Ohne Zeichen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Klara
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Beitragvon Klara » 01.10.2017, 12:54

Ich kaue auf Geschichten Ich kau sie in mein Herz Ich
Kaue und kaue Halte mich fern von rasierten
Augen Stöpseln im Kopf und giftigen Ohren
Beiße auf knittrigen Zetteln Die Zappeln Im Gespräch
Schiebe ich sie von einer Wangentasche Verschlucke
Und lache und huste und höre Gesundheit
Oder Schweigen Ich kaue und kaue Die Welt
Bleibt ergebnislos Das Kauen mal leiser Manchmal
Schmatze ich Wenn niemand zu hören ist Eine Fugung
Dann könnte die Sonne aufgehen Als hätte sie
Drogen genommen oder Wild gegessen Sie könnte
Strahlen über neuen Sternen und alles was war
Tatsächlich vergessen lassen Dass wir nichts
Als Menschen sind Kreaturen Tiere Nichts als
Lebewesen mit mehr oder weniger Saat Einsam
Frei Vermittelt Sinnlos wie die Sehnsucht
Hungrig wie die Gier Hyperaktiv Im Grunde
Hypotaktisch Schutzbedürftig Mit steifen Knien
Um Vergebung bettelnd Was verheißt die Nacht?
Wüsste ich Könnte ich nicht schreiben
Wenn Verkaufen meine Finger rührte Meine
Gedanken leitete Stünde mein Kauen still
Würde der Buchstabe zu Kot Sünde Einzutüten Zu
Vernichten Effizienz amputiert Kappt jedes
Segel Nimmt jedem Wind den Atem Zerstört
Jedes Wort kaue ich ungerichtet

Quoth
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Beitragvon Quoth » 02.10.2017, 20:26

Hallo Klara, lange nicht gesehen, ich hoffe, es geht Dir besser, als dieser Text mich vermuten lässt.
Ein schwer zu deutender, vielleicht auch etwas wirrer Text, den ich mir vor allem durch Wiedereinfügung der Satzzeichen habe lesbarer machen müssen. Zentral für mich bestimmte Begriffe wie „sinnlos“ und „Vergebung“. Nun, es ist Sehnsucht da, Sehnsucht nach einer Sonne, die „über neuen Sternen“ strahlt und „alles, was war, vergessen“ lässt: Nach einem absoluten, sinngebenden Bezugspunkt (wie hieß er noch gleich?), vor dem wir mit „steifen Knien um Vergebung“ betteln und der zugleich der Gegenpol ist zu einer Welt des Verkaufens und der Effizienz, die Buchstaben (Sprache) in Kot verwandelt … Ein Schrei nach Sinn in einer verkommenen Welt des Deals! Das wäre mein Deutungsversuch, andere sind willkommen. Hier der von mir für mich lesbarer gemachte Text:

Ich kaue auf Geschichten. Ich kau‘ sie in mein Herz. Ich
kaue und kaue. Halte mich fern von rasierten
Augen, Stöpseln im Kopf und giftigen Ohren,
beiße auf knittrige Zettel, die zappeln. Im Gespräch
schiebe ich sie von einer Wangentasche [in die andre]. Verschlucke [mich]
und lache und huste und höre: „Gesundheit!“
oder Schweigen. Ich kaue und kaue. Die Welt
bleibt ergebnislos. Das Kauen, mal leiser, [mal lauter,] manchmal
schmatze ich, wenn niemand zuhört. Eine Fugung [Fügung?].
Dann könnte die Sonne aufgehen, als hätte sie
Drogen genommen oder Wild gegessen. Sie könnte
strahlen über neuen Sternen und alles, was war,
tatsächlich vergessen lassen. Dass wir nichts
als Menschen sind, Kreaturen, Tiere. Nichts als
Lebewesen mit mehr oder weniger Saat. Einsam,
frei, vermittelt, sinnlos wie die Sehnsucht,
hungrig wie die Gier, hyperaktiv. Im Grunde
hypotaktisch, schutzbedürftig. Mit steifen Knien
um Vergebung bettelnd … Was verheißt die Nacht?
Wüsste ich [es], könnte ich [es] nicht schreiben.
Wenn Verkaufen meine Finger rührte, meine
Gedanken leitete, stünde mein Kauen still,
würde der Buchstabe zu Kot, [zu] Sünde, einzutüten, zu
vernichten. Effizienz amputiert, kappt jedes
Segel, nimmt jedem Wind den Atem. Zerstört
jedes Wort. Kaue ich ungerichtet?


Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 03.10.2017, 10:30

Hm, das "kauen" ist zentral. Es geht um Verarbeitung oder wenigstens Vergessen. Es geht um den Selbstverrat, den LyIch vermeintlich "in Kauf nehmen" müsste um dieses Kauen loszuwerden von der Redewendung: "Ich kaue da immer noch drauf rum".
Ein intensiver Text, und -für mich- müsste es unbedingt in dieser zerkauten, zeichenlosen Setzung verbleiben, diesem Breiigen der damaligem Nahrung.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 03.10.2017, 11:04

Es stimmt, Nifl, ich habe das Kauen vernachlässigt, aber Du vernachlässigst auch was: Das beinahe offen Religiöse: Vergebung, Sünde usw., das im Brei schamhaft untergerührt wird - aber es ist da. Gruß Quoth
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Nifl
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Beitragvon Nifl » 03.10.2017, 11:26

Ja, richtig. Der Titel könnte ja auch schon die Folge einer Anrufung eines erlösenden Zeichens sein und findet weiteren Ausdruck in der sprachlichen Zeichenlosigkeit.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 03.10.2017, 11:52

Das Original ist übrigens nicht total zeichenlos. Das eine Fragezeichen war offenbar nötig, und verbleibt als Anstoß des Glaubens.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 03.10.2017, 16:31

Hallo Pjotr, ja, das Fragezeichen ist wichtig, obgleich ich nicht sicher bin, ob Klara es nicht übersehen hat, als sie die Zeichen eliminierte. Nicht übersehen hat sie das hinter der letzten Zeile, die zudem noch die Doppelsinnigkeit von "richtungslos" und "unverurteilt" hat. Ein Text, in dem es noch viel zu entdecken gibt. Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Klara
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Beitragvon Klara » 03.10.2017, 16:46

Hallo, ihr Guten!

Danke euch für euer Lesen.
Der Text liegt schon einige Zeit und hat gewartet, ob er mir noch gefällt - (mir geht es im Moment, weil neue Arbeit in Sicht ist, auf der keine oder zumidnest wenig Langeweile droht, so gut, dass ich mein eigenes Glücksgefühl misstrauisch beäuge: Das kann doch nicht wahr sein? Glücklich?? ICH?? Tagelang ???? Es ist schon so lange her, dieses konstante - zuverlässige! - Frohsein, dass ich gar nicht mehr wusste, wie wunderbar das ist. Beinahe - fast beinahe - fürchtete ich, nicht mehr zu wissen, wie das geht! Und nun schließe ich den Herbst in den Arm, herbeigesehnt, doch mit der landesüblichen Melancholie, und lasse mich von ihm willig umarmen - hingegeben! Diese Jahreszeit liebe ich ich jedes Mal neu , aber im Moment - ein laaaanger Moment - fühlt es sich so an, klopfaufholz***, als wäre ich verliebt. Ist leider nicht "der Fall" ;) oder doch: verliebt ins Leben. Bin ich oft, aber natürlich nicht immer "glücklich" (was wäre das auch für ein Leben!), und manchmal kau ich dabei eben auf Dingen herum, die mir das Maul stopfen sollen, dann würge ich an einem Text herum, der zu kauen gibt.)

Freue mich über eure Gedanken und das Einlassen auf die akute (oder chronische?) Zeichenarmut.

herzlich
klara

Quoth
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Beitragvon Quoth » 04.10.2017, 17:48

Freue mich sehr über den langen, eingeklammerten Text, aus dem Deine Augen förmlich herausstrahlen! Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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