Auf dem Weg ins Museum traf ich vorhin Leni, sie ist noch mit einem ehemaligen hohen Tier der Gewerkschaft verheiratet, er heißt Victor.
Sie lief ohne Krücken, aber etwas vorsichtiger als früher, war auf dem Weg zur Wassergymnastik. Victor verließ sie vor drei oder vier Jahren, nach vierzig Jahren gemeinsamer Ehe, für eine etwas jüngere Frau. Victor selbst ist jetzt in Rente. Ich hörte ihn ein einziges Mal reden, in einer Streitfrage, und war so beeindruckt und gerührt, dass ich sofort in die Gewerkschaft eingetreten wäre, wenn ich nicht schon Mitglied gewesen wäre. Aber wie so oft bei solchen Führern, scheint es bei ihm auch privat nicht geklappt zu haben. Es hängt vielleicht mit dem Druck der Arbeit in der Öffentlichkeit zusammen. »Zu Hause hat er nie mit mir geredet«, klagte Leni. »Ich wusste nie, was er gerade dachte.«
Ein paar Mal hatte ich Victor zufällig in einem Café getroffen, wo er alleine die Zeitung las. Ich grüßte ihn höflich und er erwiderte den Gruß, aber ich sah, dass er mich nicht einordnen konnte. Was Leni ihm am meisten vorwirft, ist, dass er sie verließ und im Stich ließ, gerade als sie schwer erkrankte und fast gestorben wäre. Anfangs irritierte sie auch der Gedanke, ihn mit dieser Frau in Frankreich zu wissen, in dem Haus, das sie über zwanzig Jahre lang mit unsäglichen Opfern für ihr Rentendasein bezahlt und renoviert hatten. Ich habe das Gefühl, dass ihr das alles mittlerweile egal ist. Sie lebt ihr Leben, hat ihre Ruhe, erfüllt sich ihren Jugendtraum, Tai Chi zu lernen.
Vor einiger Zeit sah ich Victor mit einer Krücke laufen ... Und neulich mit zwei, genau wie Leni nach ihren Operationen. Das besprach ich mit ihr. »Es gibt doch eine Gerechtigkeit«, sagte sie und fügte hinzu: »Neulich war er bei mir, mit diesen Krücken. Als er die Treppe hinuntergehen wollte, stützte er sich auf beide Krücken, was lebensgefährlich sein kann. Ich zeigte ihm, wie man sie richtig benutzt, man stützt sich mit der linken Hand auf das Geländer und nimmt beide Krücken in die rechte Hand.« So hat er es gemacht, und als er ganz unten war, drehte er sich um und sagte zu ihr: »Danke.«
Ich sagte zu Leni: »Ich sehe es schon kommen, dass er zu dir hoch gekrochen kommt.« »Was?«, erwiderte sie, »ich will doch keinen kranken Mann!«
Victor
Schon wieder so ein Text ...
... kommt daher als sei er einfach mal so 'runtergeschrieben und dann wird bald gewahr, dass bereits nach den ersten fünf Wörtern der erste Eindruck schwer daneben war - das hoch kriechende ehemalige hohe Tier ist ein starkes Bild. Das wenige, das ich von den Gegebenheiten des französischen Rentenrechts erfahren hab, wirkt in der Tat nachvollziehbar beruhigend hinsichtlich des Hinweises, nun etwas vorsichtiger zu laufen als früher.
--
ein gelungener Text!
... kommt daher als sei er einfach mal so 'runtergeschrieben und dann wird bald gewahr, dass bereits nach den ersten fünf Wörtern der erste Eindruck schwer daneben war - das hoch kriechende ehemalige hohe Tier ist ein starkes Bild. Das wenige, das ich von den Gegebenheiten des französischen Rentenrechts erfahren hab, wirkt in der Tat nachvollziehbar beruhigend hinsichtlich des Hinweises, nun etwas vorsichtiger zu laufen als früher.
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ein gelungener Text!
Hallo Klimperer.
Heinzens Meinung deckt sich mit meiner.
Zum inhaltlichen:
Ich lese da eine Kurzgeschichte, die eine Atmosphäre um sich hat ähnlich einer Fabel oder eines Koans, oder eines kurzen Märchens, also wie etwas aus dem ethischen Fach; ein Text, der auf unterhalsame Weise beibringt, dass es Altruismus nicht geben kann, zumindest nicht in seiner herkömmlichen Definition, also im Sinn von absoluter Selbstlosigkeit, denn Selbst-Befriedigung steckt ja in jeder sozialen Tat.
Zum handwerklichen:
"..., dass ich sofort in die Gewerkschaft eingetreten wäre, wenn ich nicht schon Mitglied gewesen wäre."
Dramaturgisch finde ich die Reihenfolge der Nennung der Begriffe, Tatbestände und Möglichkeiten perfekt. Da ist eine kleine Pointe am Satzende, die nur durch diese Wortreihenfolge entstehen kann, glaube ich. Also, den Satz würde ich keinesfalls umstellen. Aber weiß jemand, wie man die Dopplung von "wäre" losbekommen kann? Wahrscheinlich niemand. Mir fällt absolut nichts ein. Vielleicht kann man den Satz wirklich nur so schreiben und nicht anders. Schade, dass das doppelte "wäre" so auffällt.
Ahoi
P.
Heinzens Meinung deckt sich mit meiner.
Zum inhaltlichen:
Ich lese da eine Kurzgeschichte, die eine Atmosphäre um sich hat ähnlich einer Fabel oder eines Koans, oder eines kurzen Märchens, also wie etwas aus dem ethischen Fach; ein Text, der auf unterhalsame Weise beibringt, dass es Altruismus nicht geben kann, zumindest nicht in seiner herkömmlichen Definition, also im Sinn von absoluter Selbstlosigkeit, denn Selbst-Befriedigung steckt ja in jeder sozialen Tat.
Zum handwerklichen:
"..., dass ich sofort in die Gewerkschaft eingetreten wäre, wenn ich nicht schon Mitglied gewesen wäre."
Dramaturgisch finde ich die Reihenfolge der Nennung der Begriffe, Tatbestände und Möglichkeiten perfekt. Da ist eine kleine Pointe am Satzende, die nur durch diese Wortreihenfolge entstehen kann, glaube ich. Also, den Satz würde ich keinesfalls umstellen. Aber weiß jemand, wie man die Dopplung von "wäre" losbekommen kann? Wahrscheinlich niemand. Mir fällt absolut nichts ein. Vielleicht kann man den Satz wirklich nur so schreiben und nicht anders. Schade, dass das doppelte "wäre" so auffällt.
Ahoi
P.
Hallo Pjotr,
herzlichen Dank für dein Lob.
Mir selbst ist diese Sache mit dem "wäre" schon aufgefallen, ich dachte, ähnlich wie du, ich lasse es so, quasi als Betonung, als Werbung ... Nun, wäre es möglich, das erste "wäre" einfach weg zu lassen? In der Lyrik ist das gang und gäbe ...
Ich wünsche dir einen schönen Samstag, ein schönes Wochenende.
Carlos
herzlichen Dank für dein Lob.
Mir selbst ist diese Sache mit dem "wäre" schon aufgefallen, ich dachte, ähnlich wie du, ich lasse es so, quasi als Betonung, als Werbung ... Nun, wäre es möglich, das erste "wäre" einfach weg zu lassen? In der Lyrik ist das gang und gäbe ...
Ich wünsche dir einen schönen Samstag, ein schönes Wochenende.
Carlos
... dass ich mich sofort der Gewerkschaft angeschlossen hätte, wäre ich nicht schon Mitglied gewesen ...
hätte - wäre, auch nicht schön, aber wenigstens nicht zweimal wäre.
lG Zefira
hätte - wäre, auch nicht schön, aber wenigstens nicht zweimal wäre.
lG Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Andererseits, manche scheuen nicht einmal ein doppeltes "hätte".
Hätte, hätte, Fahradkätte.
Auf den ersten Blick fand ich das gut, aber dann ... Das "wenn" nach dem Komma klingt irgendwie leichter und flüssiger (Klimperer-Stil) und schiebt die Pointe weiter nach hinten. Im Augenblick des "Wenn"-Lesens weiß ich noch nicht, dass da eine Pointe kommt, und das ist das Gute.
P.
Hätte, hätte, Fahradkätte.
... dass ich mich sofort der Gewerkschaft angeschlossen hätte, wäre ich nicht schon Mitglied gewesen ...
hätte - wäre, auch nicht schön, aber wenigstens nicht zweimal wäre.
Auf den ersten Blick fand ich das gut, aber dann ... Das "wenn" nach dem Komma klingt irgendwie leichter und flüssiger (Klimperer-Stil) und schiebt die Pointe weiter nach hinten. Im Augenblick des "Wenn"-Lesens weiß ich noch nicht, dass da eine Pointe kommt, und das ist das Gute.
P.
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