Brehm schreibt (1863)*) über Löwen: „Trägheit, mehr als das: ausgesprochene Faulheit ist ihnen angeboren“, beschreibt im weiteren Verlauf seines Artikels, wie der Löwe jagt, und fügt hinzu: „Es erscheint merkwürdig, daß sie (die große Raubkatze) den benzinduftenden Wagen ignoriert, wie die Rundfahrten durch die Reservate beweisen, was z.B. auch die Fotos zeigen, die vom Informationsdienst des Krüger-Nationalparks in Transvaal den Reisebüros zur Verfügung gestellt werden. Auf diesen Bildern sieht man immer wieder imponierende Löwenmütter mit ihren halberwachsenen Kindern mitten zwischen stehenden und langsam dahinrollenden Autos. Auch geruhsame Löwenpaare werden gezeigt, wie sie – hingestreckt im sonnenbeschienenen Sand der Fahrstraße – den Verkehr in Gottes eigenem Tiergarten, wie die Farbigen den Krügerpark nennen, blockieren und für Stunden lahmlegen …“
Was Brehm nicht beschreibt, vielleicht weil er es damals wirklich nicht wusste, ist das mitunter dramatische Familienleben der Löwen. Als Besucher des Krügerparks hat man vermutlich Glück, wenn man überhaupt Löwen bei irgendeiner Tätigkeit zu sehen bekommt, denn sie schlafen tatsächlich achtzehn Stunden am Tag (wie der Guide mehrmals ironisch mit Geste zu den faul daliegenden Löwen bemerkte: „That’s what they can do best“). Mit Glück beobachtet man die Löwen beim Fressen, oder unmittelbar danach beim Verdauungsschlaf in der Nähe der zerpflückten Beute. Mit außerordentlichem Glück beobachtet man sie beim Trinken und anschließendem Markieren des Reviers, denn – so steht es jedenfalls in meinem Reiseführer – Löwen brauchen eigentlich so gut wie gar kein Wasser, das Blut der Beutetiere genügt, um ihren Durst zu löschen, und Wasser trinken sie nur, um anschließend irgendwo hinzuspritzen.
Wir hatten sehr großes Glück und fanden zwei Löwinnen, die so fett gefressen waren, dass sie nicht mal auf der Seite liegen konnten; sie lagen mit gespreizten Beinen auf dem Rücken, von der Anstrengung des Verdauens hechelnd wie Hunde. Sie hatten einen Wasserbock geschlagen; der abgerissene Schwanz lag ein paar Meter weiter im Gebüsch. Sie hatten keine Kinder. Die Größere von ihnen, bemerkte der Guide in resigniertem Ton, hätte schon zwei Würfe verloren. Vom letzten Wurf sei eines verhungert, das andere durch einen aufgebrachten Büffel zu Tode gekommen, und – fügte er hinzu -, leider sei die Löwin auch keine besonders gute Mutter gewesen.
Der Löwin, die faul im Sand lag, war nichts anzumerken; ihre Geschichte war über sie hinweg gegangen wie der Wind, der die Trittspuren im Sand verwischt.
Obwohl die beiden so fett waren, dass sie sich kaum rühren konnten, stand eine von ihnen auf und machte sich erneut ans Zerlegen der Beute. Die Beine (bis auf ein Hinterbein) und der Unterbauch waren schon weg; nun nahm sich die Löwin den Hals vor und zog schweratmend ein paar weißliche Röhren heraus. Ich fragte mich, ob diese Aktion überhaupt einen Mehrwert für ihren Organismus haben konnte. Das Fressen allein schien mir so anstrengend, dass sie wahrscheinlich alle dabei aufgenommenen Kalorien sofort wieder verbrauchte.
Am nächsten Tag sahen wir sie wieder, fast eine Fahrstunde von ihrem alten Platz entfernt. Ihre Gefährtin, ihre Schwester, war nicht dabei, dafür ein junges Männchen. Sie lagen nebeneinander an einem Wasserloch. Das würde sich noch mindestens einen Tag lang hinziehen, meinte der Guide. Während wir sprachen, stand Herr Löwe auf, wandte sich der Dame zu, biss sie kräftig in den Nacken und legte sich über sie. Es dauerte nur Sekunden. Er gab ein atemloses Grollen von sich. Im nächsten Augenblick lagen beide wieder nebeneinander im dürren Gras.
Wo die Schwester Löwin sei, fragte ich. Ach, die sei wahrscheinlich weit weg, aber die beiden würden wieder zusammen finden, das sei immer so. Wahrscheinlich in wenigen Tagen. Das Männchen sei neu, fügte er hinzu – erst vor kurzem im Revier angekommen.
Wir hätten Glück, so etwas zu sehen zu bekommen, meinte er, während er den Wagen wendete.
Am nächsten Tag, kilometerweit in eine andere Richtung, begegneten wir dem scheidenden König. Er war ein paar Jahre älter, aber, wie der Guide versicherte, immer noch in den besten Jahren, ungefähr acht Jahre oder so. Er war gewaltig, muskulös, gut genährt, mit dunkler Mähne. Zwei Jeeps folgten ihm bereits, unserer war der dritte. Ja, sagte der Guide. Der müsse nun gehen. Die Jüngeren – das Männchen von gestern und sein Bruder – hätten ihm das Rudel weggenommen. Der Löwe verfolgte zügig, aber ohne Hast seinen Weg. Er sah nicht erfreut aus. Ich fand eher, dass er missmutig und frustriert aussah, ohne so recht zu wissen, woran ich das zu erkennen meinte. Erst später ging mir auf, dass ich noch nie einen Löwen so unbeirrt und ausdauernd dahingehen gesehen hatte. Es schien irgendwie gegen seine Natur zu sein, meinte ich und dichtete ihm einen entsprechend mürrischen Gesichtsausdruck an.
Drei Wagen folgten ihm wie Paparazzi, die Kameras klickten, bis der scheidende König einen Fahrweg überquerte und in den Busch eindrang, wohin ihm die Wagen nicht folgen konnten oder vielmehr durften, denn dort begann das Nachbarrevier, wo die Guides keine Lizenz hatten.

Was würde nun aus ihm werden? Ach, meine der Guide, er würde ein neues Revier finden. Er sei ja kein Greis, nicht wahr, immer noch in den besten Jahren. Nur müsse er jetzt erst mal zusehen, dass er fortkäme, denn die jungen Männchen, seine Nachfolger, seien ihm wahrscheinlich auf den Fersen.
Ausgewachsene männliche Löwen jagen nicht, hatte ich im Reiseführer gelesen. Die große Mähne mache sie schwerfällig und sei im Wege. Ich fragte mich, ob der Herr Löwe, der mit seinen acht Jahren offenbar mit jungen und knackigen Männchen nicht mehr mithalten konnte, wohl eine Chance hatte, eine neue Ernährerin zu finden.
Wie ich inzwischen weiß, ist es ein Gerücht, dass bei Löwens ausschließlich die Damen fürs Futter sorgen. Der Herr Löwe wird sich wahrscheinlich in Zukunft selbst versorgen und einer jener Löwen werden, die auf Werbeplakaten so königlich und alleinstehend mit dekorativ wehender Mähne im Gras liegen. Ich gönne es ihm von Herzen.
*) Datum des ersten "Tierlebens", Zitat stammt aus einer jüngeren Bearbeitung.