Vollstrecker&Durchblick - DZusG VI

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 05.01.2010, 10:39

Hier steht Teil V:
viewtopic.php?f=1&t=10332



Die Vollstrecker

Die Zahl der Verschwundenen wuchs von Tag zu Tag ohne einen brauchbares Hinweis auf das wie, warum oder wohin. Befragungen der ansässigen Bevölkerung lieferten schließlich ein bescheidenes Ergebnis: Nach einigen Recherchen fand sich eine Greisin in einer Hütte auf der Grenze zwischen Stadt und Wald, die angeblich einen der Vorfälle als Augenzeugin miterlebt hatte. Entgegen seiner Gewohnheit hatte Konit dieses Mal Halvoder gebeten, ihn zu begleiten. Den Kommissar kannte man. Vermutlich waren die Menschen hier in seiner Gegenwart eher zu Auskünften bereit. Das Gespräch, das nun folgen sollte, blieb Konit noch lange Gedächtnis. Die Frau saß im Rollstuhl, in einem engen, dunklen Zimmer. An ihrer Seite stand ein Herr, der sich als Embals, ihr Sohn vorstellte. Konits Bitte, mit seiner Mutter allein sprechen zu können, verneinte er. Sie spreche seine Sprache nicht besonders gut, nur die der Alten von Partsa, die inzwischen beinahe ausgestorben sei – daher sei er als Übersetzer unentbehrlich.
"Dann fragen Sie sie bitte, wie lange der Fall zurück liegt."
Der Mann flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie gab nach kurzer Besinnung leise Antwort.
"Fünfundsiebzig Jahre. Sie war damals 17 Jahre alt."
Konit runzelte die Stirn. Was immer damals geschehen sein mochte, konnte mit den jetzigen Ereignissen nicht viel zu tun haben. Trotzdem bat er die Alte um ihre Geschichte. Man konnte nie wissen.
Da hob sie die klaren, tief hellblauen Augen, die sich in den matten Zügen ihres eingefallenen Gesichtes ausnahmen wie Diamanten in einem Elsternnest und begann, mit heiserer, aber fester Stimme zu erzählen.
"Thâ idan shamúr Belsamik nobe ir.“
„Einst hatte ich einen Geliebten mit Namen Belsamik.“
„O ley margan sún sû o silór malin o henor sû, ib alám valos ley shamaraî iur.“
„Und weil die Nacht warm und der Mond hell und voll war, gingen wir zum Strand, um uns zu lieben.“
„Darunal lattenos, thâ ibristá urenvit. Almartuô iurnoka latten.“
„Wir lagen in den Dühnen, als Nebel aufzog. Er lag über dem Meer, gleich vor uns.“
„Mumur-ti evmarganui ibristál sûyn.“
„Im Nebel waren Gestalten, die wir aus Märchen kannten.“
Was hörte er sich da eigentlich an? Die Schauergeschichten, die man hier für Kinder und – wenn es denn je welche gab – Touristen bereithielt? Der raunende Klang dieser angeblichen Sprache, der dunkle Raum, die gebrechliche Alte, der Übersetzer – all das machte einen verdächtig inszenierten Eindruck. Er ignoriert das Kauderwelsch und folgte der Übersetzung mit erlahmendem Interesse.
„Da war Umuta das Meerpferd, das seinen Reiter zu den glückseligen Inseln trägt. Belsamik stand auf und nahm mich bei der Hand. Dann ging er auf das Meerpferd zu. Komm mit, wir wollen zusammen glücklich werden, sagte er. Ich hatte Angst und riß mich los. Ich rief ihm zu, er solle stehenbleiben. Er aber ging alleine weiter. Als er die Gestalten erreichte, bildeten sie einen Kreis um ihn und tanzten um ihn herum. Er begann, zu singen und mit ihnen zu tanzen, immer weiter in den Nebel hinein. Ich konnte ihn immer schlechter sehen. Es war, als ob er selbst zu Nebel würde. Als der Nebel verflog, war mein Geliebter verschwunden. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Er ist jetzt bei den Nebelgeistern. Wie all die anderen."
Als er Konits kritischen Blick bemerkte, zog Halvoder ihn am Ärmel zu sich heran.
„Es klingt unglaublich“ flüsterte er, „doch solche Berichte habe ich immer wieder gehört, seit ich vor zwanzig Jahren als Polizist hierher gekommen bin. Auch unsere Zeitung hat schon davon berichtet. Immer kommen die unterschiedlichsten Leute zu uns und erzählen von derartigen Erlebnissen am Strand – meistens Reisende, denn von den Einheimischen wagt sich zur Nacht niemand in die Nähe der Küste.“
„Märchen werden auch durch größere Verbreitung nicht wahrer.“ zischte Konit zurück. Er war nahe daran, für die amüsante Privatvorstellung zu danken und zu gehen, als ihm etwas einfiel. Möglicherweise ließ sich von diesem Besuch doch noch eine nützliche Auskunft mitnehmen. Die angebliche Sprache der Alten und der mysteriöse Schriftzug auf dem Steindolch hatten immerhin eine Gemeinsamkeit – er hatte von beiden noch nie gehört. Einen Versuch war es wert – so viele archaische Spezialsprachen würde es hier schon nicht geben.
So setzte er ein verbindliches Lächeln auf und dankte freundlich.
„Sie haben uns sehr geholfen. Ich hätte nur noch eine Frage. Embals, wären Sie so freundlich, etwas für mich aus ihrer Sprache zu übersetzen?“
Embals sah ihn erstaunt an. „Bitte, gerne.“ antwortete er. „Was denn?“
"Oh, nichts besonderes. Zwei kurze Sätze. Ich habe sie irgendwo gelesen und mich gefragt, was sie wohl bedeuten mögen. Vielleicht können ja Sie etwas damit anfangen.“ Er kramte einen Zettel aus der Jackentasche und entfaltete ihn. „Hoffentlich spreche ich das halbwegs richtig aus:
Ormin ârmasin nsút. Ârmasin sludom nsút."
Die Alte bleich und begann zu schreien. Ihre knochigen Finger umklammerten die Armlehnen des Rollstuhles wie im Krampf. Embals warf Konit einen zornigen Blick zu, eilte zu ihr und schob sie aus dem Zimmer in den Nebenraum, wo er beruhigend auf sie einredete. Nach einigen Minuten kehrte Embals zurück.
„Bitte verzeihen Sie, ihre Nerven sind nicht mehr die besten, und Sie haben sie ziemlich erschreckt. Wir hören dieses Wort in unserem Haus nicht gerne. Niemand tut das, wenn er bei Verstand ist. Es ist der Leitspruch der Gâl-Gatai, was soviel heißt wie ‚Orden der Vollstrecker‘.“
Konit war ganz Ohr.
„Interessant. Und wer sind diese ‚Vollstrecker‘?“
„Um das zu erklären, müßte ich weiter ausholen. Die Antwort ist mit der Geschichte unserer Stadt untrennbar verbunden.“
Noch mehr Geschichten. Nun gut. Vielleicht erfuhr er auf diese Weise etwas hilfreiches. Andernfalls war der ganze Besuch Zeitverschwendung – auf eine halbe Stunde kam es da nicht mehr an. „Bitte, erzählen sie.“
„Wie Sie wollen. Der Ursprung des Ordens liegt lange vor der Gründung von Fatai in den Höhlen und Hütten der ersten Bewohner von Partsa...“
Konit war verwundert. „Ich dachte, Partsa sei nach Fatai entstanden und nur eine Art Vorort?“
„Ja, das denken einige, die sich nicht viel aus Geschichte machen. Wörtlich genommen stimmt es. Partsa ist tatsächlich ein Vor-Ort: Fatai entstand vor etwa fünfhundert Jahren. Partsa ist viele Jahrhunderte älter. Wie viele genau, weiß niemand – die Ursprünge liegen weit vor dem Beginn der Aufzeichnungen. Die ersten Siedler kamen vermutlich zu einer Zeit hierher, ehe die Schrift erfunden wurde. Es waren Wilde, sie wohnten in Höhlen und einfachen Hütten und ernährten sich von Jägerei und Fischerei. Im Sommer boten ihnen die Wälder und das Meer reichlich Nahrung und Vorrat für den Winter.
Aber Fleisch und Beeren sind nicht alles, was man braucht, um einen der Winter hier zu überstehen, einen dieser langen, trostlosen Winter. Es ist die Zeit des Nebels: Der dichteste, den Sie je erleben werden. Alles wird düster, fahl und grau, die Sicht verkürzt sich auf weniger als zwanzig Schritte. In den letzten Dezembertagen zieht er auf und bleibt für Monate. Noch heute heißt diese Zeit ‚Irol-Narok‘, Farbenfinsternis. Wer sich nur ein paar Minuten von seiner Hütte entfernte, mußte fürchten, nie mehr zurück zu finden. Stellen Sie sich diese einfachen Wilden vor, noch halbe Tiere, wie sie in ihrem Dorf hocken, das sie nicht verlassen können, um sie her nur die Kälte und Stille des Nebels, ohne eine Ahnung, woher er kam oder wann er wieder gehen wird - wenn überhaupt. Kein Begriff von Zahl, keine Erfahrung, die ihnen sagen könnte, wie lange noch - und selbst wenn: Die Tage sind nicht zu zählen, nicht zu trennen, sie fließen ineinander, jedes Zeitmaß geht verloren, manche Nacht ist heller als mancher Tag... Ihre größte Angst war, daß sie aus diesem Alptraum nie erwachen würden – so ging es jedes Jahr einigen. Während der Nebelzeit unterschieden sie sich wenig von den anderen, doch danach fanden sie nicht wieder ins Leben zurück. Sie verharrten in tiefer Lethargie, wandelten schlurfend und langsam umher wie Tote, waren nicht mehr ansprechbar, verweigerten die Jagd, aßen zu wenig und starben meistens, ehe der Sommer kam. Für die Alten galten sie bereits als tot. Sie nannten diesen Zustand ‚Ibristátorok‘, ‚ewiger Nebel‘. Später wurde es ihr Wort für das Ende der Welt.
Stellen Sie sich ihr Gefühl von Ohnmacht vor! Diese Leute konnten nichts dagegen tun, nicht einmal fortlaufen konnten sie, jede größere Regung konnte tödlich sein. Daher kommt auch der Name, den sie dem Flecken gaben: In der Sprache der Alten ist ‚Partsa‘ das ‚Schicksal, das gegeben ist‘.
Das schlimmste aber war nicht die Todesangst, sondern die Langeweile. Diese Horde von Fischern, Jägern, Kämpfern, Spähern, Waldläufern, Bergsteigern und Wanderern – für Monate verurteilt zur Bewegungslosigkeit. Worin glauben Sie findet so ein Menschenschlag, der an die Jagd gewöhnt ist, seine Unterhaltung?
Man errät es leicht: In Grausamkeiten. Um den Ibristátorok abzuwenden, schlachteten, quälten und töteten sie, und da sie keine Tiere finden konnten, hielten sie sich aneinander. Mit Erfolg! Der Anblick von Schmerz und Blut brachte Regung in die erstarrenden Gemüter und half vielen, zu überleben. Aber natürlich kann keine Gruppe lange überlegen, die es ihren Mitgliedern erlaubt, sich zum Vergnügen zu töten. Bald bildete sich eine Art archaischer Religion um den Opferkult, die nur einigen Ausgewählten den öffentlichen Vollzug der vorher gemeinschaftlich bestimmten Menschenopfer gestattete. Diese wenigen, man könnte sie Priester nennen, nannten sie die Vollstrecker: Gâl-Gatai.
Bis eines Winters Euphorsus über die Berge kam, der erste Sohn des göttlichen Schelmen und der Stammvater der Gelukar. Niemand weiß, wie er es trotz des Nebels durch das Gebirge geschafft hat, doch betrat er Partsa viele Tage nach der Farbenfinsternis. Als die Partsai ihn sahen, ergriffen sie ihn, um ihn zu opfern. Doch mit seinen Spielen und Liedern erfreute er die Herzen der Wilden und hielt den Ibristátorok fern, bis der Winter vorbei war. Viele verloren darauf ihren Glauben an die Gâl-Gatai und nahmen vom Opferkult Abstand. Es war Euphorsus, der mit den Geläuterten zur Küste zog, um eine Stadt zu gründen. Dem Ort, an dem sie sich niederließen, gaben sie den Namen Fatai – ‚Geschick in Menschenhand‘. Das erste, was sie erbauten, war ein Turm, auf dem sie ein ständiges Feuer unterhielten, ein helles Licht, daß den Nebel durchdrang und dem Verirrten den Weg anzeigte. Wer von denen aus Partsa sich nun verlief, stand vor der Wahl – den Heimweg zu suchen, was für die meisten einen langsamen, einsamen Tod bedeutete, oder dem Licht nach Fatai zu folgen und dort den übrigen Winter zu verbringen. Die letzteren galten in Partsa als Abtrünnige und Verräter. Für die Gâl-Gatai hießen sie ‚Kâ-Mitia‘, ‚Motten‘, weil sie sich durch das Licht vom richtigen Weg hatten abbringen lassen. Kehrten sie zurück, wurden sie getötet – also blieben sie. So wuchs die Stadt rasch, bald war sie größer als Partsa. Dennoch gab es einige, die nicht vom alten Glauben lassen wollten. Sie setzten die Opfer noch lange fort. Die Furcht vor dem Ibristátorok vererbten sie von Generation zu Generation. Sie wurden weniger, doch sie hielten sich. Sie töteten seltener, dafür wählten sie ihre Opfer sorgfältiger aus, um möglichst viel Schaudern und Schrecken zu säen: Meistens nahmen sie Kinder, zuweilen auch junge Frauen. Als sie nicht mehr öffentlich opfern konnten, taten sie es heimlich und legten die Leichen so ab, daß viele sie sehen mußten. Das letzte Opfer wurde, so sagt man, vor etwa 150 Jahren vollzogen. Aber da gab es in Fatai schon Polizei und Gericht. Die Täter wurden gefaßt und hingerichtet. Man sagt, sie hätten unter ihren eigenen Taten sehr gelitten, die Opfer hätten ihnen leid getan, doch sie hätten nicht anders gekonnt – so fest war ihre Überzeugung, etwas gutes und notwendiges zu tun. Seither hat man zum Glück nicht mehr von ihnen gehört. Dennoch lastet ihr Name wie ein Fluch auf dieser Gegend. Noch immer kennt hier jeder ihre Zeichen.“ Er endete und sah Konit verlegen an. „Jetzt wissen Sie mehr über die Geschichte unserer Stadt als die meisten hier. Allerdings glaube ich kaum, daß Ihnen das weiterhelfen wird – hoffentlich habe ich Sie nicht gelangweilt?“
„Oh, machen Sie sich keine Gedanken. Ich fand ihre Ausführungen äußerst aufschlußreich. Nur eines wüßte ich gerne noch: Was bedeutet denn nun dieser Leitspruch?“
„Nun, wie schon gesagt glaubten sie, daß die Welt ohne die Zauberkraft des Blutes untergehen wird. Ihr Satz drückt das aus. Er lautet übersetzt: „Welt braucht Zauber. Zauber braucht Blut.“
Das war vorerst mehr als genug. Konit bedankte sich aufrichtig, ließ der Mutter seine Entschuldigung ausrichten, gab Halvoder einen Wink und empfahl sich.

„Dürfte ich erfahren“ fragte Konit scharf, kaum daß die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen war,
„wieso ich von dieser Gruppierung erst jetzt erfahre? Soweit ich mich erinnere, habe ich Sie ausdrücklich nach so etwas gefragt.“
„Offen gestanden hielt ich das nicht für relevant, Inspektor. Als sie mich fragten, schienen sie nicht unbedingt an alten Schauergeschichten interessiert zu sein.“
„Ihre Sorge rührt mich, doch was relevant ist, beurteile ich doch lieber selbst. Wenn Sie mir noch einmal wichtige Informationen verschweigen...“
„Die Gâl-Gatai verschwiegen? Sie sind gut. Hätte ich Ihnen vielleicht auch noch von Umuta, dem Meerpferd erzählen sollen? Beim besten Willen, diese sogenannte Stadtgeschichte mag für einen Mythologen interessant sein, inhaltlich ist sie wohl kaum mehr als ein nettes Märchen – oder glauben Sie, daß ein viertelgöttlicher prähistorischer Musikant einen halben Haufen Höhlenmenschen durch Wiegenlieder dazu bewogen hat, mit ihm eine Stadt zu errichten?“
„Sicher nicht. Doch in vielen Mythen ist, wie hier, ein historischer Kern noch leicht heraus zu hören. Ich stelle jedenfalls fest, daß unserer beträchtlichen Zahl Verschwundener die Geschichte von einem Kult gegenübersteht, der Menschenopfer praktizierte. Und was die Spuren im Fall Puer angeht – nun, die meisten kennen Sie ja selber.“
„Ja, ja – aber die Gâl-Gatai? Ich bitte Sie, Inspektor – so weit ich weiß, ist kein Dokument erhalten, daß auf sie hinweist. Möglicherweise hat es die nie gegeben. Das ist ein Märchen, mit dem man kleine Kinder erschreckt: ‚Sei brav, sonst holen dich die Gâl-Gatai.‘ Sie könnten ebenso gut gegen Monster im Kleiderschrank ermitteln. Außerdem haben selbst die Gâl-Gatai der Überlieferung anders gemordert. Sie haben ihre Opfer nicht verschwinden lassen. Was sie taten, war ein Schauspiel für Götter und Menschen. Die Leichen wurden immer so abgelegt, daß man sie finden mußte - sie sollten ja gefunden werden.“
„Trotzdem erscheint mir das als der derzeit beste Anhaltspunkt...“
„Bei allem Respekt, Inspektor, aber vielleicht sollten Sie von Ihrer Fixierung auf Kulte und Sekten einmal Abstand nehmen. Bisher sind Sie damit jedenfalls nicht sehr weit gekommen, wenn ich richtig sehe.“
Konit mußte widerwillig eingestehen, daß der Kommissar recht hatte. Die Inschrift auf dem Dolch war ein Hinweis, nicht mehr - er konnte auf viele Arten an den ersten Tatort gelangt sein. Man konnte es etwa mit Nachahmungstätern zu tun haben oder solchen, die absichtlich falsche Spuren legten, vielleicht hatte der Dolch nichts mit der Sache zu tun und schon seit Ewigkeiten dort herum gelegen... Auch im Hinblick auf die Nubarier hatte sich nichts Neues ergeben. Man hatte die Lichtung untersucht, auf der sich ihr Hauptquartier befunden hatte, gründlich, mehrmals, mit Hunden, mit Hunderten und hatte, wo die Scheune einst gestanden haben mußte, unberührtes Gras gefunden. Der Bitte um Hinweise folgten weiter täglich Dutzende mit Hinweisen auf Ufos, Geister oder den Leibhaftigen. Auch zum Verbleib der Verdächtigen fehlte jeder ernsthafte Hinweis. Der letzte wollte sie auf dem Rücken von Delfinen gesehen haben, wie sie nach Süden über das Meer ritten.
Die Befragungen in Partsa, auf denen Konit bestanden hatte, verliefen wie erwartet: Von den wenigen, die überhaupt zu zusammenhängenden Äußerungen imstande waren, hatte niemand etwas von einem wieder erwachten Steinzeitkult gehört oder gesehen. An andere Spuren war nicht einmal zu denken.
Danach stagnierten die Ermittlungen. Konit war ratlos. Seine Arbeit verfiel zu einer subtilen Form des Nichtstuns. Er stand eines Morgens auf und fand, während er sich wusch, anzog und frühstückte, daß sein Tun sinnlos war. Die Tage zerflossen in ewig wiederkehrende Gewohnheitstaten, die nicht einmal Rituale waren. Im übrigen war er ideenlos. Kein Jota Fortschritt. Alles wurde bleiern. In jedem Gedanken, auf jedem Glied spürte er einen Widerstand, der zu elastisch und zugleich in seiner Omnipräsenz zu unfaßlich war, um ihn als Gegner auszumachen. Ihn dingfest zu machen, hätte man das All mit einem Griff umspannen müssen. Entsprechend zeigte er sich unangreifbar, und in der Folge unüberwindlich. Es war, als schwimme man in Honig. Die Zeit des Innern wurde zäh und klebrig. Die äußere begann zu galoppieren.
Farbenprächtig drängte das Jahr seinen raschen Fortschritt ins Bewußtsein. Die Sommertage seiner Ankunft waren ins Andeutungshafte fliehender Spuren entrückt. In den Kronen der Wälder lohte rot die Standarte des nahenden Herbstes. Und im Gefolge des bunten Gesellen ritt schweifend und spähend sein grauer Begleiter, der früh sich aus der See erhob und erst zur Nacht wieder zu ihr legte. An manchem Morgen, wenn Konit nach durchwachter Nacht aus leichtem Schlummer auffuhr, beobachtete er mit tiefem Erschauern, wie der Verhüller vom Grunde aufsteig, die Berge und Hügel gewann, um sich dann als gespenstische Lawine bergab zu wälzen und ins Tal zu ergießen.



Der Durchblick
Aus dem Leben des Manuel Konit


Die Straßen waren dunkel und menschenleer. In den Pfützen spiegelte sich das Licht der Leuchtreklamen und Laternen, das durch den Regen in konzentrischen Ringen zu unkenntlichem Einerlei zerrissen wurde. Städte ermöglichten die Einsamkeit in einem Ausmaß, wie es im Wald undenkbar war. Das zweckmäßige Ganze der Zeichen und Lichter verlieh den Menschen, durch die es Sinn und Sein empfing, auch in ihrer Abwesenheit eine gespenstische Präsenz. Es war unmöglich, hier zu ignorieren, daß niemand da war: Die Leere drängte sich an jeder Ecke auf.
Und gerade er war außerstande, diese Lücke zu füllen. Gehsteig und Überwege schützten ihn vor Gefahren, die es nicht gab. Die Schilder wiesen ihm den Weg zu lauter Orten, an die er nicht wollte, die doch nur lauter neue Leeren waren. Diese Welt war fremd. Er hatte nichts darin zu suchen. Daß er ging, hatte seinen Grund nicht in dem Wunsch, irgendwo hin zu gelangen. Eher noch entsprang es einem Drang, von überall fortzukommen. Er trieb ziellos umher wie ein Stück Holz im Rinnstein.

Wenn es nur möglich wäre, irgendwohin zu wollen.
An einer Laterne hielt er inne. In die Beuge zwischen Pfosten und Lampe war ein überreich gefülltes Spinnennetz gefügt. Um das weißglühende, lichte Ende flatterten in schwirrem Flug allerlei Insekten her, einem der beiden Tode zu. Soweit er sich erinnerte, benutzten sie helle Lichter als Orientierungshilfe, indem sie stets einen gewissen Winkel zu ihnen zu halten suchten. Ein glücklicher Einfall, solange sie von Sternen kamen, die in praktischer Hinsicht als unendlich entfernt angesehen werden konnten - doch die Laterne war kein Stern. Bis zuletzt folgten sie ihrem Trieb mit blinder Ergebenheit. Sie verkannten ihr Ziel, flogen in enger, eifriger werdenden Spiralen in die Leuchte und lösten sich mit einem Zischen in Rauch auf. Konit beneidete sie.

Eine Leuchtreklame gegenüber pries in bunten Tönen einen Film an, der jedermann in seinen Bann zu schlagen versprach. Mit raschem Schritt floh er hinein.
Stahl hieb auf Klaue. Ein Feuerstoß schoß aus dem Maul der Bestie, zwei Reihen spitzer Zähne blitzten schrecklich hell. Der Schild fing von der Hitze Feuer, mit einem Aufschrei warf ihn der Jüngling von sich und faßte das Schwert umso fester mit beiden Händen. Im Hintergrund gellten die ängstlichen Rufe einer Schönheit in Ketten.
Konit war fasziniert. Er liebte die Schöne, haßte die Bestie und litt mit dem Helden, unwillkürlich tastete er seine Schildhand nach einer Wunde ab, ihm war, als röche er verbranntes Fleisch.
Da begann der Drache zu flimmern. Ein blaues Liniennetz trat unter seiner Schuppenhaut hervor, die darüber spröde wurde und abfiel. Er wurde durchsichtig, fadenscheinig wie ein abgewetzter Teppich aus gebogenem Licht. Schließlich verblaßte auch das Licht. Die wuchtigen Streiche gingen ins Leere, schnitten nur noch Luft. Über den Häuptern des Recken und der Schönen baumelten Mikrophone herab. Die Schöne war überschminkt. Ihre Ketten waren aus Plastik. Unter der bebenden Erde lag glattes Metall, hydraulische Arme versetzten es in Erschütterung. Die Konstruktion umrahmte ein Kreis von Stühlen, Scheinwerfern und Kameras. Der Held langweilte sich, er tat das alles heute schon zu achten Mal...
Was sah er da! Einen Haufen Gerümpel, geistlos, nutzlos, seelenlos!
Mit einem heftigen Ruck sprang Konit auf und verließ schluchzend den Saal. Das Gerümpel in seinem Rücken zersplitterte wie unter einer Explosion in Millionen winziger Lichtpunkte, die einander im Funkenflug umschwirrten und erloschen.



Hier geht es weiter zu Teil VII:
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Zuletzt geändert von Mnemosyne am 04.02.2010, 13:35, insgesamt 5-mal geändert.

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 05.01.2010, 17:18

Hallo Merlin!

Wieder gelungen, vielleicht mit ein paar Längen durch die ausgedehnte, bewegungsarme (wenn natürlich auch sehr aufschlussreiche) Erzählung.

Formal störten mich diesmal weniger Dinge wie...

Die ersten Siedler kamen zu einer Zeit hierher kamen vermutlich,
und Schrecken zu sähen:
die Standart des nahenden Herbstes.


..sondern Sätze, die mir einfach nicht glücklich gebaut scheinen, besipielsweise:

Es waren Wilde, sie lebten in Höhlen und einfachen Hütten von Jägerei und Fischerei.

Da kommt mir irgendwie ein Stamm von Fledermaus- und Grottenolmjägern in den Sinn, und das meintest du ja eher nicht ;-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 05.01.2010, 21:51

Hallo Ferdi,
wie immer waren deine dezent formulierten Anregungen äußerst hilfreich - ich habe sie gleich eingebaut.
Und die Grottenolmangler sind eine hervorragende Idee, die muss ich mir unbedingt merken! :-) Und in so einer alten Hütte mag es genug Ungeziefer geben, dass so ein steinzeitlicher Kammerjäger bequem davon leben kann...
Liebe Grüße
Merlin

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Beitragvon Mucki » 06.01.2010, 14:46

Hallo Merlin,

gestern Nacht machte ich den "Fehler" und begann, den ersten Teil zu lesen. Da musste ich dann natürlich alle 6 Teile lesen, so dass es ziemlich spät wurde. *lach* Ich musste, weil ich wissen wollte, wie es weitergeht. Deine unverkennbare "Merlin-Schreibe", die ich, wie du weißt, sehr schätze, hat mich wieder einmal fasziniert. Du beherrschst virtuos die Kunst, sehr plastisch zu schreiben. Die Szene, als Popa seine Vorstellung gibt zum Beispiel (eines von vielen): ganz hervorragend!
Deine Detailverliebtheit, die altmodischen Wörter (konsequenterweise auch nicht nach der neuen deutschen Rechtsschreibung geschrieben, sie wäre hier auch ein Frevel, in der Tat!) und die verschachtelten Sätze, all das macht dein Schreiben aus.
Ich musste auch in einem durch lesen, weil ich sonst den Anschluss verloren hätte. Durch die verschiedenen, seltsamen Namen der Protags, der Orte, diese erfundene ? mystische Sprache, die Rückblenden aus dem Leben Konits, all das hätte ich sonst nicht mehr im Kopf gehabt, bzw., mir wäre das Weiterverfolgen schwergefallen.
Insgesamt fesselnd geschrieben, teilweise jedoch einige Längen drin, die mich jedoch nirgends rauswarfen. Ich würde mir auch mehr Dialoge wünschen, um so als Leser etwas mehr "Luft" zu bekommen.
Die Frage, die sich mir stellt: kann man eine Geschichte in diesem Stil lange aushalten, ohne, dass es zu anstrengend, zu verzwickt, zu schwierig wird?
Wie gesagt, man muss es m.E. in einem Zug lesen, da man sonst den Anschluss verliert und sich fragt: wer war XYZ noch mal? Ach ja, der ...
Ansonsten sind noch etliche Fehlerchen drin. Da müsste man Teil für Teil durchgehen, Zeile für Zeile, um diese auszumerzen.
Und ja, es ist kein Fantasy, wie ich auch zuerst dachte. Da führt einen der erste Teil in die Irre. Aber du hast es ja nur in Häppchen gesplittet, um es hier im Forum leichter lesbar zu machen. Fakt ist aber m.E., dass man es zusammenhängend lesen muss. Es ist ein Mystery-Krimi, den ich gerne gelesen habe!
Das erst mal als ersten Eindruck.

Saludos
Mucki

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Beitragvon Mnemosyne » 06.01.2010, 17:02

Hallo Gabriella,
hab erst einmal vielen Dank für deinen Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe! Dass der bisherige, doch schon recht lange und nicht ganz unkomplizierte Verlauf jemand motiviert hat, in einem Zug durch zu lesen, empfinde ich als große Bestätigung.
Auf Fehlersuche begebe ich mich auf alle Fälle noch (inzwischen habe ich leider meine Instinktsicherheit hinsichtlich der alten Rechtschreibung etwas eingebüßt, möchte aber aus dem von dir genannten Grund ungern darauf verzichten), auch eine stilistische Durchsicht muss sicher sein - und hier und da ein auflockernder Dialog ließe sich sicherlich einbauen.
Jedenfalls hoffe ich, dass du den Anschluss noch findest, wenn ich in den nächsten Tagen die letzten Teile einstelle - es warten einige sicher nicht ganz vorhersehbare Wendungen :-). Da ich derzeit einige Anmerkungen gleich in vorauseilendem Gehorsam umzusetzen versuche, ehe ich die Textstellen poste, dauert das leider etwas länger als vorgesehen.
Liebe Grüße
Merlin

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Beitragvon Mucki » 06.01.2010, 17:25

Hi Merlin,

warte jedoch nicht zu lange, ok? ;-)
Und ja, die alte Rechtschreibung ist hier ein Muss!

Saludos
Mucki, die neugierig ist, wie es weitergeht!

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Beitragvon Mnemosyne » 07.01.2010, 18:22

Hallo Gabriella,
gut, ich beeile mich :-).
Vom "Popa"-Teil ist übrigens leider (fast) nichts erfunden...

http://www.youtube.com/watch?v=q7BQKu0YP8Y
bzw.
http://www.youtube.com/watch?v=MfBCiPfqFeY (besonders ab 8.40)

Liebe Grüße
Merlin

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Beitragvon Mucki » 07.01.2010, 18:37

Ja, ich weiß. Habe selbst so einen Scharlatan live erlebt. Unglaublich, echt ...

Saludos
Mucki


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