1. Mai

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
scarlett

Beitragvon scarlett » 01.05.2007, 18:34

Im Pioniergleichschritt
der Sonne hinterher marschieren
den Hammer im Nacken
und aus den Sprechern
sicheln die Worte
rotgelbblau bewimpelte Träume –

Freundlich
winken die Fähnchen
in den Wind der Fanfare
und falsche Töne flattern
über weiß gestärkte Blusen
im Einheitsschnitt –

Zuckerwatte, Zusatzurlaub
verordnetes Lachen
im gläsernen Haus
uniformiertes Denken
und in den Jacken
das Herz ganz klein –
so klang für mich früher
der Maifeiertag aus


1. Version

Im Pioniergleichschritt
der Sonne hinterher marschieren
den Hammer im Nacken
und aus den LautSprechern
sicheln die Worte
rotgelbblau bewimpelte Träume –

Freundlich
winken nur die Fähnchen
im Wind der Fanfare
und falsche Töne flattern
über weiß gestärkte Blusen
im Einheitsschnitt –

Zuckerwatte, Zusatzurlaub
zerbrechliches Lachen
im gläsernen Haus uniformiertes
Denken und in den Jacken
das Herz ganz klein –
so klang für mich früher
der erste Maifeiertag aus ...

Änderungen aufgrund von Anregungen von Lisa, leonie und aram. Danke!


scarlett, 2007
Zuletzt geändert von scarlett am 09.06.2007, 20:04, insgesamt 2-mal geändert.

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Beitragvon leonie » 01.05.2007, 21:57

Liebe Scarlett,

Du lässt Bilder entstehen, die gut erkennbar und nachfühlbar sind, auch wenn man selbst solch einen Tag nicht in dieser Weise kennt. Dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmt an dieser Feierlichkeit, die man mitmacht, das kleine Herz als Fazit (trotz Zuckerwatte und Zusatzurlaub), das finde ich sehr gelungen.
Einzige Frage: Warum "der erste Maifeiertag"? Das klingt als gäbe es mehrere. Sonst würde "Maifeiertag" reichen, denke ich.

Liebe Grüße

leonie

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 02.05.2007, 12:02

Liebe scarlett,

politisch bin ich leider immer wieder nicht vor für Peinlichkeiten sicher - verzeih also bitte, wenn ich im Folgenden Dummheiten mit einmische (schlimmer ist nur noch Geographie, wo ich noch nicht war ;-)).

Dein Text kritisiert die Zelebrierung eines Feiertages eines kommunistischen Regimes. Das lyr. Ich ist noch Kind/oder jünger und fühlt die Zwiespältigkeit/das Unechte/das Gepresste, womit dieser (um zu betonen, dass das ja nicht jedes kommunistische Regime tun muss) kommunisitische Staat sich selbst feiert und (seine Bürger) konditioniert. Da wir uns ja schon öfter ausgetauscht haben, kommt mir diesbezüglich der Ostblock (mit Rumänien? aber so speziell muss es ja gar nicht sein) in den Sinn. Politisch ist es letzlich wohl auch egal, auf welches Konkretes der Text verweist, soll der Text aber auch historisch sein, würde ich im Titel das konkrete Ziel ansprechen (oder der Text spricht das irgendwo direkt an und ich erkenne es nicht, das kann sehr gut sein!).

Detailanmerkungen:

Diese Stelle ist mir noch zu wortspiellastig:


und aus den LautSprechern
sicheln die Worte

Denn das starke sichel geht durch das große S unter bzw. bewirkt zusammen mit ihm ein too much.

Wie wäre denn:

Im Pioniergleichschritt
der Sonne hinterher marschieren
den Hammer im Nacken
und aus den Sprechern
sicheln (laut) die Worte
rotgelbblau bewimpelte Träume –

(die Klammer ist natürlich kein Vorschlag, soll nur kennzeichnen, dass du es mit und ohne laut schreiben kannst).

Freundlich
winken nur die Fähnchen

Wimpel und Fähnchen sind in diesem Fall das gleiche, oder? Ich würde überlegen, das Bild nur einmal zu benutzen

im Wind der Fanfare

wie wäre denn statt "im" hier "in den", das würde die Anlehnung an den Konformausspruch noch verstärken?



Zuckerwatte, Zusatzurlaub
zerbrechliches Lachen
im gläsernen Haus uniformiertes

Hier könnte ich mir vorstellen die dritte Alliteration "zerbrechliches" zu streichen, das Glashaus liefert das stärker ohne zerbrechen (erinnert dann auch stärker an den Spruch "wer im Glashaus..."). statt gläsernen Haus kann ich mir auch Glashaus vorstellen...weiß allerdings nicht, ob hier nicht auch noch überwachungen bis im Haus angedeutet sind (der gläserne Mensch) - dann muss es natürlich bleiben.

Denken und in den Jacken
das Herz ganz klein –
so klang für mich früher
der erste Maifeiertag aus ...


Leonies Anmerkungen zum ersten Maifeiertag stimme ich zu. Hast du das vielleicht so gesetzt, weil es tatsächlich der allererste war, neu eingeführt? (Bestimmt eine der angekündigten dummen Fragen).

Kann sein, dass es solche Texte insgesamt schon viele gab (es ist zu hoffen!), für mich aber ist es hier eine schöne Erweiterung dieser Rubrik - das ist nochmal das Sahnehäubchen. Ich finde, dieser Text setzt die Wortspiele und Redewendungenanlehnungen angemessen und zielsicher an, ist nicht zu moralisch konkret und doch in der Aussage relativ klar. Das gefällt mir daran sehr gut.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

scarlett

Beitragvon scarlett » 02.05.2007, 12:40

Liebe leonie,

schön, daß dich dieser text anspricht - dass er auch jemandem, der das nicht erlebt hat, etwas von der damaligen atmosphäre vermitteln kann.

Bezüglich deiner (und auch Lisas) frage zum "ersten maifeiertag": ich dachte nur daran, dass es ja noch mehr feiertage im mai gibt, dieser da macht ja nur den anfang. Andrerseits - "damals" gab es nur diesen einen, offiziellen, andere zählten nicht (außer im privaten!).
So gesehen wäre es doch besser, die von dir vorgeschlagene wendung zu übernehmen. Ich werde das ändern.
Lieben dank dir fürs lesen und die gedanken dazu.

Liebe Lisa,

ob es wirklich eine "kritik" sein soll, ja schon, aber es ging mir letztlich darum, zu zeigen wie man/frau das damals erlebt hat: so ziemlich jeder wußte um die farce dieser aufmärsche und was damit verbunden war, ein kind/jugendlicher vielleicht noch nicht im gesamten ausmaß, aber immerhin...

Und ja, auf ein ganz spezielles/konkretes muß er nicht verweisen, aufmärsche gibt/gab es genügend...
Natürlich ist das in meinem fall jetzt zwar doch gegeben (das damalige regime in RO), aber das muß man nicht unbedingt wissen, so wie du das ja auch angedeutet hast.

Zu den detailanmerkungen:

sehr einsichtig das mit dem großen S in den lautsprechern. Deinen vorschlag werde ich gerne übernehmen und zwar mit dem "laut" - da bleibt die nähe zu den lautsprechern...

Wimpel und Fähnchen - hmm, ja haste wieder recht, ist das gleiche... Ich werde da wohl das "bewimpelte" durch ein einfacheres "geschmückte" ersetzen - wirkt sowieso schon zeimlich konstruiert, dieses wort - es sei denn, es fällt mir noch was besseres ein. Darüber denke ich noch...

Ebenso leuchtet mir deine erklärung zu "im Wind der Fanfare" ein - auch das werde ich dahingehend ändern.

Schwieriger wird es beim "gläsernen Haus" - da wollte ich tatsächlich die überwachungen, bespitzelungen auch in der privatsphäre doch anklingen lassen - es wird wohl bleiben, wohingegen die dritte alliteration mir mittlerweile auch wirklich entbehrlich erscheint - also weg damit.

Was den ersten maifeiertag anbelangt, s. o. - (übrigens: dumme fragen gibt es nicht, nur bei den antworten... :-) da bin ich mir nicht sicher)

Ich danke dir für die überaus detaillierte antwort und dass du den text gut findest, freut mich natürlich sehr.
Ob es viele solcher texte gab/gibt entzieht sich konkret meiner kenntnis - ich denke aber schon, zumal nach der "wende"... (aber da war ich schon längst weg).

Liebe grüße an euch beide,

scarlett

P.S. Änderungen folgen etwas später...

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 02.05.2007, 12:54

Hallo scarlett,

ich finde den Text in den Wortspielen und der Erzählebene auch sehr gelungen. Das einzige was mir nicht so sehr gefällt sind die flatternden Töne. Die kommen direkt hinter der Fanfare da find ich flattern nicht so angepasst. Fanfarentöne flattern ja nicht, die schmettern eher.

Vielleicht ist das zu technisch gesehen, ich glaub das war hier schon mal ein Thread, nicht alles eins zu eins auf die physikalische Ebene zu beziehen. Die Stelle ist im Verhältnis zum gesamten Text auch nur eine Winzigkeit. Wollts nur gesagt haben.

lG

reimerle

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Beitragvon Lisa » 02.05.2007, 13:27

Liebe scarlett,

ja, was das gläserne Haus und den konkret historischen Bezug betrifft, stimme ich dir zu! Beides muss dann so bleiben und ist auch gut so!

Zu den Wimpeln und Fähnchen: Wimpeln finde ich ja orgineller...bei Fähnchen aber vermisste ich das Wortspiel .../streicht du eins, vermisse ich also beides....Fazit: ich würde doch beides lassen...(manchmal merkt man es erst, wenn es droht wegzufallen).


Sagt man eigentlich - ich wollte es schon eben anhängen - sein Fähnchen in den oder nach dem Wind hängen? Ich bin gerade sehr unsicher....je nachdem, was gebräuchlicher ist würde ich abändern...

Liebe Grüße,
Lisa

edit: achso, wenn du nur den ersten Mai gegen andere Feiertage abgrenzen möchtest, dann schreib doch einfach ohne Feiertag 1. Mai?
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Beitragvon leonie » 02.05.2007, 21:10

Hallo zusammen,

Lisa, ich kenne "das Fähnchen nach dem Wind hängen".

Liebe Grüße

leonie

scarlett

Beitragvon scarlett » 02.05.2007, 22:01

Ja, liebe Lisa, liebe leonie,

es heißt tatsächlich das fähnchen nach dem Wind hängen/drehen...

Und jetzt hab ich wohl den Fähnchensalat...angerichtet is! (ozapft noch lang nicht ;-) )

Aber ich denke es kann sowohl so bleiben, wie es ist, oder geändert werden - ohne große Auswirkungen rhythmischer Art, inhaltlicher allerdings schon...

Ich denke noch...

Liebe Grüße,

scarlett

scarlett

Beitragvon scarlett » 03.05.2007, 10:15

hallo reimerle,

großes sorry! - ich hatte deinen kommentar glatt überlesen!

Hmm, dass die fanfare eher schmettert, ja, sicher... da haste recht. Ich dachte aber auch weniger an das aktive trompeten sondern daran, dass die einmal ausgestoßenen töne dann flattern, sich überall hin verteilen. Der wind trägt sie doch weit weg, manchmal weiß man gar nicht, aus welcher richtung sie kommen... so hatte ich mir das gedacht, aber wenn auch noch andere meinen, dass das nicht geht, dann werde ich mit einem tiefen seufzer meine alliteration aufgeben...

Hab lieben dank für deine rückmeldung und - bitte entschuldige nochmal die etwas späte antwort.

Liebe grüße,

scarlett

scarlett

Beitragvon scarlett » 04.05.2007, 07:59

Hallo,

es bleibt beim Winken der Fähnchen "in den Wind der Fanfare" - die Verbindung zum "sein Fähnchen nach dem Wind richten" ist mir hier nicht so wichtig - eher geht es mir um "viel Wind machen um etwas" im Sinne von etwas "aufblasen"...

Somit ist der Text, wie er in der zweiten Fassung steht, der endgültige.

Danke nochmals für die Beschäftigung mit diesen Zeilen.

Grüße,

scarlett

aram
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Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 01.06.2007, 13:26

liebe scarlett,

deine endgültige fassung gefällt mir sehr gut, bis auf wenige details, die ich störend finde: das "nur" in s2 z2 (ich meine, der leser sollte selbst 'hinter die fassade' blicken dürfen) und die zeile "uniformiertes denken" (halte ich für fragwürdig). der zusatz "laut" zu "sicheln" erscheint mir bildfremd, schwächend. auch finde ich s3 ein wenig zu lang, und den sinn der punkte am ende sehe ich nicht. - meine variante wäre also:


Im Pioniergleichschritt
der Sonne hinterher marschieren
den Hammer im Nacken
und aus den Sprechern
sicheln die Worte –
rotgelbblau bewimpelte Träume

Freundlich
winken die Fähnchen
in den Wind der Fanfare
und falsche Töne flattern
über weiß gestärkte Blusen
im Einheitsschnitt –

Zuckerwatte, Zusatzurlaub
verordnetes Lachen
im gläsernen Haus
und in den Jacken das Herz ganz klein –
so klang für mich früher
der Maifeiertag aus


diese bilder und beschreibungen finde ich gut und eindringlich, auch den klaren aufbau und die rhythmik.
"verordnetes lachen im gläsernen haus / und in den jacken das herz ganz klein" sind feine bilder, die mich sehr ansprechen (sieht du, ich hab nichts gegen 'herz' .-), die übrigen bilder ebenfalls.

auch die beiläufige nennung der rumänischen nationalfarben finde ich gut.

sehr gern gelesen.
aram
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

scarlett

Beitragvon scarlett » 09.06.2007, 20:02

Lieber aram,

da ich verreist war, kommt meine Antwort auf deinen Kommentar (über den ich mich übrigens sehr gefreut habe) erst heute.

Ich denke, du hast die letzten Kleinigkeiten in diesem Gedicht gefunden, über die nachzudenken es sich lohnt.

Zunächst was das "nur" anbelangt: ja, du hast recht, der Leser sollte selber hinter die Fassade blicken, ich habe halt befürchtet, daß das vielleicht zu schwach ist, ohne das "nur" und der Eindruck entstehen könnte, daß auch die Menschen fröhlich winken <(sie sind es ja schließlich, die die Fähnchen "bewegen").
Ich werde es trotzdem rausnehmen und darauf vertrauen, daß es richtig verstanden wird.

Das "laut" zu "sicheln" paßt tatsächlich nicht - das habe ich wirklich erst aufgrund deines Hinweises "gesehen" - (Betriebsblindheit *g*). Danke für diesen Hinweis.

Etwas schwieriger verhält es sich mit dem "uniformierten Denken": ich habe damit zum einen das für diesen Tag "verordnete" Denken und Agieren gemeint, zum anderen sollte es eine Anspielung auf die Uniformen sein, die an diesem Tag getragen wurden (siehe Pioniere in der ersten Zeile).
Daß die S3 etwas lang ist, damit hast du recht, aber so ganz mag ich mich noch nicht von der eine Verszeile trennen. Ich denke darüber noch nach.

Hab lieben Dank für deine Anregungen/Hinweise.

Herzlichst,

scarlett


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