Die Geschichte der Blue Jeans

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 22.07.2013, 07:17

Früher, ...

ja früher war die Luft dunkel in den Hosenläden. Nachtblau gefüllte Regalkulissen. Steif waren sie auch, die Hosen, in diesen Brutstätten; hatten noch kein Licht gesehen, kein Leben gelebt.

Leben eingehaucht bekamen sie erst durch ihre Träger. Ja, nein, nicht Hosenträger, durch den hosentragenden Menschen. Oftmals mit Gürtel, sicherlich.

Im Laufe ihres Lebens wurde eine Hose -- sie war robust -- weicher und heller. Kratzer, Schürfungen, Löcher taten sich auf. Stetig mehr, bis ins hohe Alter.

Eine gelebte Hose war wie ein Buch, wie ein Poesie-Album!

Wie Gipsbeine mit echten Autogrammen drauf. -- Mm nein, der Vergleich hinkt.

Jedenfalls: Hinter jeder dieser Narben steckte eine wahre Geschichte!

So war das.

Heutzutage, ...

ja heutzutage hat die Hose im -- hellblauen -- Laden ihr Leben schon vorgelebt. Ihr vermeintliches Leben.

Heute wird die Hose von ihrem Träger nicht mehr zum Leben erweckt, sie wird adoptiert. Wenn sie im gehbaren Alter ist.

Die Adoption ist einfach. Man muss nicht mehr selbst durch die Erde robben, auf den Baum klettern, in den Teich stürzen. Die Identität ist schon fertig. Die Geschichten stehen schon fest.

Zum Beispiel die Geschichte von dem asiatischen Halbsklaven, der mit der Bohrmaschine den Stoff zerkratzte, im Akkord, zwanzig mal Hosenkratzen pro Minute. Vorne steht die Geschichte von jenem Asthmatiker, der mundschutzfrei die Hosenvorderseite sandstrahlte. Hinten die Geschichte von den Kindern, wie sie die Ätzflüssigkeit auf das Hosengesäß schmierten, um es aufzuhellen. Die Geschichte von der alten Frau, die angewiesen wurde, die Säure in den Fluss zu gießen, weswegen die Bauern mit zugehaltener Nase ihr Land verlassen mussten.

Mir fällt keine Pointe ein.




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2. Version, inspiriert durch Nifl, Gabriella, Flora:


Lieber Siegfried,

war gerade Milchholen bei der Sennerin. Habe auch in den neuen Hosenladen geschaut. Muss schon sagen, heutzutage ist die Luft dunkel in diesen Läden. Dunkelblaue Regalkulissen. Steif sind sie auch, die Hosen, in diesen Brutstätten; haben noch kein Licht gesehen, kein Leben gelebt.

Leben eingehaucht bekommen sie erst durch das Tragen, meinte die Marktfrau. Du musst die Hose ewig tragen bis sie endlich heller und weicher wird. Und die Schürf-Orden muss man sich auch alle mühsam selber besorgen.

Ach, Siegfried, ich will nicht klagen, trotzdem: Früher strahlten die Ladenregale in einem freundlichen Hellblau; die Hosen, wenn man sie aus dem Stapel zog, hatten schon einige Lebenserfahrung mitgebracht. Außerdem, und das muss man auch mal ganz klar sagen, hatten die Leute eine anständige Arbeit. Spezialisten mit Bohrmaschinen schürften die Hosen an exakt ausgeklügelten Stellen. Ästhetische Helligkeitsverläufe entstanden durch gezieltes Bleichen. Die Säuren liefen punktgenau in die Flüsse. Die Hosen wurden mit professionellen Werkzeugen sandgestrahlt.

Wir sehen uns also am Wochenende. Ich freue mich!

Deine

Brunhild, 20. Juli 2088







Edit: Datum auf 20. Juli zurückgespult. Danke, Gabi. Und Tippfehler beseitigt.
Zuletzt geändert von Pjotr am 23.07.2013, 21:49, insgesamt 4-mal geändert.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 23.07.2013, 18:42

Ich finde beide Version sehr cool, Pjotr, schon, weil ich die 1. genauso erlebt habe, die 2. werde ich nimmer abwarten können. Aber die 1., meine Güte! 1966 mit 16 hab ich endlich die Jeans gekriegt, die ich mir so gewünscht habe! Ich hatte kein Geld, meine Eltern waren der Meinung, so ein steifes Hosenteil in dunkelblau würde mich nicht kleiden, also schmuste ich mit einem ekeligen Jeansimporteur, dessen Gesicht voller Pickel war, und trug die Hosen stolz nach Haus. Meine Eltern habe ich schamlos belogen, dass ich sie von einer Freundin geschenkt bekommen hätte. Achja, das waren Zeiten...
Alternde Grüße
ELsa
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 23.07.2013, 19:15

Hi Pjotr,

mir gefällt die erste Version besser, auch wenn da dieser harte Cut vor dem letzten Absatz enthalten ist. Es kommt mir lebendiger vor.

Übrigens, bei der 2. Version kannst du unten schreiben: "Ich freue mich auf unser Wochenende morgen!" Der 23. Juli 2088 ist nämlich ein Freitag. ;-)

Liebe Grüße
Gabi

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 23.07.2013, 19:41

Interessant, der neue Blickwinkel.
Man könnte noch schließen: "Was machen diese Leute eigentlich alle heute? Leben von der Fürsorge, während wir Endkunden uns unsere Hosen selbst weichtragen müssen!"
Damit wäre wieder ein Bogen zur Gegenwart geschlagen, weil es ja auch in vielen Branchen einen verstärkten Trend zum Do-it-yourself-Kit gibt. Die letzten Handgriffe - Aufbau, Montage und nicht zuletzt die Endkontrolle - liegen in den zwei linken Händen des Verbrauchers.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.09.2013, 03:02

Die ARD hat gerade wieder diesen Film gezeigt. So habe ich in diesem Faden nochmal nachgesehen, ob ich den Link eigentlich reingesetzt hatte. Offensichtlich nicht. Also hier:

http://www.ardmediathek.de/wdr-fernsehe ... d=11880602

Ich benutze keine Tiernamen mehr für Dreck. Das ist keine "Sauerei" mehr, für das hier muss ein Wort erst noch erfunden werden.


P.


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