanken manchmal nach: Es könnte alles anders sein. Ja. (Ob es besser wäre??? Natürlich ist man versucht, das zu denken...)
Es kann aber auch so sein, wie es ist. Ohne ersichtlichen Grund. Und es kann trotzdem gut sein. Weil man es gut sein lässt (in seiner ganzen Doppledeutigkeit).

Liebe Grüße

leonie

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 03.06.2007, 23:39

Lieber Max,

Das ist sehr gut. Ich glaube, so ist die Liebe eigentlich. Nicht Leidenschaft und außer Rand und Band.

C.G. Jung sagte irgendwo: Man sollte nicht lieben, obwohl der/die Geliebte Fehler hat - man muss lieben, weil er/sie genau die Fehler hat. Also alles. Und das beinhaltet, dass man wegrennen möchte.

Ich finde das Aufzählen der Sachen, die einen wahnsinnig machen können, gelungen.

Das schönste: oder den kleinen Kaugeräuschen, die sie beim Essen machte

Und das: In diesem Bleiben vermutete er einen Abdruck seiner Liebe.

Lieben Gruß
ELsa
Schreiben ist atmen

Niko

Beitragvon Niko » 04.06.2007, 00:30

hallo max!
gefällt mir, dein text. ich lese darin nicht die gleichgültigkeit eines liebenden, der eben diese liebe nicht mehr empfindet. ich glaube, dein text will mehr.
beim kopfstoßen und dem denken darüber, dass er ja eigentlich gehen könnte, wird ihm bewusst, wie schnell alles überm haufen liegt. es bedarf im grunde nur einer nichtigkeit (barthaare etc) und alles ist vorbei. oder doch wenigstens ganz anders. das spielen mit diesem gedanken eröffnet neue welten und zeigt zugleich, dass, wenn man die wahl hat, wenn man also selbst entscheiden kann ob bleiben oder nicht, die liebe wieder einen sinn bekommt. sie sich dadurch gleichsam vertieft. weil alles, was ich mir zugestehe, ich auch dem partner zugestehen muss / soll. so ist das bleiben im grunde eine freiheit. kanns jetzt zu so später stunde nicht besser erklären.
ein abdruck der liebe - das ist geschickt formuliert. denn zum einen kann man lesen: es ist nur scheinbar eine liebe. innerlich jedoch ist - gezwungen durch das bleiben (selbstauferlegt) die liebe dahin. man kann aber auch lesen - so verstehe ich es eher - dass der prot durch dieses bleiben der liebe seinen stempel aufsetzt. auch das ergibt einen abdruck. die liebe drückt sich im bleiben aus.
gefällt mir sehr, max.
lieben gruß in die woche: Niko

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 04.06.2007, 16:15

Hallo Max,

ob gegenseitige Liebe oder liebgewordene Gewohnheit lässt sich hier nicht klar trennen. Er und Sie lieben sich hier wohl aus Gewohnheit, wie sie aus Gewohnheit anderes tun und lassen. Diese Beziehung hat etwas sehr Statisches, das wohl noch lange so bleiben wird. Das ist sehr gut rübergekommen.

Liebe Grüße
Marlene

pandora

Beitragvon pandora » 04.06.2007, 17:52

hallo max,

mir gefällt dieser schlichte text, weil er erzählt, eine szene entstehen und trotzdem meine gedanken wandern lässt.

ein paar dinge, die mir aufgefallen sind bei der wanderung:

- "Einmal stießen sie mit den Köpfen aneinander..." das nenne ich einen tollen auftakt. (denkanstoß???der berühmte schlag auf den hinterkopf, der zu verbessertem denkvermögen führt???) ich frage mich trotzdem, bei welcher gelegenheit dieser zusammenprall wohl stattgefunden haben könnte. beim waschmaschine ausräumen? oder, das gibt der text wohl eher vor, weil dann der allmorgendliche kuss erwähnt wird, im schlaf?beim aufstehen? beim sex? könnte man das enger anbinden an die szene?

- dies hier ist ein schöner satz: "Er würde einem Gedanken folgen, als sei das Leben in dieser Richtung ein wenig abschüssig." er lässt mich an den von bb in einem anderen zusammenhang geprägten begriff von den "mühen der ebene" denken. der alltag mit dreckiger wäsche, offenen zahnpastatuben und bartstoppeln scheint eine solche ebene zu sein und jede abschüssigkeit ein verlockendes abenteuer. dein protagonist muss sehr abgeklärter natur zu sein, ein "vernünftiger" vertreter seiner gattung, und das verlassen der ebene nicht einmal ansatzweise in erwägung ziehen. es bleibt beim gedankenspiel. aber ob das nun liebe ist? oder ein abdruck von liebe?

- "Beim Abendbrot schaltete er das Radio an. Mitunter schliefen sie danach miteinander. "(ich "übersetze": kommunikation findet auf der ebene nicht mehr so richtig statt. sex ist zu etwas geworden, das man eben "tut", weil man es tut. gewohnheitsmäßig.) das scheint mir nicht dafür zu sprechen. eher für eine unendliche leidensfähigeit. bequemlichkeit. oder anspruchslosigkeit. inkonsequenz.

lg
peh

Gast

Beitragvon Gast » 04.06.2007, 19:32

Lieber Max,

für mich erklärt sich dein Protag. die Liebe, mit den letzten Worten deiner Prosaminiatur.
"Wenn er bleibt, obwohl ... dann muss es wohl Liebe sein", was die Anwesenheit der Liebe aber für mich in Frage stellt. Darüber befinden kann und ich will ich aber auch nicht.
( ...und es sind die alltäglichen Banalitäten, die sich oftmals für die Liebe als Hemmschuh erweisen können ... das kommt nebenbei auch zur Sprache)
Mir gefällt der Text, denn er bleibt offen ohne beliebig zu sein.
Gern gelesen

Liebe Grüße
Gerda

Max

Beitragvon Max » 04.06.2007, 20:24

Liebe Leser (sowas wollte ich schon imme mal schreiben ;-) ),

ich möchte versuche, auf Eure sehr vielfältigen Kommenatre einzugehen.

Zunächst Zefira:

Ja, jetzt verstehe ich besser,w as Du meinst, ich hatte es eher auf den letzten Satz bezogen. Nur war es nicht meine Absicht eine klare Charakterzeichnung des Protagonisten vorzunehmen. Ich finde es dabei sehr spannend, dass jeder in diesem kleinen Text auch jeder eine Tendenz über den Charakter des Protagonisten herausliest.


Liebe Leonie,

was Du zum Gehen und seinem Grund sagst stimmt: ich könnte ja auch grundlos bei Rot über die Ampel gehen und mich totfahren lassen, das heißt aber nicht, dass mein Warten auf Grün grundlos wäre.

Und ich glaube, dass Du die Stimmung dieses Textes, diesen Versuch das "real und imaginär" auszubalancieren gut erfasst. Danke für Deinen Kommentar.

Liebe Elsa,

danke für das genaue Lesen und das Herauspicken der Sätze, bei denen ich evrsucht habe mir Mühe zu geben :-). Ich glaube in Deinem Jung-Zitat liegt ein Teil der Wahrheit (inneren) des kleinen Textleins verborgen.


Lieber Niko,

auch Du beschreibst sehr schön dieses Gefühl, in dem ich den Protagonisten stehen lassen möchte und freilich kann man fragen, ob das Liebe ist, was der Protagonist dafür hält und man kann und sollte vielleicht sogar noch weiter fragen: Wenn das nicht Liebe ist, was ist dann Liebe.

Genau, das liebe marlene,

und dass die Frage: Ist etwas Liebe oder ist etwas anderes, gar nicht klar entscheidbar ist, lese ich aus Deinem Kommentar.

Liebe Peh,

mit dem Auftakt hast Du recht, den könnte man noch besser anbinden. Lisa hat das bei dem "Aber er blieb" schon bemerkt (und ich habe mir redlich Mühe gegeben ;-) ), aber der Anfang hat natürlich auch verdient, in die kleine Situation eingebunden zu werden.

Es freut mich, dass Du Brecht zitierst, gerade die Mühen der Ebenen - seitdem ich als 18jähriger Loests Roman las, ist das eines meiner Lieblingszitate von Brecht. Es kommt auch dem sehr nahe, was mich u.a. zum Schreiben der paar Zeilen bewegt hat: Wenn Liebe nämlich nicht nur der Moment der Verliebtheit ist (natürlich ist es das nicht), wie äußert sich dann dieses theoretische Konstrukt in unserem Alltag. Vielleicht doch zuerst dadruch, dass wir einige Dinge nicht tun, die genauso möglich wären - natürlich geht die Liebe da mit der Masseträgheit (Anspruchslosigkeit, Bequemlichkeit, wie Du magst) eine Allianz ein, aber irgendwo da ist (oder war zumindest) auch mal Liebe. Hm, vielleicht sollte ich schnell hinzufügen, dass ich nicht falsch verstanden werden möchte. Ich halte das nicht für die Liebe, aber sie spielt da mit (ich glaube, besser als im text kann ich es nicht sagen ;-)).

Liebe Gerda,

das "offen ohne beliebig" freut mich besonders, denn das war mein Gefühl als ich ihn schrieb (und ich kann nicht damit am Wettbewerb teilnehmen, weil er 8 Zeichen zu wenig hat *grins*)

Liebe Grüße und danke allen fürs Lesen udn Kommentieren
Max

Max Dernet

Beitragvon Max Dernet » 05.06.2007, 14:18

Max hat geschrieben: Letztlich aber wäre sein Gehen grundlos. Er würde einem Gedanken folgen, als sei das Leben in dieser Richtung ein wenig abschüssig.


schöne skizze! und dieser satz - von so schöner präzision, dass er mit der trostlosigkeit des sachverhalts versöhnt

max D!

Klara
Beiträge: 4530
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 05.06.2007, 15:18

Hallo Max,

gut geschrieben! (Keine Kommentare gelesen)

Das An-die-Köpfe-Schlagen lese ich auch metaphorisch (klar). Als ein Vor-den-Kopf-Stoßen. Und als Kampf der Köpfe.

Ich würde die vermutete Sie-Perspektive (dass auch Sie gehen könnte) rausnehmen. Das scheint mir in dieser Kürze vorwegeilender Gehorsam gegenüber emanzipierten Leserinnen ,-) Unnötig. Bleib bei ihm. Oder führ es weiter aus, was sie täte, was sie nervt, was sie nicht zum Bleiben bewegt.

Es reicht nicht fürs Gehen. So lese ich den Text. Weil Veränderung einen Entschluss bedeutet, Beharren bzw. Bleiben auch ohne Kraftaufwand möglich scheint. Jedenfalls ohne die Verantwortung einer Entscheidung, einer Verletzung, eines Risikos.

Eigentlich klingt es trostlos.
Aber vielleicht ist es auch gar nicht trostlos, sondern nur so, dass die Liebe anders schmeckt, als erwartet: keine Mango, sondern ein Apfel? Schlicht und vertrauenerweckend - und manchmal dennoch vor den Kopf stoßend?

Letztlich aber wäre sein Gehen grundlos. Er würde einem Gedanken folgen, als sei das Leben in dieser Richtung ein wenig abschüssig.

Der Anschluss stimmt grammatisch nicht. Vielleicht ginge auch: ES würde einem Gedanken folgen...?

In diesem Bleiben vermutete er einen Abdruck seiner Liebe.

Das klingt sehr nüchtern.

Die allgemeine Nüchternheit hält Einzug in die Prosa-Ecke.

Da sehe ich übrigens - achtung und sorry: off topic! - einen neuen Trend: Noch wollen sie alle Herzschmerz und Swing und großen Kleister, doch hier im Blauen Salon ändert es sich schon in Richtung erneuerte Sachlichkeit. Die Literaten als Avantgarde. Denkt an meine Worte ,-)
(Alles Unsinn, es gibt sowieso alles, nur die Grundlinien sind mal hier mal da verstärkt)

Herzlich
Klara


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