Mit deinen Augen (Arbeitstitel)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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annette
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Beitragvon annette » 03.12.2006, 15:32

Als wärs ein Herbst

Als wärs ein Herbst wie jeder andre,
ziehn Vögel fort, entblättert sich der Baum.
Krähen sammeln sich in kahlen Ästen,
zum Flug entlang am Tagessaum.

Der Sommer steht als Marmelade,
datiert, versehn mit Etikett
in Einmachgläsern in der Kammer,
teilt sich mit Dosenfisch das Brett.

Stell auch den innerlichen Kragen auf
der Mantel riecht noch dumpf nach Schrank.
die Dunkelheit schwappt in die Tage,
macht die Gemüter schwer und krank.

Als wärs ein Herbst wie jeder andre,
der welkend schön den Sommer stahl.
Doch seh ich ihn mit Deinen Augen,
und Du siehst ihn zum ersten Mal.

----------------
Erste Version:

Als wärs ein Herbst wie jeder andre,
ziehn Vögel fort, entblättert sich der Baum.
Krähen sammeln sich in kahlen Ästen,
zum Flug entlang des Tages Saum.

Der Sommer steht als Marmelade,
datiert, versehn mit Etikett
in Einmachgläsern in der Kammer,
teilt sich mit Dosenfisch das Brett.

Stell auch den innerlichen Kragen auf
der Mantel riecht noch dumpf nach Schrank.
Nicht nur Hals, Nase, kalte Füße,
auch die Gemüter fühln sich krank.

Als wärs ein Herbst wie jeder andre,
der welkend schön den Sommer stahl.
Doch seh ich ihn mit Deinen Augen,
und Du siehst ihn zum ersten Mal.
Zuletzt geändert von annette am 04.12.2006, 20:44, insgesamt 3-mal geändert.

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leonie
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Beitragvon leonie » 03.12.2006, 15:50

Liebe Annette,

wie schön, jetzt ein Gedicht von Dir zu lesen. Und ein so tolles dazu. "Der Sommer steht als Marmelade...." das gefällt mir total gut. Ebenso "der welkend schön den Sommer stahl". Und die beiden letzten Zeilen rühren mich sehr an, weil ich dies Gefühl gut kenne und so schön finde.

Liebe Grüße

leonie

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 03.12.2006, 17:45

Liebe annette,

wie schön nun auch etwas von dir selbst zu lesen :-). Ich bin hier als Meckertante für Gedichte in Reim- und Strophenform bekannt; nicht, weil ich das nicht mag, sondern weil Mängel bei diesen sehr schnell den Lesegenuss zerstören. Um so schöner ein Gedicht dieser Art zu lesen (deins!), bei welchem das nicht so ist!!

Besonders toll finde ich:

Der Sommer steht als Marmelade
(hat leonie ja auch schon angemerkt). Solche Bilder lassen die Form lebendig werden.

aber auch durch Welken den Sommer zu stehlen gefällt mir sehr, um ein Beispiel zu nennen, warum der Text mir insgesamt gut gefällt.

Ein paar Winzigkeiten wären:

zum Flug entlang des Tages Saum


Der Genitiv wirkt auf mich zu unnatürlich, weil er dem Reim dient. Er zerstört etwas die Leichtigkeit und Lebendigkeit des Textes.

Stell auch den innerlichen Kragen auf
der Mantel riecht noch dumpf nach Schrank.<--dumpf ist nicht schlecht, aber noch nicht perfekt, finde ich als Beschreibung! Da gibt es noch was Besseres
Nicht nur Hals, Nase, kalte Füße,
auch die Gemüter fühln sich krank.
<--- diesen beiden Verse entzaubern ein bisschen die Leichtigkeit des Humors, wirken etwas...(minimal) albern und werfen ein Fleckchen Banalität als Schatten auf den Rest des Textes, dessen lyrisches Ich mir ansonsten so gut gefällt, weil es "klug" wirkt.

Ist mit dem Du ein Kind gemeint? (Wahrscheinlich eine dumme Frage)

Habe ich sehr gern gelesen!

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 03.12.2006, 19:00

Liebe Annette,

das ist Dein Erstling hier, oder?

Ich finde es einen der ganz beeindruckenden Einstände, die dieser Salon bislang gehabt hat. Du bevorzugst die klassiche Form mit Reim un Rhythmus und ich finde, dass Dir das Umsetzen dieser Form hervorragend gelingt. Dass der eingemachte Sommer (das sagst Du natürlich viel schöner) eine ganz besondere Formulierung ist, haben Dir ja schon die Vorkommentatoren geschrieben. Mich erinnert es ein wenig da die Gewinnerin unserers Wettbewerbs.

Liebe Grüße
max

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annette
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Beitragvon annette » 03.12.2006, 22:49

leonie, Lisa und Max: Danke für Eure lobenden Worte!
Lisa hat geschrieben:Ich bin hier als Meckertante für Gedichte in Reim- und Strophenform bekannt;


Nur gut, Lisa, dass ich das nicht vorher wusste ;-)

"zum Flug entlang des Tages Saum"
Lisa hat geschrieben:Der Genitiv wirkt auf mich zu unnatürlich, weil er dem Reim dient. Er zerstört etwas die Leichtigkeit und Lebendigkeit des Textes.


Du hast recht, wobei ich das Bild "Saum des Tages" für den Abend sehr mag. Aber "zum Flug entlang am Tagessaum" macht's kaum besser, oder?

Für die beiden "(minimal) albernen" Verse lass ich mir was einfallen - auch da muss ich Dir recht geben.

Lisa hat geschrieben:Ist mit dem Du ein Kind gemeint? (Wahrscheinlich eine dumme Frage)

Nicht dumm, aber: Ja, ein Kind.

Max: ja, der Text ist mein Erstling hier.
Max hat geschrieben:Du bevorzugst die klassiche Form mit Reim un Rhythmus und ich finde, dass Dir das Umsetzen dieser Form hervorragend gelingt.


Schön, dass es Dir gefällt. Bisher habe ich die klassische Form und insbesondere den Reim eigentlich eher gemieden - aus Angst, sie nicht angemessen einzusetzen. Hier ist es dann fast von allein passiert. Umso erleichterter bin ich, dass es auch stimmig ist.

Viele Grüße, annette

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annette
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Beitragvon annette » 03.12.2006, 22:52

P.S.: Was ich vergaß - da steht ja noch "Arbeitstitel". Ich war nicht ganz glücklich mit dem Titel. Was meint Ihr?
Zuletzt geändert von annette am 04.12.2006, 08:45, insgesamt 1-mal geändert.

Klara
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Beitragvon Klara » 03.12.2006, 23:01

Hallo,

mir kommts vor, dass der Titel paradoxerweise gleichzeitig zu viel verrät und zu weit ablenkt. Hm - spricht das nurn dafür oder dagegen... :confused:

Ich glaub besser fände ich, die erste Zeile als Titel zu nehmen, ohne sie zu wiederholen, nur fetten.

Oder: "doch seh ich ihn"

lg
k

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 04.12.2006, 14:19

Liebe Annette,

ein bezauberndes Gedicht. Vielleicht würde ich den Worten "stehen", "versehen" und "andere" noch jeweils ihr "e" zurückgeben. Nur weil es im Text steht, wird es ja dennoch nicht mit ausgesprochen.

Man könnte auch das "wärs" noch um einen Apostroph ergänzen. Aber das sind Kleinigkeiten.

Mir gefällt die Sommermarmelade ebenfalls sehr gut. Aber warum steht sie neben dem Dosenfisch?!

Grüße

Paul Ost

Max

Beitragvon Max » 04.12.2006, 18:51

Lieber Paul,
könnte ich marmelade kochen (oder wäre ich nicht zu faul dazu), so stünde sie bestimmt bei mir auch zwischen den Konserven - z.B dem Dosenfisch (das ist meines Wissenes keine Fischart ...).

Liebe Annette,

ich denke, dass "entlang am Tagessaum" es tatsächlich noch ein bißchen besser macht. Klaras Vorschlag, das Gedicht "als wärs ein herbst" zu nennen hat was ...


Liebe Grüße
max

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annette
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Beitragvon annette » 04.12.2006, 20:42

So, hab jetzt etwas nachgebessert: Ich hab mich für den "Tagessaum" entschieden und hab die Verse 3 und 4 der dritten Strophe geändert.

Paul: Danke für Deine Anmerkungen. Eins der fehlenden "e" hat sich in der neuen Version erledigt. Die anderen habe ich nicht ergänzt, weil ich "versehen" doch anders lesen würde als "versehn". "wärs" hab ich auch so gelassen. Erlaubt ist es ja mittlerweile so, und ich finde Apostrophe optisch nicht so schön.
Du fragst, warum neben dem Dosenfisch? Weil in meiner Speisekammer die Marmelade auch neben den Fischkonserven steht *grins*.

Klara hat geschrieben:mir kommts vor, dass der Titel paradoxerweise gleichzeitig zu viel verrät und zu weit ablenkt. Hm - spricht das nurn dafür oder dagegen


Ja, genau so hatte ich mir das gedacht, aber ich habe mich jetzt für Deinen Titelvorschlag entschieden. Danke!

Danke an alle fürs Lesen!
Gruß, annette

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 04.12.2006, 21:19

Liebe Annette,

offensichtlich lese ich das wirklich anders. Gerne würde ich Dein Gedicht in die Hörbar stellen, wenn Du mir das erlaubst?

Unabhängig davon: Geht es in dem Gedicht um eine Mutter, die nun mit ihrem Kind den ersten gemeinsamen Herbst erlebt?

Grüße

Paul Ost

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annette
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Beitragvon annette » 04.12.2006, 21:46

Paul Ost hat geschrieben:Liebe Annette,

offensichtlich lese ich das wirklich anders. Gerne würde ich Dein Gedicht in die Hörbar stellen, wenn Du mir das erlaubst?


Das erlaube ich sogar sehr gerne! :d040:

Ja, es geht um Mutter und Kind.
Ich habe den Herbst immer schon ganz besonders gemocht, aber jetzt, da meine Kleine mit ihren 10 Monaten und großen Augen in die Herbstwelt schaut, ist alles intensiver - und manches wie neu.

Ich freue mich sehr auf Deine gelesene Version meiner Zeilen.

Viele Grüße, annette

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.12.2006, 23:37

Hallo Annette,

ein sehr gelungenes Einstiegsgedicht!
Das Mutter-Kind-Gefühl kommt sehr gut rüber beim Lesen.
Bin schon gespannt auf die Hörversion ;-)
Saludos
Magic

Perry

Beitragvon Perry » 05.12.2006, 15:43

Hallo Annette,
ich bin zwar spät dran, möchte mich aber gerne noch in die Kommentatorenliste einbringen und dich zu diesem gelungenen Text beglückwünschen.
Zwei Anmerkungen von mir: Das "dumpf" könntest du ersatzlos streichen, weil es als lautbeschreibendes Wort nicht optimal zum Schrankgeruch passt. Außerdem passt dann auch die Silbenzahl der Reime.
Die letzte Zeile verhakt sich bei mir durch das "und Du" etwas. Da es sinngemäß nicht unbedingt notwendig ist, hätte ich dazu folgenden Vorschlag: "Doch sehe ich mit deinen Augen / dann ist es mir, als sähe ich ihn zum ersten Mal." Damit wäre auch die Wiederholung von "ihn" weg.
LG
Manfred


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