Minus Eins gibt es nicht

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klara
Beiträge: 4530
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 10.10.2009, 20:44

Minus Eins gibt es nicht

„13 minus 14 ist Null“, sagt mein Sohn, knapp sechs Jahre alt und gerade „eingeschult“.
„ Nein“, halte ich dagegen, denn auch, wenn es hart auf hart kommt, muss man, finde ich, bei der Wahrheit bleiben, „13 minus 14 ergibt Minus Eins.“ Ich bemühe mich, in sanftem, vorsichtigem Tonfall zu sprechen, denn diese Debatte hatten wir vor ein paar Tagen schon mal, und da endete sie ergebnislos mit einem wütend um sich schlagenden Kind. Warum dieses ausgerechnet kurz vor dem Schlafengehen sein müdes, ehrgeiziges kleines Köpfchen mit so schweren Fragen belastet, bleibt ein ähnlich großes Rätsel wie die Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz einer Minus Eins.
Denn es wehrt sich, schimpfend: „Minus Eins gibt es doch gar nicht, Mama!“
Der Junge liebt Zahlen. Und er liebt es, Dinge schnell und gut im Kopf abzuhaken. Und er hasst es, wenn ihm das nicht gelingt. Während sein Bruder die zu schwierigen Dinge dann wohlweislich erst einmal beiseite legt („Och, Fahrradfahren lerne ich, wenn ich fünf bin") , um sich einer anderen Aufgabe zu widmen, die man ganz entspannt bewältigen kann, wirft dieser sich mit Vorliebe auf die schwierigen Dinge. Als wären sie seine Feinde: Er will sie bekämpfen, muss ein Verständnis herbeizwingen. Wie soll man verstehen, warum man nicht versteht? Was bedeutet "Abstraktion"? Was helfen all die Worte, wenn man die vertrackte Minus Eins nicht versteht und deshalb an einer so simplen Rechnung wie 13 minus 14 scheitert, während man doch sogar schon - stolz! - 600 plus 800 rechnen kann? Ohne Finger!
Nein: Anstatt das Verstehen zu verschieben, quält er sich mit dem Unverstandenen: Er will alles jetzt verstehen, und alles, was er jetzt nicht versteht, ist eine Beleidigung. Ein Fehdehandschuh. Der führt dann mitunter zu einem Tobsuchtsanfall, der alle Anwesenden in Mitleidenschaft zieht…
Also atme ich tief ein – wie kann ich ihm das erklären? – klammere mich an die vage Hoffnung, das sich ankündigende Unglück noch einmal abwenden zu können, wenigstens für heute, an diesem vermutlich letzten milden Abend des Jahres… Ich hab’s: Das Thermometer! „Komm mit!“, locke ich, führe ihn zum Balkon, zeige ihm die blaue und die rote Zone des Temperaturmessers. Plus und Minus. Okay, das kann er nachvollziehen, das kann man fühlen: kalt – und warm. Er nickt. Ich atme auf.
„Aber 13 minus 14 ist Null.“
Ich hätte es mir denken können: Was haben die Minus- und Plusgrade der Temperaturmessung denn schon mit abstrakten Zahlen zu tun? Nichts. So leicht lässt er sich nicht hinters Licht führen.
Ich halte ihm drei Finger hin. Klappe drei Finger weg. „Was ist das?“
„Null“. (Blöde Frage.)
Ich halte wieder drei Finger hin. Klappe diesmal die drei und einen vierten Finger weg. „Und jetzt?“
„Null.“
„Nein!“
„Doch!“
„Schau mal, es fehlt doch einer!“, erkläre ich hilflos. „Deshalb Minus Eins.“
„Minus Eins gibt es nicht!“, beharrt mein Sohn.
„Ja, nicht in Wirklichkeit“, räume ich ein, „Minus Eins kann man nicht anfassen oder angucken – aber im Kopf – da gibt es das schon, glaub mir.“
„In meinem Kopf nicht!“
Seine wütende Verzweiflung hindert mich glücklicherweise daran, mit ihm in die Konfrontation zu gehen. Ich bleibe diesmal tatsächlich ruhig, denn ich sehe (und erinnere mich dunkel an eigene Frustrationen): Er möchte so gern verstehen! Und wird es an diesem Abend doch nicht können. Er wird ins Bett gehen müssen, seinen armen kleinen Kopf in die Nacht schicken, ohne dass der die Minus Eins be-griffen haben wird. Und ich werde eine lange Weile bei ihm stehen, während er dem nächsten Schultag mit diesem unwürdig frühen Aufstehenmüssen entgegen schläft, ihm über den Kopf streichen, in dem es noch keinen Platz für eine Minus Eins gibt, sanft seine zur Faust geballte Hand lösen und ihm im Stillen recht geben: Minus Eins muss sich jemand ausgedacht haben, der nicht ganz richtig im Kopf war, oder der nichts Gutes im Schilde führte: Ein weltfremder Mathematiker, ein Rechenclown, ein Immobilienhai, oder ein Bänker? Minus Eins sind mies. Minus Eins macht Miese. Was ist das nur für eine Idee… ? Minus Eins gibt es gar nicht.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 10.10.2009, 21:30

Ach, Klara, das ist schön.
Was in diesen Kinderköpfen schon vorgeht, oder? Und wie schwer ihr Leben manchmal schon ist, obwohl es uns so leicht vorkommt.
Du hast das toll beschrieben. Und ich freue mich besonders über das Verständnis fürs Kind, das da überall durchblitzt. Das Mitgehen, Mitdenken, Mitfühlen, wo andere längst "Basta" gesagt hätten.

Schön, von Dir zu lesen! Liebe Grüße

leonie

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 10.10.2009, 23:48

Hi Klara,

fein geschrieben. Lebendig und sehr nachvollziehbar. Ja, wer hat sich sowas ausgedacht? Wie soll ein Kind so etwas Abstraktes wie minus Eins verstehen. Und wenn ich das lese, kann ich auch den Frust von dem Kleinen richtig gut verstehen.
Das hab ich sehr gern und in einem Rutsch gelesen.

Saludos
Mucki

Klara
Beiträge: 4530
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 11.10.2009, 10:41

Hello Girls,
danke für eure Kommentare :)

"Tief im Innern des Zahlenuniversums scheint etwas nicht zu stimmen."

Wer sich noch mathematischer vertiefen will: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mens ... 02,00.html

klara

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 12.10.2009, 18:37

Hallo Klara,

ein schöner, weicher und liebevoller Text. Ich freu mich auch, mal wieder etwas von dir zu lesen... kannst du inzwischen wieder aufnehmen?

liebe Grüße
Flora

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 13.10.2009, 09:46

Hallo Klara,

ja, die Sache mit den Miesen! Prima rübergebracht, besonders die Sache mit dem kleineren Bruder.

Liebe Grüße
Marlene

Benutzeravatar
Mnemosyne
Beiträge: 1333
Registriert: 01.08.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mnemosyne » 13.10.2009, 11:10

Hallo Klara,
eine sensible Darstellung einer bestimmten Stufe in der Entwicklung des mathematischen Denkens.
Danach kommt nach meiner Erfahrung die Ansicht, (-1) sei etwas ebenso klares wie 1 - bevor ein nächster Schritt zeigt, dass die 1 eben so ganz und gar nicht "klar" ist, sondern vermutlich gleichfalls nur als Abstraktion in unseren Köpfen vorkommt und die Frage, in welchem Sinn "es" Zahlen "gibt", immer schwieriger wird.
Viele Grüße
Merlin

Klara
Beiträge: 4530
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 14.10.2009, 18:26

Hallo Flora,

das freut mich (und ist glaub ich eine Premiere?), dass du das mal einfach so magst, was ich so schreib ;-)

Hallo Marlene Geselle und Mnemosyne,
danke fürs Lesen - und für die Aufklärung. Sobald man anfängt nachzudenken, wird's ja immer schwierig...

herzlich
klara

Max

Beitragvon Max » 18.10.2009, 21:32

Liebe Klara,

das finde ich sehr schön und sehr klar beobachtet.

Mich erinnert es an mein erstes Semester Mathematik, in dem man dann zeigt, es gibt nur eine 1 .. und ich dachte: Wie blöd, wenn es noch eine 1 gäbe, wäre sie mir bestimmt schon mal untergekommen ...
Jahre später überraschte mich Lisa mit der Einbsicht, es gäbe keine Null .. tatsächlich gab es ja für die Null ewig kein zeichen und auch die Rechenregeln für negative Zahlen waren im Mittelalter nicht klar.

Jedenfalls ein schöner Text
Liebe Grüße
Max

Klara
Beiträge: 4530
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 19.10.2009, 09:12

Hallo Max,

freut mich, dass du, als Mathematiker, das goutieren kannst...

Immer wieder mag ich deinen Humor:
und ich dachte: Wie blöd, wenn es noch eine 1 gäbe, wäre sie mir bestimmt schon mal untergekommen ...
;-)

herzlich
klara


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 19 Gäste