In Wirklichkeit

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Last

Beitragvon Last » 20.03.2017, 12:10

In Wirklichkeit

Sie habe es
nicht anders gewollt,
heißt es von der,
mit der
etwas getan wurde,
was sie nicht wollte.

So muss es
wohl gewesen sein,
denkt manchmal die,
mit der
etwas geschehen ist,
was sie geschehen ließ.

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Werner
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Beitragvon Werner » 23.03.2017, 15:37

klingt sehr umständlich und verquert ... gerüchteküche, aber ein gedicht?

Niko

Beitragvon Niko » 23.03.2017, 16:44

Klingt für mich völlig schlüssig. Ich denke dabei an sexuellen Mißbrauch und der Text funktioniert diesbezüglich für mich zu 120%.
Gefällt mir sehr. Vor allem auch die etwas andere Nuance, die die zweite Strophe ins Spiel bringt.
Volltreffer......Für mich!

Danke!

Herzlichst - Niko

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Werner
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Beitragvon Werner » 23.03.2017, 18:14

ich dachte auch mal kurz an sexuellen missbrauch oder vergewaltigung, aber verwarf den gedanken wieder, denn dafür ist mir der text nicht ernsthaft genug, zu beliebig und unverbindlich, zu vage. außerdem scheint mir dieses thema durch den text nicht erschließbar. also zu so einem thema muss mehr kommen als eine unklare andeutung. alles andere grenzt sonst an verharmlosung. nein, das funktioniert nicht, schon allein sprachlich nicht.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 23.03.2017, 19:00

Hallo Last, die Idee finde ich ganz gut (wenn auch nicht neu, aber das macht nichts, das Rad müssen wir hier ja nicht neu erfinden). Aber die Umsetzung finde auch ich noch nicht geglückt. Vor allem stört mich die letzte Zeile, die verdreht und verharmlost für mich das Geschehen extrem.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 23.03.2017, 19:14

Für mich sind es zwei Szenarien.
Zum einen ein Vergewaltigungsopfer und zum anderen das Opfer des zu Unrecht Beschuldigten.
Ich finde den Text gelungen, da er gegenüberstellt, aber nicht gegeneinander ausspielt. Und durch die große Erzähldistanz und Nüchternheit, wird doch überhaupt erst diese Betrachtung möglich.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 23.03.2017, 19:19

Das Gedicht demonstriert auf originelle Weise das Paradoxon des sogenannten freien Willens (den ich schlicht Wille nenne, ohne Adjektiv).

Wenn man etwas, das man nicht will, dennoch geschehen lässt, dann nur deshalb, weil entweder ein auswegloser Zwang vorherrscht, oder weil noch schlimmeres droht.

Soweit ist alles eindeutig. Aber:

Wenn ein auswegloser Zwang vorherrscht, kann man nicht sagen, man ließe es geschehen. Denn man hat ja keine Wahl, und außerdem zum Lassen keine Erlassensmacht. Wenn es regnet, kann ich nicht sagen, ich sei es, der es regnen lässt. Ich habe keine Macht darüber.

Und wenn noch schlimmeres droht, kann man zwar sagen, man ließe das weniger schlimme geschehen, weil man wählen kann. Aber außerhalb dieser Situation zielt der Wille nicht auf das, was geschehen wird, sondern auf die Wahl des geringeren Übels in diesem Moment. Moralisch betrachtet ist es unfair, zu sagen, der Wille sei immer so ausgerichtet. Er ist es im Allgemeinen nicht. Er ist es nur in diesem speziellen Moment, unter Strafandrohung. Die Situation zeigt aber das paradoxe im Konzept der sogenannten Willensfreiheit: Man will immer das geringere Übel. Daher gibt es nie wirklich eine Wahl. Und deswegen kann von freiem Wollen eigentlich niemals die Rede sein. Eigentlich. Ich finde das Gedicht geistreich im Inhalt und klever in der Form.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 23.03.2017, 21:54

Nun wurde ja hier sexueller Missbrauch angesprochen. Gut, wenn wir dabei bleiben, stellen wir uns ein Mädchen auf dem Dorf vor, das in aufreizender Kleidung zum Dorffest geht, und vergewaltigt wird. Dann sagen die Leute „Sie habe es ja nicht anders gewollt“.
Liest man den Satz um das Paradoxon des freien Willen Willens, taugt er nicht. Denn was soll heißen „anders“ in dem Satz. Könnte ich ja auch drunter verstehen: Ein Omchen geht in den Wald, in der Hoffnung vergewohltätigt zu werden. Nun nimmt sie einer von hinten, obwohl sie es von vorne gewollt hatte. Und sie beschwert sich bei der Polizei. Die fasst den Täter und der sagt, sie habe es nicht anders gewollt. Zu diesem Beispiel würde die zweite Stophe aber nicht passen, wo gesagt wird, dass sie manchmal denkt, dass es wohl so war. Klingt mir überhaupt so, als habe die Frau aufgegeben, gegen das „Gerücht“ der anderen anzugehen, und eben dies mit sich geschehen lässt, obwohl sie es nicht will. Und da ist es eben nicht so, dass sie dies tut aus einer Zwangslage heraus. Sie könnte sich genauso gut dagegen wehren.

LG Kurt
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 24.03.2017, 04:19

Ja, auch wenn man das vorgeworfene Wollen zuweist auf einen vermeintlichen Willen zum Aufreiz anstatt auf einen angeblichen Willen zum Missbrauchtwerden, geht selbiger Vorwurf daneben. Denn jeder vernunftausgestattete Mensch adressiert seinen Aufreiz nur an diejenigen Menschen, die ihm gutes tun. Böses ist nichts gutes. Wenn ein Mensch dennoch zum Bösen aufreizt, obwohl er das Böse nicht will, dann ist seine Vernunft ausgeschaltet, und damit auch sein Wahlprogramm. Von Wille kann dann auch nicht die Rede sein.

Die Gegenargumentierer sagen typischerweise, das Opfer wisse doch um das Risiko des Aufreizes; wenn man in die Wildnis gehe, wisse man doch, dass Nashörner einen aufspießen könnten. Das stimmt. Man kann einem Nashorn kein Verbrechen anhängen. Trotzdem haben die Gegenargumentierer hier ein Problem: Sie setzen ihren Intellekt gleich mit dem eines Nashorns. Damit disqualifizieren sie sich als Mensch und müssen aus Sicherheitsgründen in den Zoo gesperrt oder in der Savanne ausgesetzt werden. Oder sie qualifizieren sich als Mensch, aber dann sind sie auch verantwortlich für ihr Verbrechen, und müssen aus Sicherheitsgründen in den Knast.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 24.03.2017, 05:50

Mir vermittelte das Gedicht? beim ersten Lesen und auch danach einen Spruch aus dem alltäglichen Leben: Du hast es ja nicht anders gewollt. Und ein Betroffener sagt dann: Ich glaube es manchmal selbst. Und ich habe nicht als erstes an sexuellen Missbrauch gedacht; ehrlich gesagt hatte ich keine Lust mir ein konkretes Beispiel aus dem Alltag zu suchen. Das wäre Aufgabe des Dichters gewesen, mir dies anschaulich zu präsentieren. Ihr, die ihr nun was „Interessantes“ hineingedichtet habt, habt euch nun selbst zu Dichtern gemacht. Aber das ist in Schreibforen nichts Außergewöhnliches.

LG Kurt
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Niko

Beitragvon Niko » 24.03.2017, 09:32

Das wäre Aufgabe des Dichters gewesen, mir dies anschaulich zu präsentieren. Ihr, die ihr nun was „Interessantes“ hineingedichtet habt, habt euch nun selbst zu Dichtern gemacht. Aber das ist in Schreibforen nichts Außergewöhnliches.


Ich denke, da irrst du, Kurt! Kunst zwingt nicht auf. Sie lässt jedem die Wahl. Mein Spruch ist ja:"Es kommt nicht darauf an was ich schreibe, sondern darauf, was jeder einzelne Leser in den Worten liest."
Gedichte, die mir klar und deutlich das Thema schildern, sind mir in der Regel zu oberflächlich. Ich will im Text spüren, Emotionen wachrufen lassen. Vorgekautes schmeckt zum kotzen.
Ich finde, last hat in dieser Hinsicht ein gutes gedicht geschrieben. Und ich halte den Inhalt und die art der Präsentation alles andere als zu oberflächlich oder etwas in der Art.

Herzlichst - Niko

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Werner
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Beitragvon Werner » 24.03.2017, 09:46

also, hier eine vergewaltigungsdebatte oder über sexuelle übergriffe auszubreiten, finde ich völlig daneben, noch dazu in den bekannten argumenten, die oft klischees sind, und fast ausschließlich von männern, hier diskutieren fast nur männer (die sich m.E. besser aus solchen themen heraushalten und mehr an sich arbeiten sollten, wenn sie hormonell überlastet sind. aber das nur am rande.). der text in seiner großen vagheit und damit belanglosigkeit / beliebigkeit, kann thematisch auch ganz anders angesiedelt sein und gibt diese debatte, die aus dem text heraus auch ein irrweg sein kann, nicht her. ich finde es schade, an einem schlechten und undifferenzierten, alles offen lassenden text, dinge herauszulutschen, die nicht drin stehen. das eben macht für mich die sehr große schwäche des textes aus. zudem sich der autor selbst nicht weiter äußert. fazit für mich: schlechter text, fragwürdige debatte darum!

Last

Beitragvon Last » 24.03.2017, 10:37

Hallo zusammen,

hier ist ja was los. Danke euch allen für die konträre Diskussion!

Ich habe den Eindruck, dass hier hauptsächlich etwas spaltet, was ich mit Textarbeit (für dieses Gedicht) nicht flicken kann.

Hier bestehen Anforderungen, die überhaupt nicht erfüllt werden. Es fehlen lyrische Bilder und sprachlich gibt es keine besonders auffälligen Stilelemente und so ist das ein sehr abstraktes Gedicht (ich sage absichtlich abstrakt und nicht vage). Wer dann sagt, das alles fehle ihm, dem kann ich nur antworten: stimmt.

Einige Dinge sehe ich aber anders.

Erstens funktioniert dieses Gedicht - ohne die genannten Anforderungen zu erfüllen. Von dem, was ich emotional und weltanschaulich vermitteln wollte, ist bei manchen Lesern sehr viel angekommen. Nein, das ist nicht weit hergeholt oder herausgelutscht, sondern genau das, worum es hier geht.

Zweitens verharmlose ich hier nicht. Insbesondere den letzten Vers empfinde ich eher als schonungslos, weil er ja genau das tut: verharmlosen und verdrehen.

Meine dichterische Leistung besteht hier in der sehr präzisen Sprache und der radikalen Verdichtung. Ja, es geht um Vergewaltigung. Aber auch: ja, hier steht überhaupt nichts von Vergewaltigung. Wie kann das sein? Ja, hier geht es um Opfer als angebliche Täter und um Täter als angebliche Opfer. Ja, hier geht es um Klischees (gerade deshalb funktioniert der Text). Ja, hier geht es um den widersprüchlichen Willen ...

Da die Rückmeldungen so konträr sind, habe ich den Eindruck, dass dieses Gedicht in sich stimmig ist und somit entweder als Ganzes funktioniert oder scheitert. Ob das Gedicht allein Anreiz für die äußerst gelungenen Interpretationen war oder ob diese eher im Widerspruch auf die deutliche Kritik entstanden sind, lässt sich wohl schwer entscheiden (auch das ist mir bewusst). Zumindest gehe ich jetzt nicht hin und versuche den Text so umzubauen, dass er den Kompromiss aus Scheiße und Volltreffer bildet (der wäre dann wirklich zum Gähnen).

Niko

Beitragvon Niko » 24.03.2017, 11:05

Würde man einen Volltreffer nochmal nachjustieren, wäre er ein Schuss ins Leere, last!


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