Hier steht Teil III:
viewtopic.php?f=1&t=10298&p=136551#p136551
Das Wunder von Fatai
So dringlich die Arbeit auch sein mochte, so hoch die Stapel, zu denen sie sich türmte, so fest der Vorsatz, sie nun endlich zu erledigen - seinen Blick von dem Schauspiel zu nehmen, zu dem die eilige Fahrt die Landschaft draußen entfaltete, war nahezu unmöglich. Üppige Wälder in herbstlicher Pracht wechselten sich ab mit der freien Weite von Grassteppen, deren Farbe sich schon ins gelbe neigte. Und dort, am Horizont, in unanfechtbarer Heiligkeit und Majestät, die Berge. Kein Einwand half gegen die gebieterische Kraft ihres stummen Zurufs. Diese Giganten von Fels zwangen zu Maßstäben, vor denen der Mensch bis zur Unsichtbarkeit zusammenschrumpfte. Der stolzeste Betrachter fand sich verzwergt, vernichtet, hüllenlos vor Gottes Thron gezerrt. Vor ihnen fand alle Klugheit und Vernünftelei ein End. Was für Gerede immer man sich zu seiner Rechtfertigung vorgenommen hatte zerschellte ungesagt an ihrer Größe. Sie standen unangefochten und regungslos in den Stürmen von Äonen , Himmelssäulen, Göttersitze, mahnende Zeugen des jüngsten Gerichts.
Der bärtige Mann, dessen graues Haar ihm bis weit über die Schultern fiel, lehnte sich zurück und überließ sich dem Spiel der Imagination.
Orte der einsamen Besinnung, Heim für Einsiedler und Klöster. Zeugnisse der ungeheuren Macht, die sie zusammenschob. Was mochten sie ver-Bergen? Große Schätze, innere Reiche von Drachen und Zwergen. Tore zu einer Erde in der Erde, einer Innen-Erde. Triebfedern der menschlichen Kraft: Gerade ihre Größe fordert zur Ersteigung, Bezwingung.
Und jene Hänge dort, von verstreuten Findlingen bedeckt, waren in Wahrheit Gärten versteinerter Fabelwesen, die auf ihren Erlöser warteten...
Mit offenem Mund hing Chira Vagonar an der Scheibe.
"Hören Sie, Herr Schaffner, das ist ein Skandal. Wir haben schon gute 30 Minuten Verspätung - und das auf völlig freier Strecke mitten in der Pampa. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, ich habe Termine, verstehen Sie, ich kann meine Zeit nicht damit verschwenden, in einem Schrotthaufen durch die Walachei zu schleichen." Nämlicher Schaffner entschuldigte sich wortreich in einem Ton mechanisch gewordener Anteilnahme, stellte ein Minderung des Fahrpreises in Aussicht und gelobte Besserung. Nach einigem hin und her verzog der Mann sich in sein Abteil. Die Stille kehrte wieder. Vagonar lehnte sich in seinem Sitz zurück. Als er wieder hinaussah, hatte der Anblick viel von seinem Reiz verloren. Unter den unbedachten Flüchen dieses Banausen war der Zauber verebbt. Verdammt. Er hätte gute Lust gehabt, den Rotzgob zur Andacht zu prügeln.
Statt dessen holte er seine Unterlagen hervor. Trotz seiner Verstimmung entlockte ihm die Vorstellung ein Lächeln, wie viele beim Anblick dieser Akte in seinen Händen einen Herzinfarkt erlitten hätten. Sein Verhältnis zu seinem Auftraggeber, der Polizei, war heikel. So sehr man seine Mitarbeit insgeheim zu schätzen wußte, so wenig wollte man offiziell mit ihm zu tun haben. Der Presse gegenüber wurde jegliche Verbindung rundweg abgestritten. Die Polizei ermittle aufgrund von Fakten und Wissenschaft. Mit Hellsehern und anderen Scharlatanen befasse man sich allenfalls, um sie zu entlarven.
Tatsächlich waren die Ansichten zu seiner Funktion vielfältig. Auch knochenharte Skeptiker von leitenden Beamten billigten gewöhnlich seinen Einsatz, und wenn die Presse Anlaß zu einem Dementi gab, so hatte man den Verdacht zumeist selbst geweckt. In einer zunehmend abergläubischen Zeit konnte die Behauptung, man bediene sich übernatürlicher Ermittlungsmethoden, so manchen Teufel auf der Flucht zur Aufgabe bewegen. Intern betrachteten sie ihn als psychologisches Druckmittel, das durch seine mitunter spektakulären Erfolge ausreichend gerechtfertigt war. Seine präzisen Vorhersagen zum Äußeren und Aufenthaltsort von Tätern und Opfern hingegen übergingen sie, wenn sie darauf hingewiesen wurden, als habe man etwas unanständiges gesagt. Nicht wenige vertrauten sehr ernsthaft auf seine Gaben. Wieder andere lehnten seinen Einsatz kategorisch ab.
Sich selbst dazu zu äußern vermied er sorgfältig. Er wußte, was er konnte und warum. Was er sonst noch wußte, jene Wahrheit, die kaum jemand zuzumuten war, behielt er für sich. Mit diesem Wissen war niemand gedient.
Wie auch immer man zu seinem Einsatz stehen mochte: Wenn je ein Fall einen Kenner des Okkulten erfordert hatte, dann dieser. Die zugehörige Akte las sich wie der Plot zu einem Horrorfilm: In der kleinen Stadt Fatai, malerisch gelegen zwischen Meer und Gebirge, die ihren unzeitgemäßen Charme tapfer gegen eine zunehmende Landflucht behauptete, trugen sich fürchterliche Dinge zu. Die Geschichte des ersten Opfers, ein Kind namens Reinhold Puer, war durch alle Zeitungen gegangen und hatte für großes Aufsehen gesorgt. Nachdem der Junge einige Tage als vermißt gegolten hatte, hatte ein Suchtrupp der Polizei ihn tot in den Bergen gefunden. Die der Akte beiliegenden Fotos waren auch für gestandene Ermittler schwer zu ertragen: Der Leichnam lag nackt, an Händen und Füßen gefesselt, auf einer Art Steinaltar, der ersten Untersuchungen zufolge mehrere hundert Jahre alt war. Vor der Tötung mußte er nach Ansicht der Forensiker betäubt worden sein, denn es gab keine Anzeichen irgendeiner Gegenwehr. Seine Kehle war durchschnitten; das herausströmende Blut hatte offenbar jemand aufgefangen, um damit einen Kreis um den Altar zu ziehen und die Stirn des Opfers mit einer unbekannten Rune zu zeichnen. Der Brustkorb war mit chirurgischer Präzision aufgetrennt, das Herz fehlte. Infolge der eisigen Temperaturen war der Körper bei seiner Entdeckung bereits steif gefroren. Den einzige Hinweis auf den oder die Täter gaben einige undeutliche Schuhabdrücke, die, verweht und überfroren, kaum noch als solche zu erkennen waren.
Von da an hatten die Morde sich gehäuft: nahezu täglich las man von neuen Opfern, die, alle mit zerschnittenen Kehlen und ohne Herz, in und im Umkreis der Stadt gefunden wurden. Zu jedem enthielt Vagonars Akte einen ausführlichen Bericht, ergänzt durch entsprechendes Bildmaterial.
Eine mehr als unschöne Sache, das ganze. Die er aufklären würde. Sicher? Er lächelte. Ganz sicher.
Vagonar schlug die Akte zu und packte sie zurück in seine Tasche.
Dann verließ er sein Abteil und lief, auf der Suche nach Ablenkung, den Gang entlang. Im nächsten Wagen wurde er fündig. Reisen in diesem Zug konnten Tage dauern, und als kleiner Beitrag zur Zerstreuung lagen hier die wichtigsten Tageszeitungen aus. Allerdings schien, wer immer für diesen Dienst zuständig war, seine Aufgabe nicht sehr ernst zu nehmen: Einige der Stapel waren mannshoch, die untersten Ausgaben datierten vor mehreren Monaten.
Vagonar griff wahllos hinein.
„Das Wunder von Fatai“ lautete die Schlagzeile.
Schon wieder Fatai. Seiner Arbeit zu entkommen, war mitunter schwierig, aber nicht unmöglich. Schnell blätterte er einige Seiten weiter. „Klimaschützer fordern globales Umdenken“ Schon besser.
„Die aktuellen Vereinbarungen der Regierungen führender Industrienationen zur Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen greifen nach Ansicht einer internationalen Vereinigung von Wissenschaftlern sowie Vertretern von Kirchen und Umweltschutzverbänden zu kurz. Ein weiterer massiver Anstieg des Meeresspiegels könne nur verhindert werden, wenn...“
>>Wunder von Fatai<<?
Welcher Journalist konnte auf die abartige Idee verfallen, eine Reihe ritueller Morde als Wunder zu bezeichnen? Er schlug erneut die erste Seite auf und überflog den Artikel.
„Hund rettet Kind aus Lawine... Ausflug, der beinahe tragisch geendet hätte... offenbar verlaufen... stundenlang bei Minusgraden... zum Glück keine bleibenden Schäden...“
Darunter befand sich, versehen mit der Unterschrift „Das Glückskind mit seinen Eltern“, ein Foto des jungen Puer. Die Seite war zerknittert, das Bild in grobkörnigem Schwarzweiß, die Augen durch einen Zensurbalken verdeckt – doch er war es. Unverkennbar lächelte er und winkte, von Vater und Mutter flankiert, in die Kamera.
Was zur Hölle... Vagonar ließ die Zeitung sinken.
Oh nein. So nicht, mein Freund. Wer Alpha sagt, muß auch Beta sagen. Omega gibt es nicht. Ich weiß, was du getan hast. Ich habe Beweise. Er rannte zurück in sein Abteil, griff die Tasche und riß sie auf. Alte Socken und Hemden. Die Akte war verschwunden.
Verdammte Schlamperei. Ich hasse es, wenn das passiert.„Und was soll ich jetzt hier? Was soll überhaupt noch irgend jemand?“
Stille. Wer auch immer diese Frage hatte hören sollen, gab keine Antwort.
Der falsche Prophet
Aus dem Leben des Manuel Konit
Lange bevor Konit zum Polizeidienst kam, war er bereits ein hoch angesehenes Mitglied der skeptischen Gemeinschaft. Zu dieser Zeit war der Name eines Mannes in aller Glaubenseiferer Munde, der mit dem, obzwar nicht geradezu ausgesprochenen, aber durch seine vermeintlichen Wundertaten doch klar vertretenen Anspruch auftrat, ein neuer Erlöser zu sein: Pedro Popa. Seine wachsende Gefolgschaft versammelte sich an den Stationen seiner Reisen unter freiem Himmel oder in großen Hallen unter dem Zeichen des Kalbes, um seine Werke zu sehen sowie Segnung, Rat und Heilung von ihm zu empfangen. Blinde mache er sehend hieß es, Lahme gehend, selbst von tödlichen Geschwüren, gegen die alle Kunst der Ärzte machtlos war, könne er durch Anrufung der himmlischen Gnadenmächte leicht befreien. Bald gab es nirgends mehr einen Mangel an "Geheilten", die sich voll Inbrunst als lebende Beweise dieser Wunder präsentierten. Wo man sich aber für aufgeklärt hielt und derlei offen zu behaupten scheute, da flüsterte und zwinkerte man sich insgeheim die frohe Botschaft zu, die dürre Zeit der Herrschaft der Vernunft neige sich ihrem Ende zu.- Und voll wohligem Schaudern tuschelte und wisperte man noch verschämt, meist nur in der Stille der Gedanken, doch mit schwellendem Mut, von kommenden Tagen, der nahenden Regentschaft höherer Mächte, von neuen Wundern und der Rückkehr der Mysterien.
Auch in der großen Halle des Paladiums der Stadt Vitello trat er eines Tages auf, in gestärktem weißen Hemd mit Krawatte, das Haar im strengen Scheitel, mit einem Lächeln, dessen Sicherheit alleine manchem den Rückhalt im Transzendenten bezeugen mochte, nicht ahnend, wie im Schatten der hinteren Ränge zwei Hosentaschen sich unter der Spannung zweier Fäuste wölbten.
Konit durschaute das Spiel. Hier war ein Illusionist am Werk, aber einer der schlimmsten Sorte - ein Schwarzkünstler aus der uralten Schule derer, die in der Vorzeit an steinernen Altären mit Dolch und Feuer aus dem Abgrund menschlicher Bestialität namenlose Urkräfte heraufbeschworen hatten. Aus ihrem verderbten Geschlecht waren dereinst die Priester hervorgegangen, die ihre Menschenherde unter der Geißel des schlechten Gewissens hielten; insgleichen die Demagogen und Verführer der Völker, die Untergangspropheten, die Hexenjäger und die hetzerischen Prediger des Krieges. Der da von der Bühnenkanzel sprach, war ein Magier des Blutes, und dazu ein Meister seines Faches.
Alles Ungemach, so deklamierte er, sei nur gerechte Folge der Sündhaftigkeit, in deren Klauen sich der Mensch befinde, ohne Hoffnung, ihr aus eigner Kraft je zu entrinnen. Armut, Krankheit und Tod - Spätwirkungen des Giftes, das durch die verbotene Frucht in die Menschheit geflossen sei. Alle Medizin nannte er eitle Torheit, denn allein die göttliche Gnade könne wahre Heilung gewähren - dagegen die hybrische Neugier und Anmaßung der Wissenschaft der alten Freveltat in Wesen und Wirkung völlig gleiche. Wer also auf Erlösung hoffe, der habe nötig, allem Glauben an die Ärzte abzuschwören und sich ganz der selig machenden Lehre des einen Gottes anzuvertrauen. Jeder Tropfen Medizin sei ein Verbrechen wider den Himmel, und wer sein Kind in ein Krankenhaus bringe, täte eben so viel, als gebe er es direkt an der Höllenpforte ab...
Noch nicht. Konit biß die Zähne zusammen und schwieg. Es hörte die Geschichten aus dem bösen alten Märchenbuch ja schließlich nicht zum ersten Mal. Jeder bloß argumentative Widerstand mußte hier notwendig verpuffen, setzte er doch gerade das voraus, was hier angegriffen wurde: Die Vernunft. Es waren Taten nötig, die die ganze Schauerlichkeit dieser Litanei vor Augen führten, und das schwerste war es nun, sie abzuwarten und zu ertragen. Der Kampf hatte im Grunde längst begonnen, und daß der Feind davon nichts ahnen konnte, war nur ein Teil des Plans. Im Grund bekämpfte er sich selbst, seit er die Bühne betreten hatte lief er im Eilschritt auf seinen Absturz zu - man mußte ihn nur lassen.
Popa verließ die Bühne, flankiert von zwei bulligen Gestalten, die ihn nicht aus den Augen ließen und ihm die Aura eines Mannes verliehen, dessen Bedeutung sich durch mächtige Feinde offenbart. Er hielt ein Mikrophon in der Hand. Abrupt, wie auf Befehl von unsichtbaren Mächten, hielt er mitten im Schritt inne und schloß die Augen. Ein Zucken durchlief von oben nach unten seinen Körper, der nun nicht länger sein Körper, sondern ein Werkzeug des Herrn war, mit einem heftigen Ruck warf er den Kopf in den Nacken. So verharrte er erneut regungslos, das Gesicht zur Decke, die sich unter seiner Darbietung zu einer Apotheose des Himmels wandelte. Verzückt folgte man dem blinden Blick zu den Holzpanelen hin und wetteiferte innerlich, wer den Moment am heiligsten empfinde. Da riß er das Mikrophon vor den Mund und brüllte hinein, daß noch in der letzten Reihe einige erschreckt von ihrem Sitz aufsprangen: "Annemarie Horzich!" Er setzte sich wieder in Bewegung, langsam, aber zielstrebig, die Augen ständig in Bewegung, suchend, jagend, und unablässig murmelnd. "Annemarie Horzich... Annemarie Horzich... Annemarie... Wo bist du, Annemarie... Frau Horzich?" Vor einer faltigen alten Frau von vielleicht 80 Jahren im Rollstuhl, die darüber diesen Umstand halb ohnmächtig wurde, stoppte Popa. "Frau Annemarie Horzich? Waidmannsweg 29, Niederkirchhausen, sind Sie das?" Die Frau begann zu zittern. Zögernd hob sie den Kopf von der Brust, gerade so weit wie möglich, ohne das Werkzeug Gottes direkt ansehen zu müssen, und nickte. "Gott hat zu mir gesprochen. Der Herr hat mich geschickt. Er ist jetzt bei dir. Er berührt dich! Sei bereit!" Der Frau war sichtlich eingeschüchtert. Unzählige Blicke klebten ihr am Leib, sahen ihr Alter, ihre Schwäche, ihre Krankheit. Gott der Allwissende selbst sah sie an, die Müde, die Verbrauchte. Und doch hatte er sich von allen diesen sie erwählt. Sie war etwas besonderes. Ihr Glaube war stark, sie war dem Herrn ergeben, sie zweifelte nie, gerade jetzt nicht, und sie mühte sich, in diesem Moment mit aller Kraft zu glauben. Sie mühte sich rührend, dem Bild einer von Gott Berührten möglichst zu entsprechen. Sie schaute zur Decke und hob die Hände über den Kopf. Es sah aus, als wolle sie sich ergeben. "Da ist er! JETZT!!!" Popa preßte ihr die Finger an die Stirn. Der Saal war leichenstill. Sie begann zu weinen und wurde steif wie ein Brett. Erst als er sie freigab, entspannte sie sich wieder und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
"Schwester! Wie lange schon sitzt du in diesem Rollstuhl?"
"7 Jahre."
"7 Jahre! 7 Jahre! Oh, der Teufel ist stark! Aber unser Gott ist stärker! STEH AUF!"
Damit packte er sie am Arm und zog sie herauf. Sie stand wie vom Donner gerührt. Panisch krallte sie sich in seinem Ärmel fest. Da tat er einen Schritt vorwärts und zwang sie, die anders seinen Arm und ihren Stand verloren hätte, hinterher zu taumeln.
"Halleluja! Sie läuft! Ein Wunder! Dankt dem Herrn! Es ist ein Wunder." Um das Wunder perfekt zu machen, entwand er sich ihrem ängstlichen Griff, ("Lobet den Herrn!") nahm die Hand von ihrem Arm und trat einen Schritt zurück. So stand sie da, unter fünftausend Augen, aller Stützen beraubt rang sie verzweifelt um ihr Gleichgewicht ("Halleluja!"), die dürren Arme fuchtelten fahrig in der Luft herum auf der Suche nach Halt ("Sie ist geheilt!"), für vielleicht eine oder zwei Sekunden, ehe sie stürzte. Der rechte Gorilla trat rasch hinter sie und fing sie auf. Keine wollte es sehen. Während sie unauffällig zurück auf ihren Platz befördert wurde, brach im Publikum ein tosender Applaus los.
In dieser Weise fuhr er fort. Konit konnte nicht umhin, seiner Leistung in technische Hinsicht Respekt zu zollen. Es war faszinierend, wie er durch aufmunternde Einflüsterung und den Zuruf der Massen noch Moribunde zur Verschwendung ihrer letzten Reserven von Lebenskraft zu nötigen vermochte. Konit war sich sicher, mindestens einmal gesehen zu haben, wie er einem Mann von so starken Gebrechen, daß er den Mund schon nicht mehr aufzutun vermochte, fingerfertig eine Injektion versetzte, die ihm trügerische Zeugnisse eine längst aufgebrauchten Vitalität entlockten.
Zum Schluß rief er aus der Mitte der Schar ein junges Mädchen auf die Bühne, das seinem Wink nur zögernd folgte. Seinen Kopf verbarg es unter einem bunten Tuch. „Seht dies Kind! Ist ihre Hülle nicht rein und schön wie ein Engelsleib? Doch auch sie trägt das Verderben in sich.“ Er riß das Tuch von ihrem kahlen Haupt. „Geschwüre zerfressen ihren jungen Körper. Hier!“ Seine Hände umfaßten Gesicht und Stirn wie ein Schraubstock und drückten. Sie wimmerte vor Schmerzen und stolperte rückwärts. Sofort wurde sie rechts und links von den Leibwächtern gepackt und festgehalten. "Sie ist besessen! Das böse ist stark in ihr! WEICHE, SATAN!" Er ballte die Pranke zur Faust, einer großen, haarigen Faust, und reckte sie drohend in die Luft. Die Eltern des Kindes folgten dem Treiben mit gefalteten Händen und gläubigem Blick. Das Mädchen machte einen vergeblichen Versuch, die Arme zum Schutz zu heben - die Männer, die sie hielten, schienen es nicht einmal zu bemerken. Die Faust fuhr im Halbkreis von oben herab und schlug wuchtig auf den entblößten Kopf. "Hinaus, du Teufel!" kreischte Popa, "Der Zorn des Herrn wird dich zerquetschen, zerschmettern, zermalmen!" Vor ihm sank das Mädchen schlaff und besinnungslos aus der Umklammerung der Schergen zu Boden. Popa brüllte ihr ins Gesicht. "Verlasse diesen Körper, Bestie! Hinaus! Zurück in den Schlund der Hölle! In Schatten und Flammen erwarte den jüngsten Tag!"
Dann wurde seine Stimme sammetweich, und er flüsterte, wie um den Schlaf des Kindes zu schonen, durch die Verstärker: "Bringt sie nun fort. Sie wird schlafen und genesen. Bald wird alles Böse aus ihr gewichen sein." Einige Männer kamen auf die Bühne, hoben den schlaffen Körper auf eine Bahre und trugen ihn hinaus.
Konit schätzte, daß sie binnen Monatsfrist verscheiden werde.
Nebenbei bemerkt behielt er damit recht.
Popa wechselte in die Pose eines Kriegers, der unter unmenschlichen Anstrengungen einen großen Sieg errungen hat. Einige Minuten verharrte er so, schwer atmend, die Hände in die Arme der Männer gekrallt, die ihn hielten. Dann richtete er sich langsam auf. Den Kopf in verlogener Bescheidenheit gesenkt, das Mikrophon in den gefalteten Händen, schlurfte er schweigend zurück, wobei er tat, als mache jeder Schritt ihm große Mühen.
Wieder auf Bühne, drehte er sich um, schaute matt in die schweigende Menge und hob die schlaffe Rechte wie zum Abschied, so daß sich ein paar Übereifrige schon zum Applaus erhoben in dem Glauben, die Predigt sei vorbei. Da straffte sich der Körper als sei der Blitz hineingefahren, die schwere Miene floh vor den Zügen zorniger Verfinsterung, und mit gereckter Faust stieß er hervor: "Still! Schweigt still, ihr Heuchler, Narren, Götzendiener! Habt ihr nicht Wunder genug gesehen? Wollt ihr noch immer nicht vom Blendwerk falscher Götter lassen?"
Er hielt kurz inne, dann fuhr er mit weicher, versöhnlicher Stimme fort: "Verzeiht! Verzeiht, meine Brüder und Schwestern! Listenreich ist unser Feind, und ihr seid keine Krieger. Da sitzt ihr, in frommer Andacht, nicht ahnend, wie nah er euch selbst jetzt noch ist! Aber laßt euch die Augen öffnen! Seht in eure Taschen, wieviel Widerwerk darin ist! Salben, Pillen, Säfte und Zerstäuber, Spritzen, Kapseln und Inhalatoren - lügenhafte Heilsversprechen der dämonischen Mächte, die euch vom rechten Pfad und der Erlösung trennen. Und sie sind stark, diese Mächte! Von klein auf haben sie euch an die Verderbnis gewöhnt. Nun aber-" und damit schlug seine Stimme noch einmal in heiseres Kreischen um - "reißt euch los! Fort mit Satans Giftmahl! Werft alles von euch, was noch vom Zweifel zeugt, hierher damit, zu mir, zu mir!"
Und sie gehorchten. Im Saal brach ein Tumult aus, als Hunderte nach vorne stürmten und ein Sperrfeuer von Medizin auf die Bühne nieder gehen ließen. Konit erhaschte im Vorübergehen einige Blicke auf das, dessen man sich da entledigte:
Cardiotin, ein Herzmittel für Infarktgefährdete; Quitium für akute Anfälle von Epilepsie; Pulimor, ein Antibiotikum, das gewöhnlich bei schweren Lungenentzündungen verschrieben wurde; Antidepressiva; Antihistamine für Wespenstichallergiker; mehrere Asthmasprays. Und, und, und... Sie schoben, stießen und schubsten, einige wurden gar handgreiflich in ihrem unbezähmbaren Verlangen, aus vorderster Linie zu werfen. Popa steigerte sich in eine schwärmerische Ekstase befeuernder Zurufe. Er sprang auf der Bühne hin und her, stellte sich mit ausgebreiteten Armen in den irrsinnigen Regen und brüllte aus vollen Lungen: "Ja! Gut! Her damit! Weg damit! Wirf es von dir, Schwester! Und wieder ein Sieg für den Herrn! Und wieder eine Niederlage für den Satan! Werft! Werft!! Werft!! HALLELUJA!!"
Am gleichen Abend endete der Spuk. Schlag neun Uhr begann es, zehn Minuten später wußten es die Zuschauer, am Tag darauf die Presse und eine Woche später jedermann: Pedro Popa war ein Betrüger. Dabei hatte Konit weiter nichts getan, als die Veranstaltung von einem Fernsehteam aufzeichnen und ausstrahlen zu lassen - jene Anteile eingeschlossen, die der Hauptdarsteller lieber im Verborgenen gelassen hätte. Minutiös war da zu hören, was, für beinahe jedermann unsichtbar und unhörbar, im Saal gesprochen worden war.
Popa trat vor. Es quietschte. Er verzog das Gesicht und hob ein Hand zum Ohr, unterdrückte die Geste dann rasch und ließ sie in eine Allerweltsbewegung übergehen. "Annemarie Horzich." kam knisternd und scheppernd eine Stimme, die wenig himmlischen Ursprungs war, so man Caliste Popa, ihres Zeichens Komplizin und treu sorgende Ehefrau, nicht für ein höheres Wesen hielt. "Waidmannsweg 29, Niederkirchhausen. Eine lahme alte Vettel, achte Reihe, etwas rechts von dir, die im Rollstuhl. Ziemlich am Ende, aber eben noch nicht völlig. Sieh zu, daß sie den Arsch noch mal hoch kriegt. Du schaffst das. Viel Glück, Schatz!"
Popa zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Seine "Gefolgschaft der Festen im Glauben" löste sich auf. Wenig später meldete er Konkurs an.
Die öffentlichen Stellen zollten Konit widerwilligen Tribut: Er wurde Ehrendoktor der Universität von Grota, die Gesellschaft für moderne Medizin verlieh ihm eine Verdienstmedaille, die Freidenkerunion einen Orden. Es mußte scheinen, als habe er gesiegt - ihm selbst schien es so. Was er tat, war richtig und hilfreich. Es wandte die Welt zum Besseren.
Zwei Jahre später war Popa wieder da. Im Nachtfernsehen vertrieb er ein "heiliges Wasser", das er als Allheilmittel für sämtliche Lebenslagen anpries. Wie früher versprach er Heilung von allen Krankheiten an Körper und Geist, doch mehr noch: Erfolglosen sollte das Wasser eine steile Karriere verschaffen, Armen zu Reichtümern verhelfen und Verflossene wieder ihren einstigen Partnern zuführen. Daß er keine Auferstehung Verstorbener verhieß, war vermutlich ein Mangel an Phantasie seinerseits.
Über den Verkaufserfolg konnte man nur spekulieren. Ein Hinweis waren die zwei Stunden Sendezeit, die Popa wöchentlich mehrmals beanspruchte, eine luxuriöse Villa und die wachsende Sammlung teurer Neuwagen auf dem zugehörigen Grundstück waren weitere.
Konit resignierte. Er legte seine akademischen Ämter nieder. Der Wert der Wissenschaft lag in der Aufklärung der Menschen über die Welt, in der sie lebten. Die Menschen traten diesen Wert mit Füßen. Sie waren gewarnt. Sie wollten es nicht anders. Sie verdienten es nicht besser.
Das Amt des Präsidenten der skeptischen Gemeinschaft ließ er neu besetzen. Die Medienpreise, die er für die Entlarvung Popas erhalten hatte, gab er zurück.
Seine Begeisterung erlahmte. Die Misanthropie, jene allzu häufige Herbstfrucht des jugendlichen Humanismus, machte sich an ihrer Stelle breit.
Hier geht es zu Teil V:
viewtopic.php?f=1&t=10332
Das Wunder von Fatai&Der falsche Prophet - DZusG IV
Hallo Merlin!
Es geht voran
Dieser Teil könnte noch eine gewisse Sorgsamkeitsprüfung vertragen, siehe z.B. Zu jedem hatte enthielt Vagonars Akte... oder Im nächsten Wagen wurde fündig. oder und als kleinen Beitrag zur Zerstreuung lagen hier... Bei zur Reduktion des Abbaus kann es natürlich sein, dass du es genau so meinst .gif)
Was ich schon zum letzten Teil schreiben wollte: Dein Text neigt dazu (so mein Eindruck), seinen Punkt völlig, ganz und gar und ohne jeden Zweifel deutlich zu machen, und oft empfinde ich das dann als überflüssig beziehungsweise gängelnd. Ein Beispiel hier wäre: Was er sonst noch wußte, jene Wahrheit, die kaum jemand zuzumuten war, behielt er für sich. Mit diesem Wissen war niemand gedient.
Ferdigruß!
Es geht voran

.gif)
Was ich schon zum letzten Teil schreiben wollte: Dein Text neigt dazu (so mein Eindruck), seinen Punkt völlig, ganz und gar und ohne jeden Zweifel deutlich zu machen, und oft empfinde ich das dann als überflüssig beziehungsweise gängelnd. Ein Beispiel hier wäre: Was er sonst noch wußte, jene Wahrheit, die kaum jemand zuzumuten war, behielt er für sich. Mit diesem Wissen war niemand gedient.
Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)
Hoi Ferdi,
au weia. Danke für die Hinweise, es geht einem doch einiges durch die Lappen, wenn man selbst Korrektur liest.
Die "Reduktion des Abbaus" sollte eigentlich eine "Reduktion des Ausstoßes" sein - allerdings finde ich diese Fehlleistung gerade ziemlich lustig, so dass es mir fast ein wenig leid tat, das zu ändern...
Zu deinem zweiten, stärkeren Punkt: Mag sein. Allerdings ist (bzw. wird) das ganze in seinem Verlauf noch verhältnismäßig kompliziert und soll dabei auch noch den Leitgedanken tragen, um den es mir hauptsächlich geht. Man kann sich beim Schreiben ja nie ganz sicher sein, was beim Leser letztlich ankommt. Dafür sind solche Rückmeldungen letztlich vermutlich unentbehrlich. Ich werde sicher noch einmal einen kritischen Blick auf den Detailgrad verschiedener Stellen werfen, warte aber vorher lieber ab, wie andere das sehen.
Liebe Grüße und einen guten Rutsch!
Merlin
au weia. Danke für die Hinweise, es geht einem doch einiges durch die Lappen, wenn man selbst Korrektur liest.
Die "Reduktion des Abbaus" sollte eigentlich eine "Reduktion des Ausstoßes" sein - allerdings finde ich diese Fehlleistung gerade ziemlich lustig, so dass es mir fast ein wenig leid tat, das zu ändern...

Zu deinem zweiten, stärkeren Punkt: Mag sein. Allerdings ist (bzw. wird) das ganze in seinem Verlauf noch verhältnismäßig kompliziert und soll dabei auch noch den Leitgedanken tragen, um den es mir hauptsächlich geht. Man kann sich beim Schreiben ja nie ganz sicher sein, was beim Leser letztlich ankommt. Dafür sind solche Rückmeldungen letztlich vermutlich unentbehrlich. Ich werde sicher noch einmal einen kritischen Blick auf den Detailgrad verschiedener Stellen werfen, warte aber vorher lieber ab, wie andere das sehen.
Liebe Grüße und einen guten Rutsch!
Merlin
Hallo nochmal 
Ja, das mit der "Selbstkorrektur" kenne ich
Hast du denn nicht irgendjemanden "für's grobe"?! So was wie zehn Minuten später wußten es die Zuschauer es die Zuschauer findet eigentlich jeder - nur eben nicht der Autor
Und auch etwas weniger auffällige Dinge wie selbst von tödliche Geschwüre, gegen... sollten sich so tilgen lassen... Schreibst du Zahlen - 7 Jahre - eigentlich bewusst gegen die Konvention nicht aus?!
Mit gleichfalls den besten Wünschen für einen angenehmen Jahreswechsel,
Ferdi.

Ja, das mit der "Selbstkorrektur" kenne ich

.gif)
Mit gleichfalls den besten Wünschen für einen angenehmen Jahreswechsel,
Ferdi.
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 20 Gäste