Die Welt sehen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Loretta

Beitragvon Loretta » 19.06.2006, 17:38

Ich hab eine ganze Weile überlegt, welchen meiner Texte ich denn als erstes hier posten will. Da ich zur Zeit nur Zugriff auf einen kleinen Teil meiner Datein hab, war die Auswahl sehr gering. Jetzt hab ich mich für einen recht neuen Text über mein Auslandsjahr entschieden. Na ja, indirekt über mein Auslandsjahr...


Die Welt sehen – eine Metapher in 3 Akten
für alle Austauschschüler,
für A.


I. Im Moor (das Entkommen)
Die Sonne hatte ihre Reise am frühen Morgen angetreten. Ihre langen Finger hatten sich gierig nach dem taunassen Gras ausgestreckt und ihre Zunge hatte jeden Tropfen aufgesogen. […] Doch wir lenken unsere Aufmerksamkeit nicht auf dieses saftige, hochgeschossene grüne Gras, sondern weiter Richtung Tal, wo die Halme kürzer werden, gelber, und die Sonne schon lange ihren Durst nicht mehr stillen kann. Die Welt ist trocken geworden, abgestumpft und dumpf. […] Das Moor, das einst die Tallandschaft erfüllte, hat sich bis zum Waldrand zurückgezogen. Dort liegt es, schwer und ewig, träge. Wir nähern uns. Nun können wir beobachten, wie es sich bewegt. Es atmet. Kleine Blasen steigen auf. Man muss genau hinsehen, noch kann man es nur erahnen, aber diese Ahnung und die Erinnerungen an diesen immer wiederkehrenden Ablauf genügen: das Moor lebt. Wir blicken gen Himmel. Die Sonne hat nun die letzten Stufen erklommen und den höchsten Punkt erreicht. Die angenehm kitzelnde Morgenwärme ist unerträglicher Hitze gewichen, die mit beinahe zerstörerischer Kraft alles versengt und jedes Leben zur Ruhe zwingt. Das Moor jedoch hat sie zum Kochen gebracht. Es brodelt, es spritzt, ist von Leben erfüllt. Ist es Trotz? Gegen die auszutrocknen drohende Welt? […] Nun erfordert es nicht länger das geschulte Auge eines Beobachters, um die unförmigen Klumpen wahrzunehmen, die sich gewaltsam ihren Weg durch die Oberfläche des Moors bahnen. Wie viele sind es? Zehn? Hundert? Zehntausend? Wir vermögen es nicht zu sagen. Die große Masse hat sich in Bewegung gesetzt und es sind Rümpfe zu erkennen, die aus dem Moor ragen. Wir wagen uns noch näher heran. Eine Gestalt hat sich ganz nach oben gekämpft, den von der Hitze getrockneten Schlamm abgeschüttelt, sich den Sand aus den Augen gerieben. Unbemerkt gleitet sie aus dem brodelnden Moor, lässt die träge Masse, die Gleichheit und Schwere hinter sich und wendet ihr Gesicht dem Wald zu, dessen scheinbar unbesiegbare Dunkelheit nun vor ihr liegt.

II. Auf den Dünen (die Weite)
Vorsichtig hat sie einen Schritt in den Wald getan. Jedes Geräusch klingt anders, auch wenn es der gleiche Vogel ist, der ruft. Nach ein paar Metern bleibt sie unsicher stehen, lauscht. Hört sie die Stimmen aus dem Moor, die sie zurückhalten wollen? Zweifelt sie? Ja, vielleicht. Doch umzudrehen wagt sie sich nicht. Ihre Entscheidung, das Moor zu verlassen, ist längst gefallen. Was sie nun zu hindern droht, ist die Angst vor dem Unbekannten. Keiner hat den Wald je zuvor an dieser Stelle betreten und sie ist losgezogen um der Angst zu begegnen, ihr einen machtraubenden Namen zu geben und vielleicht hinter dem Wald, sollte sie je das Ende erreichen, etwas zu entdecken, etwas so unlaublich schönes, magisches, wovon sie nie zu träumen gewagt hat. […] Sie ist weitergelaufen. Wie lange schon? Wieder bleibt sie stehen, blickt sich um. Alles ist still, die Stimmen aus dem Moor rufen nicht mehr. Haben sie sie schon vergessen…? Dunkelheit hüllt sie ein. Der Frost hat seinen eisigen Atem über die Blätter gehaucht. Sie ist allein und wird auf einmal von einer Sehnsucht ergriffen, einer Sehnsucht nach dem heißen, brodelnden Moor, aus dem sie noch kurz zuvor entkommen wollte. Sie zwinkt sich, weiterzulaufen. Jeder Meter scheint zu weit. Doch an jenem Punkt, an dem der Zweifel und die Sehnsucht beinahe zu siegen scheinen, vernimmt die Laute. Es sind nicht die Stimmen aus dem Moor, sie klingen heller, verlockend. Auf einmal läuft sie, schneller, rennt. Der Wald wird lichter. …und schließlich tut sich vor ihren Augen eine neue Welt auf. Eine Landschaft von einer Schönheit, die das veloren geglaubte Herz ganz weit macht. Sie wirft sich in den weichen Sand, springt wieder auf, rennt hinunter zum Meer, aus dessen Wellen die Wesen des Wassers nach ihr gerufen haben und sie möchte nur noch so viel von all dem aufnehmen, wie es nur irgend möglich ist… Ja, hier, an diesen Ort, da muss die Weite zu Hause sein.

III. Nach dem Meer (die Größe)
Sie öffnet die Augen und betrachtet ihr Spiegelbild an der Wasseroberfläche des Meeres, das ihre neue Heimat geworden ist. Sie spürt, dass es Zeit ist, aufzubrechen. […] Ein letztes Mal dreht sie sich um, sieht ihre eigenen Spuren im fremden Sand, die ein Wesen aus dem fernen Moor hier, in der Welt der Wasserwesen hinterlassen hat. Ja, es war ein Geben und Nehmen, das ihr letzendlich Nutzen brachte, ihr die Größe gab, die sie immer bei den Moorwesen vermisste, deren Wunsch sie angetrieben hatte. […] Als sie den Rückweg antritt, aus der heimatlichen Fremde in die fremd gewordene Heimat, spürt sie, dass es wahr ist: we are more alike, my friends, than we are unalike, we are more alike, my frieds, than we are unalike.

Max

Beitragvon Max » 19.06.2006, 20:23

Liebe Loretta,

na, da musste ich ja zum Glück nicht lange auf Deinen ersten Text warten und das bißchen Warten hat sich auf jeden Fall gelohnt.
Zu Beginn des Textes, das gebe ich ehrlich zu, war ich ein wenig schockiert, weil ich, als die Gestalten im Moor sich zu regen beginnen, weil ich fürchtete, dass da eine Gruselgeschichte auf mich (uns) zukommt. Nun, aber da ich das Bild und die anderen als Metapher begriffen habe, finde ich Deine Ideen sehr frisch und Deine Sprache erstaunlich ausgereift. Die Heimat als Moor zu beschreiben und die eigenen Spuren in der Fremde wirklich als Spuren sichtbar zu machen, finde ich wirklich gute Ideen. Auch das Wortspiel mit "ferneer Heimat" und "heimatlicher Ferne" hat mir gefallen.

Klar, weil der Text noch jung ist sind da noch einige Druckfehler ("zwingt", "verloren", "vernimmt sie Laute"), aber die kann man ja beheben.

Ein schöner Einstand hier!

Liebe grüße
Max

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 21.06.2006, 10:47

Liebe Loretta,

ja, ich kann Max nur zustimmen...diese Komposition hat was...zudem er kennt man ganz deutlich dein feines Sprachgefühl und die Phantasie, die durch die Worte hindurchleuchtet. Zugleich schaffst du es, das Vorher nachher und wieder vorher (oder nachher) nicht zu sehr in den Bildern verschwinden zu lassen, sodass man den Bezug mitbekommt.

Mir hat das auch sehr sehr gut gefallen....

PS: Lass dich nicht abschrecken, wenn du hier im prosabereich nicht so viele Antworten erhälst, leider wird der Bereich noch nicht von so vielen genutzt!

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Morgenschlaf

Beitragvon Morgenschlaf » 26.06.2006, 17:58

Hallo Loretta.
Auch mir gefallen deine 3 Akte.
Besonders gefällt mir im ersten Akt die personifizierte Sonne und das erst im Verlaufe das lyrische Ich auftaucht. Es ist, als wenn man bis zu diesem Punkt vom Erzähler - in der ersten Person Plural - durch die Landschaft geführt wird und und sich dann in das lyrische Ich hineinversetzt. Allerdings verlässt einen der Erzähler ja nicht, er hat sich nur verwandelt ; -)

mfg
Morgenschlaf

Max

Beitragvon Max » 28.06.2006, 20:44

Hallo Loretta,

ich hoffe, wir haben Dich mit unseren Kommentaren nicht verschreckt .. man sieht dich hier gar nich mehr ...
Liebe Grüße
max

Loretta

Beitragvon Loretta » 04.08.2006, 17:04

Vielen Dank für eure Antworten! Bisher habe ich Texte eigentlich hauptsächlich engeren Freunden gezeigt, aber so eine Plattform wie der Blaue Salon hier im Internet ist ideal - ihr hört sicher noch mehr von mir, nur leider habe ich im Moment Probleme mit meinem Internetanschluss...


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