Silvester

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 30.12.2009, 17:47

Das alte Jahr ist müde,
es geht am Stock.

Vorbei die Zeit
ohne Spuren im Schnee.

Narben schmerzen, darunter
wandert der Split der Erinnerung.

Auf und ab. Das Jahr tackert
den Stock ins Grau.

Zuhause wird es sich
schlafen legen.

Max

Beitragvon Max » 30.12.2009, 20:04

Liebe Leonie,

ein Abgesang auf das alte Jahr gerade zur rechten Zeit :-).

Mit dem Text habe ich trotzdem ein bisschen Schwierigkeiten. Die liegt wohl an der Originalität der verwendeten Bilder und dararn, wie sie aufeinander abgestimmt sind.

leonie hat geschrieben:Das alte Jahr ist müde,
es geht am Stock.


finde ich beispielsweise relativ gängig. Es eröffnet sich nichts Neues für mich, neu ist allenfalls das Bild des am Stock gehenden Jahres, nur finde ich das nicht so recht ausgebaut in der Folge.

leonie hat geschrieben:Vorbei die Zeit
ohne Spuren im Schnee.


Eröffnet ein neues Bild und eigentlich auch ein neues Thema. Dass es keine Spuren gibt finde ich schwer mit dem Bild eines am Stock gehenden zu vereinbaren.

Mit

leonie hat geschrieben:Narben schmerzen, darunter
wandert der Split der Erinnerung.


wird für mich schon wieder ein neues Bild eröffnet. Und auch hier stellt sich mir die Frage, ob ich die nichtexistierenden Spuren vielleicht falsch deute oder ob sie nicht - als Bild - den Narben, die das Jahr doch geschlagen oder erhalten zu haben scheint (es ist ja nicht so ganz eindeutig, wer denn die Schmerzen hat, bislang haben wir eigentlich nur das Jahr und die Zeit als agierende Subjekte, nun würde ich die Narben aber gerne einem lyr. Ich zuschreiben), widersprechen. Schön hingegen finde ich als Einzelbild die Metapher der wandernden Narbe.


Hier schließlich
leonie hat geschrieben:Auf und ab. Das Jahr tackert
den Stock ins Grau.

Zuhause wird es sich
schlafen legen.


greifst Du die Eingangsmetapher wieder auf. den "Stock ins Grau", den es ja im wirklichen Leben nicht so gibt, würde ich als ein Schreiten ins Ungewisse deuten. Nur ist das natürlich nicht besonders charakteristisch für das alte Jahr, auch ein junges weiß ja nichts von der Zukunft. Die letzte Strophe ist ein schöner Schluss für das Gedicht, aber einer, der das Eingangsbild nicht weitertreibt, sondern bei ihm verharrt.
Was mich (das mag mein Fehler sein) irritiert, ist, dass ich von den fünf Strophen gut mindestens zwei Strophen streichen könnte, ohne dass für mich Wesentliches verloren ginge. Es klänge dann so

leonie hat geschrieben:Das alte Jahr ist müde,
es geht am Stock.

Narben schmerzen, darunter
wandert der Split der Erinnerung.

Zuhause wird es sich
schlafen legen.


Liebe Grüße und einen guten Rutsch (hier ist es windig und glatt)
Max

Benutzeravatar
ferdi
Beiträge: 3260
Registriert: 01.04.2007
Geschlecht:

Beitragvon ferdi » 30.12.2009, 20:27

Hallo Max,

die Verbindung zwischen "Eins" und "Zwei" scheint mir doch zu sein, dass aufgrund der Tatsache, dass das Jahr jetzt am Stock geht, die Zeit ohne Spuren vorbei ist - eben weil Spuren jetzt unvermeidlich sind. Passt eigentlich gut?!

Hallo Leonie!

Der Jahreslauf als Menschenleben ist so alt wie die europäische Literatur, glaube ich... Sei ehrlich: Hast du tief durchgeatmet, bevor du dich an deine persönliche Umsetzung gewagt hast? :-)

Ich habe entschieden weniger Probleme mit dem Text als Max, finde allerdings, dass er etwas blass bleibt... Störend ist mir nur das "tackert" aufgefallen (ich bin mir recht sicher, dass mir dort andere Ausdrücke besser gefielen).

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Max

Beitragvon Max » 30.12.2009, 20:30

Hallo Ferdi,

ich lese durch den Zeilenumbruch

Vorbei die Zeit - ohne Spuren im Schnee

also genau das Gegenteil von Dir. Logisch erscheint mir Deine Interpretation schon, dann würde ich aber sehr einen anderen Zeilenumbruch wünschen.

Liebe Grüße
Max

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 30.12.2009, 23:55

Lieber Max, lieber ferdi,

euch schonmal danke. Fürs erste nur soviel an neuer Erkenntnis für mich: Dass Durchatmen offensichtlich gute Gedichte entstehen lässt. Danke, ferdi.

Mehr später, gute Nacht!

leonie

Benutzeravatar
ferdi
Beiträge: 3260
Registriert: 01.04.2007
Geschlecht:

Beitragvon ferdi » 31.12.2009, 00:44

Hallo Leonie,

mir geisterte die ganze Zeit ein Vers durchs Hirn, den ich aber nicht mehr auf die Reihe bekam... Jetzt habe ich einfach nachgeschlagen ;-) Im 15. Buch seiner Metamorphosen führt Ovid diesen Mensch-Jahr-Vergleich ja sogar "mit Ansage" durch, und gegen Ende kommt dann der Vers

inde senilis hiems tremulo venit horrida passu

den Reinhard Suchier übersetzt hat mit

Schaurig mit wankendem Schritt kommt endlich der greisende Winter

- und klar: der greisende Winter ging mir gleich nach dem Lesen nicht mehr aus dem Kopf, und dein Text stand dann natürlich sofort "in Verbindung" :-)

Das hat nun allerdings nicht wirklich etwas mit deinem Text zu tun, ich weiß. Verzeih mir also meine vorbettrige Geschwätzigkeit!

Ferdigruß.

PS-Edit: Wobei ich mich inzwischen ja frage, wie die Rollen zwischen alt/neu und alt/jung in deinem Text verteilt sind ;-)
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 31.12.2009, 13:24

Lieber Max, lieber ferdi,

okay, es ist nicht wirklich originell. Stimmt. (Es entsprang dem Wunsch, in einer eher unkreativen Phase in der Übung zu bleiben, und, ferdi, du hast recht, es ist nicht, wie viele andere Texte von mir, in Verbindung mit frischer Luft und "Durchatmen" entstanden.
Ich habe aber durch Eure Rückmeldung ein paar Ideen bekommen, wenn ich es noch hinkriege, versuche ich sie umzusetzen...

Lieber Max, ursprünglich war das "ohne Spuren im Schnee" so gemeint, wie ferdi es versteht. Beim Schreiben bemerkte ich selbst die Doppeldeutigkeit und es gefiel mir.

Also, die Idee war, das alte Jahr durch den Stadtmatsch gehen zu lassen, wo Split gestreut war. Vielleicht erklärt das die Bilder, auch die etwas unvermittelten Split-ter der Erinnerung.

"greisender Winter" ist natürlich viel schöner, ferdi.

Es war ein Versuch, ich sehe ein, dass er nicht besonders gelungen ist. Auch etwas zu depressiv...Vielleicht schaffe ich noch eine Neufassung.

Liebe Grüße und danke Euch!

leonie

Max

Beitragvon Max » 31.12.2009, 13:47

Liebe Leonie,

ja, ich habe inzwischen auch die Doppeldeutigkeit erkannt. Allerdings ergibt die eine Version der Doppeldeutigkeit, ausgerechnet die, die ich erkannt habe, keinen rechten Sinn im Kontext des Gedichts - daher komm tsicher auch ein Teil meiner Kritik .....
Ich glaube so ein Silvestergedich ist auch eine echte Herausforderung.

Liebe Grüße
Max


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 9 Gäste