Ist der Teufel tot? Oder hat er selbst geschossen?

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Klara
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Beitragvon Klara » 04.05.2011, 11:38

Internes Protokoll einer unerwünschten Verweigerung

Die Nachricht – breaking news! – gibt Grund zur Freude.

(Oder?)

Ich bemühe mich aufrichtig. Ich will mich freuen! Ich muss! (Muss ich?)

Ich kannte den Mann nicht, und mir fällt ein, dass er von keinem Gericht als Schuldiger verurteilt wurde. Nun ist er tot. Sein Tod soll mir, mit all den Beweisen, Berichten und Bekenntnissen der Täter und Ankläger, als Beweis für die immanente Bosheit eines Menschen, dessen Unheilbarkeit und Nicht-(Re)sozialisierbarkeit reichen, soll die Notwendigkeit der Strafe, die keine ist, sondern ein Schießbefehl belegen. Da wird das Recht redundant, denn es ist von vornherein auf „unserer“ Seite. Ein Mörder weniger! Hurra!

Aber… – ach, dieses Aber, es erschöpft mich! Bin ich kleinlich? Sollte ich nicht endlich aufhören, so furchtbar kleinlich zu sein, furchtsam und schwach? Nicht länger all diese Zweifel hegen. (Oder?) Im Recht sein dürfen! Endlich nicht mehr diese lästigen Fragen stellen, die mich selbst am meisten quälen! Nur weil kein Richter das letzte Wort hatte, das gültige Wort, sondern eine Waffe, die den Segen der Mächtigen der Welt hatte. (Ist mein Zweifel an der Legitimität dieser Wortlosigkeit ein rein formaler?) Nur weil – ach, diese lästigen Details... – ohne Gericht und Schuldspruch nicht zweifelsfrei erwiesen ist, wen der Erschossene wann warum ermordet hat. Und ob. Und weil im Zweifel für den Angeklagten sogar bei Vergewaltigern und Kindsschändern gilt, solange sie eben nicht zweifelsfrei undsoweiter. Weil in einem Rechtsstaat nicht Unschuld bewiesen, sondern Schuld nachgewiesen werden muss, und all das mit guten, aufgeklärten Gründen, die eine lange Tradition haben, die es schwer genug hatten, sich durchzusetzen, es immer noch schwer genug haben – und nun also noch schwerer, nach diesem Todesschuss. Ich sollte aufhören, an der Rechtmäßigkeit oder zumindest, oweh, Legitimität dieses befohlenen Todes, dieser Vollstreckung zu zweifeln. (Sollte ich? Wer könnt mir das befehlen?)

Mit diesem Unbehagen fühle ich mich draußen . Sogar meine leidenschaftslose Kanzlerin freut sich öffentlich! Über den Tod! Ich versuche, mich gegen meine Abwehr zu wehren, mich zu freuen dass jemand tot ist, erschossen mit geballter Staatsgewalt, die gesamte freie Welt im Rücken. Ich sollte mich über den Sieg der Freiheit freuen. Mir gelingt jedoch nur Unbehagen, das wächst unter meinem Herzen, allem Unbehagen gegenüber dem Unbehagen zum Trotz. Ich prüfe mich: Bin ich kleinlich? Darf man das überhaupt? Jetzt, wo die Freiheit siegt? Die Guten eine Schlacht gewonnen haben? Darf man sich da – nicht freuen?

Ich erhalte Rückendeckung vom verwalteten Evangelium: Man dürfe sich als Christ nicht freuen, wenn jemand gezielt erschossen wurde. Ich lese: Der Mann war unbewaffnet, als die Schüsse ihn trafen. Und: Es wird keine Bilder vom Toten geben, sondern eine Versenkung im großen, schweigenden Meer. Pietät? Taktik? Strategie? Vorausschauende Vermeidung von Märtyrer-Huldigungen (die werden ohnehin ihre Stätten finden, so wie neue Waffen wachsen an neuen Händen, die neues Blut bringen)? Oder doch auch der Rest eines wie auch immer verworfenen, weil in Gewaltzeiten verwerflich gewordenen schlechten Gewissens, das mahnt, dass nicht Recht sein kann, was Tot mit Tod vergilt – ohne unabhängiges Gericht (auch wenn es kein unabhängiges Gericht der Welt gibt, nirgendwo auf der Welt, weil sie eine Idee bleibt, die Sache mit der Gerechtigkeit, eine dringend notwendige Idee bleiben muss!) Eines schlechtes Gewissens, weil kein Schuss von Kriegsbeteiligten frei von Rache sein kann – und weil Rache nunmal immer ein schlechtes Motiv ist – und verdammt noch mal bleibt und bleiben sollte! –, wenn es um Recht geht? Um Frieden, um Politik, um Heilung.

Ich wehre mich, doch die Fragen bleiben hartnäckig.
Wurde der Mann in einem Krieg erschossen? Gegen welches Land? In wessen Namen? Wer war der Mann überhaupt? Warum trug er so einen grauslichen Bart, einen verkehrten Weihnachtsmannbart? War er der Anti-Christ? Muss man Christ sein, um Unbehagen zu spüren statt Freude? Darf man auch Moslem sein? Oder reicht einfach nur „Mensch“? Wiegen Tote Tote auf? Ab welcher Zahl? Wie viele? Und wie lange noch lässt unsere geheiligte, unsere allzu anfällige Vernunft sich bieten, von Gewalt in ihrem Innersten bedroht zu werden, indem sie Gewalt mit Gewalt die Stirn zu bieten sucht, so hilflos dann beide!, und nicht etwa, Gott bewahre, die andere Wange hinhält! Wir sind doch nicht blöd! (Oder doch?) Wann hätte Gewalt je Gewalt besiegt, anstatt neue zu zeugen? In Wahrheit, meine ich, frage ich, nicht in der Propaganda, die jeden Krieg, jeden Sieg, jede Niederlage, jede Unrechtmäßigkeit begleitet.

Dummerweise hat der rechtsfreie Raum die Eigenschaft, sich gierig auszubreiten, je mehr Platz man ihm macht, in jedes Vakuum stößt er vor, nutzt jedes Gefühl hemmungslos aus, denn wenn jemand meinen Bruder tötet, will ich instinktiv den Brudertöter töten. Davon muss mich das Recht abhalten, damit nicht alle Brüder irgendwann tot sind. Dafür hat man das Recht erfunden. Die Aufklärung. Die heiligen Werte der Vernunft, der übergeordneten Menschlichkeit. Dafür, dass der rechtsfreie Raum sich nicht gierig ausbreitet, sondern so klein wie möglich in jeder Herzkammer klopfen muss. In jenem Individuum, dessen Rechte es zu verteidigen gilt, weil es sich bei all diesen Individuen um Menschen handelt. Ich fürchte: Das Individuum steht genauso wie die Freiheit auf dem Spiel mit diesem Sieg der Freiheit über die Vernunft. Der tote Mann wird über sich selbst hinauswachsen, ein Monster der Unfreiheit, uns zur Geisel nehmen, weil wir uns über seine Unrechtmäßigkeit freuen. Endlich wieder zuschlagen dürfen (Ein Feind!) (Dürfen wir?)

Für jeden getöteten Gewalttäter wachsen zehn neue nach; das ist wahrscheinlich wie mit den Besen, die der alte Hexenmeister gewesen machen muss, nur dass kein Hexenmeister in Sicht ist, nichts als kleinlaute Stimmen, Stimmchen, die sich nicht aus ihrer instinktlosen Ecke trauen, zu laut wüten all die Lehrlinge der barbarischen Aufklärung, die – ach, Dialektik, vergessene! – in ihrer Ohnmacht und Hilflosigkeit ihre eisernen Besen so gnadenlos überschätzen, dass sie all jene Werte, die sie zu verteidigen glauben, gleich mit auskehren, mit ihrer eisernen Hand.

Der Hexenmeister schaut zu, aus seinem stimmlosen Loch, wartet: Wie lange noch, ehe die „aufgeklärte Welt“ (der Westen, mein Gott!) wieder aufgeklärt handeln darf, anstatt Alternativlosigkeit zu behaupten?

Man ahnt, und man hat es immer wieder neu zu wissen: Die * Verletztlichkeit und Gefährdung des Rechtsstaats, der Demokratie gehören zu ihrem Wesen, darin liegt ihre Kraft: im Zweifel! Unsere eigene Verletzlichkeit als Mensch ist Bedingung für unsere Lebendigkeit. Vielleicht hat man ihn erschießen dürfen, weil er ein Zombie war, aber ich hätte es gerne korrekt. Ich hätte es gerne menschlich. Ich hätte gerne, dass das wieder zusammen gehört, auch in den Nachrichten, die ich lesen und hören muss: das Recht und das Rechthaben, das Menschsein und die Vernunft. So anspruchsvoll sollten wir sein, mit uns selbst, wir aufgeklärten Menschen, finde ich. Anmaßend im Zweifel bleiben. Das ist das Gegenteil von kleinlich! Andernfalls überlassen wir, mit jedem Schuss, der die Unabänderlichkeit behauptet, den zweifelsfrei Brutalen das Feld und werden – unabhängig von deren Motivation! – in die zweifelsfreie Brutalität des Terrors genötigt.

Also, man vergebe mir, freue ich* mich nicht, sondern fürchte mich, und hoffe weiter: dass die Hoffnung zuletzt stirbt.

[*mit Dank an ferdi für Hinweis auf Sprechblasen/Redundanz und ein "ich"]
Zuletzt geändert von Klara am 05.05.2011, 11:26, insgesamt 1-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.05.2011, 21:48

Hallo,

dass jemand für sich beschließt, jemanden aus was für Gründen auch immer zu töten - ja, ich kann mir vorstellen, dass jemand zu dem Entschluss kommen kann. Und auch, dass ich ... ja, wie beschreibe ich das: fühlen kann, warum das für ihn so sein muss. Mir geht es dabei auch nicht darum, jemandem Schuld oder Bösartigkeit oder sonstwas zuzuschreiben. Für mich spielen diese Kategorien keine Rolle, sind "leer". Und das beziehe ich nicht nur auf Attentäter in einem totalen System.

Aber mir ging es darum, dass ich glaube, dass mich nichts davon überzeugen könnte.

Schon gar nicht von einer Quintessenz, für mich ein Wort, dass doch mehr bedeutet als die Entscheidung eines einzelnen in einer bestimmten Situation.

Ich verstehe, dass es nach einer bestimmten Entwicklung es als das beste empfunden werden kann, wenn eine bestimmte, einzelne Person nicht mehr leben würde, weil dadurch tatsächlich ein entscheidender Unterschied bestände, große Ungerechtigkeit, großes Leid verhindert, geschwächt, beendet würde, wie auch immer.

Trotzdem finde ich die Frage, ob man es deshalb tun sollte auch zu diesem Zeitpunkt nicht entscheidbar, es ist für mich einfach keine Frage, die Sinn macht, gestellt zu werden. Weil ich die Perspektive dazu nicht verstehe.
Siehe etwa die Gegenargumente zum Utilitarismus.

Ich kann tatsächlich auch schon bei Hitler den Gedankenspielen, was wäre, wenn er nicht geboren worden oder bei dem und dem Attentat ums Leben gekommen wäre, nichts abgewinnen, darin keinen Sinn sehen. In mir entsteht diese Frage einfach nicht, weil ich so nicht auf das Problem schaue.

Ich sehe das wie mit den Wissenschaften: Da tauchen die meisten Probleme einfach dadurch auf, dass unheimlich schlechte Beispiele zum Modellbau bzw. Problematisierung der Probleme herangezogen werden. Andere Beispiele würden ganz andere Anschauungsräume erzeugen (die auch nichts wahres hervorbringen, aber etwas mir offeneres, weiteres, wichtigeres, es wäre für mich von Bedeutung). Wittgenstein empfinde ich etwa deshalb als so befreiend, weil er das Talent zu Beispielen hat. Er findet Beispiele, die mir etwas bedeuten, die für mich etwas treffen.

Diese Fokussierung der Problematisierung auf eine Person wie bin Laden oder Hitler entspricht nicht meiner Wahrnehmung. Auch nicht, wenn es soweit gekommen ist, dass fast alles tatsächlich konkret von einer Person abhängt. Ich sehe dann immer noch die Zeit, die verschiedenen Faktoren, persönliche Schicksale usw ... und ich denke auch immer noch an den Menschen bin Laden/Hitler oder: sie sind mir Menschen. Oder: sie sind mir keine Menschen mehr unserallerwegen.

Natürlich sind diese meine Wahrnehmungen durch meine luxeriöse Lage begründet. Keine Ahnung, wie ich das sehen würde, wenn ich zu Zeiten des Nationalsozialismus verfolgt worden wäre oder alles erlebt hätte, was Jürgen Bartsch erlebt hat.Trotzdem werden sie dadurch nicht hinfällig oder zweifelhaft.

Ich finde den Vergleich zwischen bin Laden und Hitler übrigens weniger sinnvoll. Vor allem, weil die Position der beiden, aus der heraus sie gehandelt haben, doch grundverschieden war. Ich finde wirklich nicht, dass es Sinn macht zu sagen: da stehen/standen wir vor einem ähnlichen Problem/Entscheidung. Im Grunde ist es doch nur das Ausmaß, das ähnlich ist, die Bedeutung, die den beiden zugeschrieben wird und da beißt sich eben die Katze in den Schwanz, meiner Meinung nach. Die "Fallanalyse" fiele bei mir sehr verschieden aus.

leonie:

Mich hat beeindruckt, dass er es nicht als "Recht" deklariert (wie das meistens der Fall ist), sondern als "Unrecht", dass er sich aber aus einer Haltung der Verantwortung entschlossen hat, an der Verschwörung mitzuarbeiten.


Ja, aber was bedeutet es denn dann, dass es unrecht ist? Was hat es für eine Bedeutung zu sagen, dass es unrecht ist? Ich meine das nicht als Vorwurf, sondern tatsächlich als Verständnisfage. Ich kann das nicht mehr verstehen, das Wort verliert für mich in deiner Wiedergabe von Bonhoeffers Standpunkt seine Bedeutung. (Mir selbst im übrigen kommt es glaube ich nicht besonders auf die Kategorie unrecht/recht an). Und dass es für ihn dann bedeutet hätte, dass er kein Pfarrer mehr hätte sein können, nun ja, ... ich verstehe, dass das für ihn ein existentielles Problem dargestellt haben muss, das für das Problem in seinem Verhältnis zu den Werten des Christentums ausgetragen werden musste, eben weil er Christ, Pfarrer war. Aber ich sehe das als sein ganz persönliches Problem und nicht als das eigentliche Problem, das Problem, um das es geht, hängt für mich nicht davon ab, ob man Christ ist oder nicht.

Den Radvergleich mag ich nicht. Ich empfinde ihn nicht als klug und als unangenehm.


Niko:

ein vergewaltiger und serienmörder, den sollte man, finde ich, einsperren und bei wasser und brot bis zum dahindämmern vegetieren lassen. ich habe kein mitleid mit einem menschen, der das leben anderer zerstört hat. und zwar unwiederbringlich und auf ewig.


Hier bin ich entschieden anderer Meinung. Ich sehe, dass zum Schutze anderer Menschen in vielen Fällen keine andere Möglichkeit bleibt, als jemanden in Gewahrsam zu nehmen (wobei es auch da viel auszutragen gibt). Aber sowas wie bei "Wasser und Brot" ist einfach - schlimm und falsch und gewalterhaltend. Für mich eine ganz falsche Sicht auf den Menschen und ein falscher Umgang mit den Problemen, die wir alle haben und erzeugen. Ist wirklich nur einer der Mörder?


liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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leonie
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Beitragvon leonie » 05.05.2011, 22:15

Liebe Lisa,

was bedeuten denn die Worte schlimm, falsch und gewalterhaltend für Dich?

So wie Du schreibst wirkt es auf mich, als müssten Deiner Meinung nach ganz andere Denksysteme erfunden werden. Und trotzdem muss man doch in den Vorhandenen kommunizieren oder es zumindest versuchen.
Ich könnte mir vorstellen, dass "unrecht" in etwas das bezeichnet, was DU als "falsch" benennst.

Für mich sind viele der Gedanken Bonhoeffers klug und wahrhaftig (als Gegenteil von "verlogen").

Denn in fast allen Fällen deklarieren Menschen doch ihr eigenes Tun als "Recht" und interpretieren dann lieber die Wirklichkeit um. Ich empfinde das zum Beispiel (um ein neues Fass aufzumachen) beim Thema "Hirntod" so und der Rechtfertigung, warum man dann Organe entnehmen darf. Ich finde, man soll da ehrlich bleiben, und sagen, sie werden lebenden Menschen entnommen und nicht toten.

Ich könnte wetten, dass sehr viele Amerikaner es als ihr "Recht" ansehen, Bin Laden getötet zu haben. Auge um Auge eben.

Mir wäre lieber, man würde sagen, dass es eine von verschiedenen schlechten Lösungen war.

Das Leben bringt ethische Dilemmata mit sich, die nicht "gut" lösbar sind, wo man nur abwägen kann zwischen zwei oder mehr schlechten Lösungen . Und trotzdem muss man entscheiden. Und das kostet oft Mut. Wenn jemand dann nichts verdreht, damit es doch eine angeblich gute Lösung gibt, dann habe ich davor eine gewisse Achtung. Ich hasse einfach Verlogenheit.

Dazu kommt, dass er es zu einer Zeit geschrieben hat, in der man solche Töne selten bis gar nicht hörte, man muss es doch auch in diesem historischen Kontext sehen und da finde ich es beeindruckend und meiner Meinung nach überholt es bis heute eine Menge anderer Positionen zu diesem Thema. Und zudem hat er selber sich dran gehalten.

Ich finde auch die Frage der persönlichen Konsequenz nach wie vor ziemlich aktuell. Schau Dir doch mal an, wer überhaupt bereit ist, aufgrund eines Fehlers oder "unrechten" Verhaltens (zum Beispiel im juristischen Sinne) persönliche Konsequenzen zu ziehen. So ganz viele gibt es da nicht, wenn sie denn überhaupt jemals zugeben, dass sie Fehler machen.

Für mich gehört Bonhoeffer zu einer der überzeugendsten Gestalten der damaligen Zeit. Da gibt es sicher noch viele andere, aber er gehört dazu.

Mag ja sein, dass es bessere Vergleiche gegeben hätte als den Radvergleich. Aber er hat nunmal den gewählt für seine ethische Reflexion.

Liebe Grüße

leonie

Niko

Beitragvon Niko » 05.05.2011, 23:06

Zitat:
töten ist nie eine lösung gewesen. es hat halt die dinge vereinfacht.
Dafür hätte ich gern ein Beispiel: Wann haätte Töten je irgendetwas, im Zusammenleben von Menschen, vereinfacht?

herzlich
klara


vereinfacht aus sicht der täter, klara...


Ich sehe, dass zum Schutze anderer Menschen in vielen Fällen keine andere Möglichkeit bleibt, als jemanden in Gewahrsam zu nehmen (wobei es auch da viel auszutragen gibt). Aber sowas wie bei "Wasser und Brot" ist einfach - schlimm und falsch und gewalterhaltend. Für mich eine ganz falsche Sicht auf den Menschen und ein falscher Umgang mit den Problemen, die wir alle haben und erzeugen. Ist wirklich nur einer der Mörder?


jetzt komme ich mal mit einer polemischen frage, lisa:

was würdest du tun, wenn jemand dein kind umbringt? würdest du nach einem fairen verfahren rufen? und würdest du vehement dafür eintreten, dass dieser mann ja nun eigentlich nicht allein der mörder ist. mörder sind ja auch nur ein produkt ihrer umwelt..........-würdest du wirklich so reagieren? würdest du es akzeptieren, dass er nach kurzer zeit wegen guter führung wieder frei kommt?

liebe grüße: niko

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 05.05.2011, 23:52

Was soll die Frage nutzen? Sie zeigt eben, dass so mancher - vielleicht potenziell jeder - in einen Zustand geraten kann, in dem er über einen Fall nicht mehr klar nachdenken kann. Das Urteil eines unmittelbar emotional Betroffenen ist gerade das, dem man am wenigsten trauen sollte. Dass ich z.B. dem Mörder meines Kindes vielleicht den Tod wünschen würde, finde ich nicht eindrucksvoller oder überzeugender, als dass ich unter Drogeneinfluss vielleicht glauben würde, in meinem Garten würden Feen wohnen...

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leonie
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Beitragvon leonie » 06.05.2011, 09:36

Lieber Niko,

ich denke, es ist völlig natürlich, dass ein Betroffener solche "Wasser-und Brot" Gedanken haben kann oder den Impuls, den Mörder seines Kindes etwa auch umzubringen. Und dennoch eignen sie sich nicht, um daraus ein "Strafrecht" abzuleiten oder auch Haftbedingungen festzulegen.

Man muss als bestrafenden Instanz in einem Rechtsstaat anders handeln als die Täter selbst. Es muss sich etwas zum Guten wenden können, auch für die "Täter".

Mein Mann hat eine Weile in einem Jugendknast gearbeitet. Du kannst Dir nicht vorstellen, was diese Jugendlichen erlebt haben. Das sind nicht "nur" Täter. Die sind vorher oft selber Opfer gewesen (wobei ich auch dies Zuschreibungen problematisch finde). Viele haben von Kindesbeinen an Gewalt gelernt. Die Frage ist in vielen Fällen, wie man sie darin unterstützen kann, sich künftig verantwortungsvoll zu verhalten.

Man kann da eigentlich gar keine pauschalen Aussagen treffen...

Liebe Grüße

leonie

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 06.05.2011, 21:48

Liebe Klara,

ich wollte dir für deine Rückmeldung danken. Sie hat mir gut getan.

Was die Diskussion angeht, ist mein - allgemeiner - Standpunkt dem von Pjotr durchaus ähnlich, denn ich bin ebenfalls der Ansicht, dass diese Grundsatzerklärungen und Meinungen etwas Steriles, teilweise Lebensfremdes und dann wieder Machthungriges an sich haben. Derjenige, der am schärsten formuliert, hat die Debattierrunde gewonnen.

Trotzdem habe ich das alles mit großem Interesse gelesen.

Wann stirbt ein Mensch und ich freue mich darüber? Eigentlich nie ... wenn ich ein zivilisierter Mensch bin, denn auch dem Feind gebührt Achtung: Auch da ein Zögern: wie lange würde es in einer Ausnahmesituation dauer,n bis sich solch unziviliserte Rachereaktionen durchsetzen? Primo Levi hat das sehr gut beschrieben, und mich schaudert immer noch bei der Beschreibung der Muselmänner.

Nur Klara, was mich wundert, ist die relativ flache Behandlung des Problems: wer sagt, dass Freude aufkommen sollte, und wie und warum spricht es dich an? Und was schließt du eigentlich für dich daras? Was mir fehlt weniger Fragen als Beobachtungen an dir, was macht das mit dir, woher dieses wiederkehrende "sollte"---- Der Unterschied zwischen sollen und müssen hat mich eine zeitlang beschäftigt und ein frz. Philosoph - es kann Benjamin Constant gewesen sein, hat darüber sehr Kluges geschrieben .... (natürlich haben die Franzosen nur eines der beiden Modalverben, aber er schrieb über devoir und obligation) ....

Diese Abwehr gegen das XX(wasauchimmer)XX sollen ist für mich ein interessanter Aspekt.

Da es mir kaum gelingt, die Debatte zusammenfassend zu verstehen, nur diese Randbemerkung ---

Was Gerechtigkeit angeht, bin ich der Ansicht, dass es sie nicht gibt, oder nur durch Zufall und immer als subjektives Empfinden. Da gehe ich nach wie vor in die selbe Richtung wie Sam. Das Beispiel mit den Kindern überzeugt mich überhaupt nicht. Von Kindern habe ich alles mögliche erlebt, und Gerechtigkeit ist da nicht das hervorstechende Element. Was du beschreibst ist Teilung, Zuteilung, Aufteilung .... das ist ein winziger Aspekt von Gerechtigkeit.

So damit habe ich zwar nur ungerecht den einen oder anderen Punkt angesprochen, hoffe dir aber das Wesentliche vermittelt zu haben.

liebe Grüße
Renée

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 06.05.2011, 22:36

Guten Abend.

Renée Lomris hat geschrieben:Was Gerechtigkeit angeht, bin ich der Ansicht, dass es sie nicht gibt, oder nur durch Zufall und immer als subjektives Empfinden.
Es gibt Gerechtigkeit, meiner Ansicht nach. Ich meine es auch beweisen zu können.

Wenn beispielsweise Männer und Frauen für die gleiche Leistung denselben Lohn bekommen -- und das kommt vor --, finde ich das gerecht.

Unter komplexeren Umständen ist das absolute Maßnehmen zwar schwierig, aber die Gerechtigkeit ist dann immer noch wenigstens als Relation möglich: das eine kann gerechter sein als das andere. Und solange dieses tendenzielle Abwägen möglich ist, gibt es auch eine Gerechtigkeit, ohne sie gäbe es ja keine Tendenzen.


Cheers,

Pjotr


Soll aber nicht heißen, dass es keine Ungerechtigkeit gibt. Ohne Weiß gibt's kein Schwarz.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 07.05.2011, 13:30

Pjotr hat geschrieben:
Es gibt Gerechtigkeit, meiner Ansicht nach. Ich meine es auch beweisen zu können.

Wenn beispielsweise Männer und Frauen für die gleiche Leistung denselben Lohn bekommen -- und das kommt vor --, finde ich das gerecht.


Pjotr


Soll aber nicht heißen, dass es keine Ungerechtigkeit gibt. Ohne Weiß gibt's kein Schwarz.



Hallo Pjotr --- dass du ausgerechnet das Lohn- Arbeitsverhältnis zwischen Männern und Frauen als Beispiel für existierende Gerechtigkeit angibst, könnte mich zu einem Lachanfall inspirieren ( *** ggg *** ) Wir wissen um die berühmte Glasdecke unter der die Karrierefrauen strampeln, um irgendwann mit 50 dann noch ein Kind zu kriegen ... entschuldige bitte den flapsigen Ton. Gäbe es auf diesem Gebiet eine solche Gerechtigkeit, dann wäre ich die Erste, die das zufrieden ur Kenntnis nähme.

Man könnte sich fragen - worin besteht Gerechtigkeit? Worin bestünde .... und auch da wären wir keinen bedeutenden Schritt vorwärts gekommen.

Ein anderes Beispiel:

Es gibt drei Kinder, zwei Bananen und einen Apfel.

Obwohl Paul keine Bananen mag, besteht er darauf, eine Banane zu bekommen, aus Prinzip: solche Prinzipienreiterei ist für mich auch keine Gerechtigkeit. Und es ist in dem Verteilungsdschungel sehr schwer herauszubekommen, was wer bekommt, was wem zusteht ...

Ist es nicht gerade in diesem
Bereich häufig so, dass der Einflussreiche mehr zu seinem Recht kommt als der Andere?


Deshalb halte ich die Fälle, in dene,n für kurze Zeit meist, eine Verschiebung, Veränderung der Gerechtigkeitsverhältnisse (und das sind dann sofort Machtverhältnisse) stattfindet für Ausnahmen, die meine Behauptung bestätigen: Es gibt keine Gerechtigkeit.

Es mag sogar sein, stelle ich eben fest, dass ich das Prinzip der Gleichheit, der Gleichberechtigung und der Gerechtigkeit (Begriffe die einer jeweiligen Definition bedürfen) heute anders sehe als vor 40 bis 50 Jahren.
Gleiche Rechte heißt für mich nicht Gerechtigkeit. Gerechtigkeit geht weit über Gleiches Recht hinaus.

Ich hoffe, dass ich da nicht allein stehe ...

liebe Grüße
Renée

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 07.05.2011, 17:59

Hallo Renée,

wenn jemand etwas haben will, das er nicht benötigt, aber dennoch haben will, weil der andere es besitzt, dann ist das Neid. Ein bekannter psychologischer Effekt. Die Werbung nutzt diesen Effekt gezielt aus. Mit der Frage, ob es Gerechtigkeit gibt, hat dieser Effekt nicht viel zu tun, meine ich.

Als ungerecht bezeichne ich beispielsweise auch das Ungleichgewicht der Bewegungs- und Meinungs-Freiheit. Wenn in der DDR, in Ägypten, in Tunesien, Menschen protestieren und das Diktat auslöschen, sehe ich das als einen gerechten Vorgang. Es kann nicht sein, dass nur ein Teil des Volkes frei reisen* und reden darf. Das widerfährt meinem Gerechtigkeitssinn. Die Proteste sind einflussreich, stark, mächtig. Sie verwenden keine Panzer.

Eine weitere riesige Stärke ist der Zugang zu Information und die schnelle Kommunikation. Das Internet, zum Beispiel, ist ungeheuer stark, selbst wenn es auch den Freiheitsgegnern und den Kriminellen nutzt; den Freiheitsbefürwortern hilft es dennoch umso mehr, weil es über große Teile dezentral aufgebaut ist. Abschalten ist nicht immer ganz einfach. In der DDR '89 gab's zwar noch kein Internet, und auch die Araber hätten den Aufstand möglicherweise ohne Internet organisieren können, aber es ist ein starkes Mittel.

Ich behaupte nicht, dass es keine Ungerechtigkeit gibt. I will nur sagen, dass ich die These "Es gibt keine Gerechtigkeit" für unwahr halte. Eine derartige allumfassende absolute Negierung ist in meinen Augen widersprüchlich.


Cheers,

Pjotr


* Auf die DDR bezogen

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 08.05.2011, 21:23

Liebe leonie,

jetzt habe ich viel besser verstanden, wie in Bonhoeffers "Konzept" das Wort Unrecht noch eine Bedeutung haben kann. Ich habe das wirklich nicht verstanden, ich denke, weil ich unrecht so gebrauche, dass es für mich die Entscheidung bestimmt (sofern sie bestimmt werden kann). Danke, dass du mir das noch einmal so erläutert hast.

Niko, Merlins Antwirt spiegelt ziemlich genau wider, wie ich es auch sehe:

Was soll die Frage nutzen? Sie zeigt eben, dass so mancher - vielleicht potenziell jeder - in einen Zustand geraten kann, in dem er über einen Fall nicht mehr klar nachdenken kann. Das Urteil eines unmittelbar emotional Betroffenen ist gerade das, dem man am wenigsten trauen sollte. Dass ich z.B. dem Mörder meines Kindes vielleicht den Tod wünschen würde, finde ich nicht eindrucksvoller oder überzeugender, als dass ich unter Drogeneinfluss vielleicht glauben würde, in meinem Garten würden Feen wohnen...


Ich setze zudem aufgrund bisheriger Erfahrung mit mir selbst in Bezug auf mir oder anderen mir lieben Personen zugefügtes Leid, Hoffnung in mich, dass ich nicht so reagieren würde.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Gerda

Beitragvon Gerda » 09.05.2011, 08:57

Guten Morgen Klara und Alle,

ich hatte zunächst Hemmungen den folgenden Link in diesem Faden zu posten, weil er eher ins Café passte.
Da aber zu Beginn des Fadens irgendwo, davon bereits im Hinblick auf deinen Text gesprochen wurde, ob dieses Thema nicht eher ins Café gehört, habe ich die Hemmungen ad acta gelegt.

Auf Weltonline habe ich, diesen sicher polemischen Artikel gefunden. (Bei Broder geht es meist etwas polemisch, aber deshalb nicht doch eloquent zu. Ich denke gern, über das, was er sagt nach und meist hat er so Unrecht nicht).

Einen guten Tag
Gerda

Klara
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Beitragvon Klara » 09.05.2011, 09:45

Oh doch, Gerda, Broder (hinter dem du dich gerade versteckt hast ;)) hat, bei aller Eloquenz und gewandten Bissigkeit, oft und gern "Unrecht", weil er immer und nur die eine Seite betrachtet und sich dabei eitel ins Fäustchen grinst. Es geht ihm nicht um Verständigung, oder um Kommunikation, oder gar um Klärung und Selbsthinterfragung, sondern um Plattmachen des Gegners, der immer gleich ein Feind ist. Ich weiß nicht, wann er zuletzt offen nachgedacht hat, falls das jemals passiert ist, wäre es eine gute, vergessene Weile her. Der Mann redet nicht mit jemandem, sondern gegen, und immer in derselben Leier. Ich finde das furchtbar, vor allem grässlich einseitig und dazu noch so selbstverliebt, dass das Lesen seiner Polemiken einen gewissen Masochismus erfordert, den ich im Moment nicht aufbringen mag - sorry ;)

PS ausgewogen, sachlich, dennoch meinungsstark und Position beziehend (eine andere als obiger Text), schreibt Caroline Fetscher hier: http://www.tagesspiegel.de/kultur/osama ... 46990.html


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