Es wird alles neu werden

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 17.05.2010, 18:40

Es wird alles neu werden

Wer wäre schon gern krank? Niemand! Aber ich glaube, man wird den Krankheiten nicht gerecht, wenn man sie immer nur fürchtet. Ich erinnere mich, wie ich die Masern hatte. Ich sah grauenvoll aus, war mit rötlichen Pusteln bedeckt, fieberte, phantasierte, hatte brennenden Durst und fühlte mich dem Tode nahe. Dieser Teil der Krankheit war schrecklich, aber aus dem Tal des Schreckens wieder auftauchen zu süßester Rekonvaleszenz – das war himmlisch! Von allen Seiten wurde ich umsorgt wie ein aus dem Gefängnis Heimgekehrter. Die Mutter las mir die Wünsche von den Augen ab, der Bruder, sonst nicht eben der Rücksichtsvollste, bemühte sich, leise zu sein, was ihn schwer ankam, aber um so höher rechnete ich es ihm an. Und dann das erste Aufstehen! Die Welt war so zart, als wäre sie aus feinstem, durchsichtigem Porzellan gemacht, die Luft umfächelte mich so säuerlich mild, die Gesänge der Vögel klangen wie von einem anderen Stern, alles war neu und unvertraut, als sei ich der Welt ein zweites Mal geschenkt. Diese wunderschöne Seite der Krankheit wird von den wenigsten bedacht. Die meisten tun alles, um ihr vorzubeugen, sie zu vermeiden, sie, ist sie da, zu unterdrücken und dann schnellstmöglich wieder loszuwerden. Das ist nicht die richtige Art, mit der Krankheit umzugehen. Kommt sie, so sollte man sie respektvoll begrüßen etwa mit den Worten: „Hallo, Frau Krankheit, wie nett von Ihnen, dass Sie vorbeischauen! Womit kann ich Ihnen dienen?“ Und wenn sie dann erwidert: „Spar dir die naseweisen Worte, Wicht! Du weißt, womit du mir dienen kannst: Mit dir!“ und mich ins Bett wirft und durch alle Höllen von Schmerz- und Fieberqualen treibt, dann will ich ihr die verdorrten Hände küssen und sagen: „Ja, Mutter Krankheit, ja, da bist du und ich liebe dich mehr als mich selbst! Denn ich weiß, ob du mich wieder hergibst oder nicht, es wird alles neu werden!“
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

scarlett

Beitragvon scarlett » 17.05.2010, 18:57

Klasse Quoth!!!

Einfach Klasse, dieser Blick auf Krankheit, den ich nur zu gut teile und verstehe.

Ich kann mich zwar selbst nicht erinnern, an die Zeit als ich die Masern hatte, man hat mir nur erzählt davon, dass ich beinah gestorben wäre, dass alle ärztliche "Kunst" versagt hat, meine Mutter, selber Kinderärztin (!), beinah den Verstand verloren hat darüber, ABER: ich lernte wieder gehen danach und ... das Leben zu lieben!

Sehr gern gelesen!

scarlett

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.05.2010, 00:44

Hallo Quoth,

den ersten Teil kann ich gut nachvollziehen und auch mitgehen, doch ab hier
Quoth hat geschrieben:Kommt sie, so sollte man sie respektvoll begrüßen etwa mit den Worten: „Hallo, Frau Krankheit, wie nett von Ihnen, dass Sie vorbeischauen!

empfinde ich es als zu übertrieben. Mir ist schon klar, dass du absichtlich überzeichnest, doch ist es mir ein bisschen zu viel des Guten, vor allem hier:
Quoth hat geschrieben:„Ja, Mutter Krankheit, ja, da bist du und ich liebe dich mehr als mich selbst!


Saludos
Gabriella

Klara
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Beitragvon Klara » 18.05.2010, 07:38

Das lese ich als einen Text mit einer in dieser Form selten gelungenen Zusammenbringung von Ironie und tödlichem Ernst. Dadurch entsteht eine augenzwinkernde Heiterkeit, die gewissermaßen - gute Laune macht, überhaupt nicht schwer, ganz leichtfüßig, Kästnerisch: "Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch." In diesem Sinne: ein menschlicher Text, implizit gegen jeden Perfektionismus-des-365-Tage-24/h-Funktionierenmüssen-Zeitgeist, ja vielleicht geradezu ein: individual-kommunistisch-christlicher Text ;))

Rala

Beitragvon Rala » 18.05.2010, 11:30

Eine sehr schöne, poetische Darstellung des Freudschen sekundären Krankheitsgewinns und seiner möglichen Folgen ...

Gesunde Grüße von
Dr. Rala

immekeppel

Beitragvon immekeppel » 18.05.2010, 12:24

schade, dass ich immer so plötzlich genese - oder immer so krank bin, dass mir geschwächt nach all dem siechtum am ende so gänzlich das empfinden fehlt ;)

und dieses "die krankheit begrüßen wie einen lieben gast", das hab ich mal einer meiner töchter empfohlen, das hat sie getan und siehe da, 10 minuten später waren die bauchschmerzen weg und eine stunde später das fieber - nun weiß ich allerdings nicht, wie es ohne dem gewesen....

heute wird meist gegen masern geimpft

Quoth
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Beitragvon Quoth » 18.05.2010, 18:17

Vielen Dank, Scarlett, für die drei Ausrufungszeichen. Ja, wir, die wir die Masern noch durchgemacht haben, wissen, was wir ihnen verdanken!
Übertrieben, Gabriella, erscheint Dir, was für mich nur ein Zuendegehen des einmal eingeschlagenen Weges war.
Klara: Du schriebst: "ja vielleicht geradezu ein: individual-kommunistisch-christlicher Text ;))" - das sind enorme Etiketten, die Du ihm da aufklebst. Aber dass er Dir gefallen hat, gefällt wiederum mir! Kästner ist ein Autor, den ich sehr schätze, schon weil alles, was er schreibt, immer supersolide gearbeitet ist..
Rala: Vielen Dank, habe gar nicht gemerkt, dass ich auf den Spuren dessen wandelte, mit dem zusammen ich Geburtstag habe. Aber um den "sekundären Krankheitsgewinn" scheint es mir nur in den Sätzen über Mutter und Bruder zu gehen, oder?
Hallo, Immekeppel: Dass das Sichsträuben eine Krankheit oft verschlimmert, habe ich oft beobachtet. Von daher ist mein Text auch ein Plädoyer für das Siegen durch Nachgeben!
Mit herzlichem Dank für Befassung
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Sam

Beitragvon Sam » 25.05.2010, 17:28

Hallo Quoth,

ich muss zugeben, ich habe eine Zeit lang mit diesem Text gehadert. Ich habe ihn zunächst in die falsche Schublade gelegt. Nämlich da, wo das Thema Krankheit ein ernstes ist (Erst gestern wieder wieder Kontakt zu einem ehemaligen Arbeitskollegen mit Darmkrebs, dem eine offensichtlich überdosierte Chemo den Körper mehr zugesetzt hat, als die eigentliche Krankheit. Nun haben sie auch noch Metastasen im der Leber gefunden...).

Dort aber, so habe ich beim nochmaligen Lesen festgestellt, liegt die Geschichte falsch. Zu diesem Schluss gekommen bin ich wegen des ersten Satzes. Der lautet nämlich nicht: Wer IST schon gerne krank - sondern - Wer WÄRE schon gerne krank. Ein feiner, aber doch erheblicher Unterschied. Es ist nämlich etwas völlig anderes in einer bestimmten Situation zu sein, oder aber sich diese Situation vorzustellen. Einen ähnlichen Text hätte man vielleicht auch über Arbeitlosigkeit, Besuch bei der Schwiergermutter, Scheidung, All-inclusive Urlaub, Zahnarztbesuch oder andere Themen schreiben können, wo Vorstellungen und Wirklichkeit immer variieren und das "Vor-dem Ereignis-sein" etwas ganz anderes ist, als "In-dem-Ereignis-sein". Und witzigerweise hat jenes "Vor-dem-Ereignis-sein" oftmals einen viel größeren Einfluss auf unsere Denk-und Fühlweise. Sprich: Wir stellen uns die Dinge oftmals viel schlimmer vor, als sie im Erleben dann von uns wahrgenommen werden.
Genau hier finde ich den Ansatz, diesen Text als amüsant zu sehen, weil er alles torpediert, was in Verbindung mit dem Wort "Krankheit" in unserem Gefühlshaushalt sein Unwesen treibt. Man kann sogar sagen, mit dem Schluss, verspottet der Text es sogar. Ein etwas bitterer Spott zugegeben, aber in Hinblick darauf, dass gerade wir Deutschen unseren Zipperleins oftmals mehr als die gebührende Aufmerksamkeit schenken, vielleicht nicht ganz unangebracht. Die Krankheit als Winter des Körpers, den es braucht, damit wieder ein Frühling kommt.

Gruß

Sam

Quoth
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Beitragvon Quoth » 27.05.2010, 19:50

Lieber Sam.
Du schriebst,
Die Krankheit als Winter des Körpers, den es braucht, damit wieder ein Frühling kommt.

Ja! So schön hätte ich das nicht zusammgefasst bekommen!
Gruß
Quoth
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