Zimmerökonomie

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Benutzeravatar
Mnemosyne
Beiträge: 1333
Registriert: 01.08.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mnemosyne » 20.09.2014, 17:10

Ich bin von Natur aus ein sehr nachdenklicher Mensch. Überdies versuche ich nach Kräften, auch meinen Einsichten gemäß zu handeln. Vor einigen Jahren versuchte ich nach bester Ab- und Einsicht, einer Mückenplage in meinem Zimmer durch ein ausgeklügeltes System Herr zu werden, dem gemäß ich gefangene und erlegte Mücken auf die in meinem Zimmer hängenden Spinnennetze verteilte. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den betreffenden Bericht:
viewtopic.php?f=40&t=10159&hilit=Zimmer%C3%B6kologie

Inzwischen bin ich überzeugt, dass ich die Sache damals ganz falsch angefangen habe. Mein naiver Versuch, vermeintliche Ungerechtigkeiten in der Teilhabe an Ressourcen durch gezielte Regulierungsmaßnahmen auszugleichen, führte nur zu einer Reihe immer komplizierterer, nicht aber gerechterer Systeme und endete schließlich in einem für alle Beteiligten (die Mücken vielleicht einmal ausgenommen) ebenso lächerlichen wie unerträglichen Zustand. Dank meines Freundes Adam weiß ich nun auch, wieso: Die ganze Idee der Regulierung war verkehrt. Es war nichts Ungerechtes darin, dass Spinnen mit kleinerem oder ungünstig platziertem Netz weniger fingen. Wenn hier überhaupt von Ungerechtigkeit die Rede sein kann, dann kam sie durch meine Einmischung in das natürliche Weben und Wirken überhaupt erst hinein. Nicht durch stets voreilige Eingriffe führt man den für alle besten Zustand herbei, sondern gerade dadurch, dass man sich solcher enthält und die Entwicklung dem freien Spiel der Kräfte überläßt.

Folglich sah ich von nun an davon ab, zwischen den Spinnennetzen Neuverteilungen der Beute vorzunehmen; auch meine wenig erfolgreiche Umsiedlungspolitik, mit der ich zuvor kaum bewohnte, aber sehr mückenreiche Areale - besonders die in der Nähe meines Gefrierschrankes - hatte bevölkern wollen, gab ich auf. Damit, selbst Mücken zu erschlagen hielt ich mich möglichst zurück: Letztlich, da war ich mir sicher, würde eine perfekt eingespielte Spinnenpopulation deren Zahl deutlich effektiver reduzieren als meine laienhafte Fuchtelei. Ich durfte ihr nur nicht die Möglichkeit nehmen, sich zu entwickeln, indem ich künstlich ihr Nahrungsangebot verringerte. Wo mir hier und da nach einem Stich dennoch die Hand ausrutschte, ließ ich das Erlegte rasch verschwinden: Es in eines der Netze zu legen, kam natürlich nicht mehr in Frage, und es auf fallen zu lassen hätte den handfesten Widersinn eines zwar bodenständigen, aber von meinem Protektorat abhängigen Parallelmarktes bedeutet.

So lebte ich eine Weile ganz zufrieden. Die Mücken kamen und gingen, hier und da wuchs über Nacht ein neues Netz in einer Ecke meines Zimmers, wurde ein altes aufgegeben oder feindlich übernommen. Das freie Spiel der Kräfte nahm seinen Lauf. Es lief, das wußte ich ja von Adam, hin zu unser aller Besten.

Als aber die Monate vergingen und sich die Zahl meiner Stiche nicht deutlich verminderte, kamen mir Zweifel: Konnte sich der Mückenmarkt in meinem Zimmer tatsächlich so frei entfalten, wie er es mußte um einen optimalen Zustand zu erreichen? Dass ich mir keiner Eingriffe mehr bewußt war, verwies womöglich nur auf mir in der Gewohnheit verborgene hin, die die Entwicklung dennoch hemmten. Einmal dabei, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Fenster! Besonders während der mückenreichen Monate hielt ich sie die meiste Zeit geschlossen, um mich vor gerade dem zu schützen, dessen es zum Aufbau einer effizienten Spinnenwirtschaft bedurfte. Durch diese restriktive Wareneinfuhrpolitik beraubte ich den Binnenmarkt wesentlicher Impulse und Ressourcen. Ich war ein Narr!

Doch stets bereit, aus meinen Fehlern zu lernen, hielt ich von nun an die Fenster konsequent geöffnet. Auch die Lichter schaltete ich bald in der Nacht nur noch aus, wenn es sein mußte - etwa weil ich schlafen wollte - und auch dann mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Und tatsächlich: Die Zahl der Spinnen wuchs, wie die Dichte des globalen Netzwerkes, und bald waren meine Zimmerdecken nahezu durchweg mit dem segensreichen Gewebe bedeckt.
Rätselhafterweise stieg zugleich auch die Zahl meiner Stiche ins schier Ungeheure. Natürlich mußte sich der Markt erst auf die neuen Freiheiten einstellen; doch als sich auch nach weiteren Monaten keine Besserung zeigte, wurde es überdeutlich: Der Spinnenmarkt hielt mit dem Wachstum des Ressourcenangebotes nicht Schritt. Ich hatte durch meine Maßnahmen zwar einen Gleichgewichtspunkt erreicht, aber bei weitem keinen optimalen. Was das für meine Maßnahmen hieß, lag auf der Hand: Sie waren nicht weit genug gegangen. Tatsächlich zeigte schon ein oberflächlicher Blick eine solche Vielzahl von Barrieren und Wachstumshindernissen, dass nur noch von einer radikalen Reform Abhilfe zu erwarten war.

Ganz billig war es nicht, doch die dringend nötigen Entscheidungen habe ich getroffen und umgesetzt. Das Abrißunternehmen hat rasch und effizient gearbeitet, und von dem fortschrittsfeindlichen Regulierungsdickicht ist nur noch ein Trümmerhaufen übrig, der allmählich Moos ansetzt. Gestochen werde ich noch immer, wenn auch weniger im Schlaf, da ich nicht mehr recht weiß, wo ich mich hinlegen soll. Insgesamt aber hat meine grundlegende Neuorientierung das lang ersehnte Ziel endlich erreicht. Das gründliche Denken und disziplinierte Handeln nach dessen Ergebnissen haben erneut Früchte getragen: Von einer Mückenplage in meinem Zimmer kann nun keine Rede mehr sein.

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 21.09.2014, 09:10

Hallo Merlin,

ja, klar erinnere ich mich! :) Schön, wie du hier die Geschichte weitertreibst und von der Ökologie zur Ökonomie verlagerst. Macht Spaß zu lesen. Beim letzten Absatz geht es mir ein bisschen zu weit, aber andererseits entlarvt er gerade darin natürlich noch einmal die Absurdität.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Benutzeravatar
Mnemosyne
Beiträge: 1333
Registriert: 01.08.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mnemosyne » 21.09.2014, 15:41

Hallo Flora,
danke für deinen Kommentar. Da ist dieses gewisse Zimmer in den Niederlanden, immer wenn ich da bin, kommt ein neuer Spinnentext heraus. :)
Die letzte Maßnahme ist tatsächlich etwas drastisch, spiegelt aber ungefähr meine Wahrnehmung des Libertarismus in seinen äußersten Spielarten wieder.
Liebe Grüße
Merlin

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 22.09.2014, 19:29

So, jetzt habe ich den Text gelesen.

Ich muss sagen, ich bin überwältigt!

Ich muss den Text nochmal lesen, aber meine Meinung steht fest: Durch eine aufmerksame Lektüre kann man dadurch mehr über Soziologie lernen als durch die Lektüre vieler Bücher.

Benutzeravatar
Mnemosyne
Beiträge: 1333
Registriert: 01.08.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mnemosyne » 23.09.2014, 16:39

Wow! Danke, dass du dich durch mich nicht von der Lektüre hast abhalten lassen und für den für mich sehr erfreulichen Kommentar (auch wenn ich mit Soziologiebüchern selbst wenig Erfahrung habe)!

Lyrillies

Beitragvon Lyrillies » 25.09.2014, 11:32

Hallo lieber Merlin,
das ist ein hübscher Text, finde ich :-) Der erste hat mir besser gefallen - wir auch Flora finde ich das Ende etwas übertrieben - aber nett ist er trotzdem. Und lustig. Gerade zusammen bilden beide Texte eine schöne Einheit. Lässt sich das noch auf mehr Dinge übertragen? Ich fände es lustig wenn du irgendwann ein Buch rausgeben würdest, voll mit solchen Spinnentexten und jeweils anderen Überlegungen dazu, wie man mit den Spinnen umgehen könnte :mrgreen:

Benutzeravatar
Mnemosyne
Beiträge: 1333
Registriert: 01.08.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mnemosyne » 25.09.2014, 16:36

Liebe Ellie,
mit "Die Bestimmung des Menschen" ( viewtopic.php?f=40&t=12533&hilit=Die+Bestimmung+des+Menschen+fritz )als drittem Text im Bunde ist für diese Sammlung von Spinnereien ja schon eine solide Grundlage geschaffen. Wenn ich im gleichen Tempo weiterarbeite, dürfte das Erscheinungsjahr um 2034 liegen. :)
Herrliche Grütze
Merlin


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 6 Gäste