Mein Papa

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elisarmin

Beitragvon elisarmin » 06.08.2010, 20:30

Mein Papa

Diesen Tag, diese Stunden, die Minuten und Sekunden, diesen Augenblick den Vergesse ich mein Lebtag nicht.
Alles fing so harmlos an. Ein gewöhnlicher Morgen. Mein Vater hat gesungen. Sehr oft hat er gesungen. Oder er pfiff fröhlich vor sich hin. Manchmal packte es ihn und inbrünstig zitierte er Schillers Räuber oder gar die Glocke. Ja, mit Schiller hatte er es. Ich glaube nicht, weil er ihm so lag. Eher weil er oft, sehr oft, in der Schule die Glocke abschreiben musste. So was bleibt hängen.
"Hallt ein Schrei", ertönte es mit einem Mal hinter mir. Ach Papa, muss das immer sein? , fragte ich ihn mit einem Lächeln auf den Lippen. Eine Antwort kam nicht. Dafür trällerte er los: „ Und schlägt der Arsch auch Falten, wir bleiben doch die Alten!“
An jenem Morgen war mein Vater nicht ganz so fröhlich aufgelegt. Seine Pfiffe waren leiser. Die Stimmung nicht gar so ausgelassen.
Ich. Ich dachte mir nichts dabei. „Tschüß Papa ich geh`!“, rief ich ihm zu, kurz bevor ich zu meinem Freund verschwinden wollte. Mein Vater hielt mich auf. Nahm mich in den Arm. Ganz zärtlich drückte er mich an sich und flüsterte in mein Ohr: „ Du bist doch meine Prinzessin!“ Dann gab er mir einen Kuss. Ewig hätte ich so verweilen können, doch in mir war der Drang zu stark. Ich wollte zu meinem Freund.
Dort angekommen hatte ich an diesem Tag keine Ruhe. Von still sitzen war keine Rede. Konzentrieren auf ein Gespräch war nicht möglich. Irgendwas trieb mich an nach Hause zu gehen. Es war noch längst nicht sehr spät. Noch lange nicht so spät wie sonst, wenn ich nach Hause kam.
Unterwegs hielt mich ein Bekannter an und wollte mir ein Gespräch aufdrängen. Ich sagte ihm ich habe keine Zeit. Ich muss nach Hause, ganz dringend.
Ich war so erleichtert, als ich Zuhause war. Alles war in bester Ordnung. Keine Ahnung was mich getrieben hat. Doch das machte nichts, denn es war schön in der vertrauten Umgebung. Ich mochte es sehr in der heimeligen Stube bei meinen Eltern zu sein. Es umgab mich stets eine Wärme, ein geborgenes Gefühl. Doch es wurde kein Abend wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Es gab nicht mal ein kurzes Gespräch, mit meinen Eltern, über den vergangenen Tag. Meinem Vater war nicht gut und so verabschiedete er sich, um sich hinzulegen. Ein Blick, ein gute Nacht, das war es.
Bald darauf hörte ich wie er meine Mutter rief.
Da war mein komisches Gefühl wieder. Ohne eine Aufforderung rief ich den Krankenwagen. Es dauerte. Minuten, Stunden. Es dauerte und dauerte. Ich weiß nicht genau wie lange. Doch es kam mir vor wie eine Ewigkeit.
Ich rannte immer wieder zur Tür, damit ich dem Arzt schnell den Weg zu weisen konnte, sobald er eintraf. Da, es geht mir heute noch durch Mark und Bein, das Martinshorn.
„Schnell hierher, schnell mein Vater. Dort oben liegt er.“
Ich wies ihm den Weg, doch es war schon zu spät!
Die Nacht, die Tage, die Wochen, die Jahre, die dann folgten, waren viel länger, als die Zeit die ich mit ihm verbringen durfte.
Oh, was gäbe ich heute für eins seiner Zitate, ein leiser Pfiff, ein Liedchen. Was gäbe ich heute für eine seiner Umarmungen? Alles!

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 08.08.2010, 15:17

Hallo Elisarmin,

ich habe das Gefühl diesesr Text ist ein sehr persönlicher. Er erzählt eine traurige Geschichte vom Abschiednehmen, von der Vorahnung, vom Vermissen. Aber er erzählt sie so, dass es mich nicht berührt. Es ist als würde der Text nichts übrig lassen für mich. Da werden Dinge behauptet, aber ich kann nichts spüren.
Ich hoffe, Du kannst etwas anfangen mit diesem Leseeindruck von mir.
Xanthi

elisarmin

Beitragvon elisarmin » 08.08.2010, 18:48

Liebe Xantippe,
vielen Dank für deinen Kommentar.
Du schreibst der Text läßt für dich nichts übrig, er berührt dich nicht.
Das ist sehr schade.
Dennoch glaube ich eher du würdest lieber tiefer hineinfühlen, als dieser Text es für dich zuläßt. Kann das vielleicht sein?
Denn du schreibst im ersten Satz -


Xanthippe hat geschrieben:ich habe das Gefühl diesesr Text ist ein sehr persönlicher. Er erzählt eine traurige Geschichte vom Abschiednehmen, von der Vorahnung, vom Vermissen.


Du meinst also zu fühlen, dass der Text einen persönlichen Hintergrund besitzt.

Liebe Xantippe, ich danke für deinen Eindruck. Ich möchte aber auch noch eine Frage in den Raum stellen - Muß Trauer immer in mitreißenden Gefühlen erlebt (Fantasie angeregt) werden, oder darf der Leser auch mal nur durchs Schlüsselloch gucken, weil es für weitere Erkenntnisse wichtig ist?

Liebe Grüße
elisarmin

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 08.08.2010, 20:35

Hallo Elisarmin,

schön, dass du es als meine ganz persönliche Leseart wahrnimmst. Und gut, dass Du nachfragst. Ich hatte befürchtet, dass es nicht so klar wird, wie ich es gern hätte. Ich weiß auch, dass es daran liegt, dass ich es nicht wirklich klar ausgedrückt habe, vielleicht kann ich es so zu sagen versuchen: der Text behauptet, statt zu zeigen und deswegen bleibe ich draußen und das will ich nicht bei Literatur. Das ist dann allerdings wieder mein ganz persönlicher Zugang zu Texten.

Xanthi

elisarmin

Beitragvon elisarmin » 09.08.2010, 10:36

Hallo Xanthi,

ich denke wir haben uns verstanden. Ich kann deinen Standpunkt absolut nachvollziehen. (Geht mir eigentlich auch so.)

LG
elisarmin


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