Das Strichmännchen

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 18.08.2009, 21:37

 

Konrad, sein wahrer Name bleibt unbenannt, ging gerne des Nachts philospazieren.
Dabei unterhielt er sich am liebsten mit glasglatten Fassaden.
Das Licht der Ampelanlagen nutze er, um seine Worte schön zu färben.
Manchmal huschten Fledermäuse durchs Bild. Dann zuckte er,
wurde sich für einen Moment seiner Schritte bewusst.
Aber bald schlurchte er weiter, als sei nichts wahr. Wenn er eine Frau hörte,
blieb er treu, bis sie außer Lauschweite war.
Selten ging er erleuchtete Wege. Am Anfang der Fußgängerzone kehrte er sich stets um,
setzte sein Strichgesicht auf, ging nach Hause und sprach:
„Ich war fort und du bleibst da.“


 

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 18.08.2009, 22:23

Liebe Flora,

deine Geschichte ist voller origineller sprachlicher Einfälle. Worte im Ampellicht schönfärben, das ist eine gute Idee! Besonders aberwitzig finde ich diesen Satz:
Wenn er eine Frau hörte,
blieb er treu, bis sie außer Lauschweite war.


Schlurchen ist wohl eine Verschmelzung von Schlurfen und Lurch? ;)

Der Schlusssatz ist für mich eigentlich keine wirkliche Pointe, aber wen stört das schon bei so einem schönen Text, der feine surreale Bilder erzeugt.

lg
fenestra

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.08.2009, 22:45

Hi Flora,

du erzählst hier die Geschichte vom Suppenkaspar, wobei der Schluss-Satz jedoch aus der "Geschichte vom Daumenlutscher" stammt, nur, dass du ihn umformuliert hast. ("Konrad!" sprach die Frau Mama, "Ich geh aus, und du bleibst da.") Genauso wie der Struwwelpeter hier bereits als Strichmännchen, also nur als Geist sozusagen, durch die Straßen läuft. Deshalb sind seine Worte nicht "sichtbar", liebt er "glasglatte Fassaden" und wird sich durchs Zucken seiner Schritte bewusst und bleibt immer im Dunklen.
Raffiniert gemacht!

Saludos
Mucki

Trixie

Beitragvon Trixie » 19.08.2009, 00:54

Hi Flora,

klingt sehr geheimnisvoll und intensiv, was du da erzählst. Ich verstehe nicht wirklich viel, durch Muckis Hinweise schon etwas mehr, aber es klingt "irgendwie gut" und die Regeln sind ja eingehalten. Bewundernswert, so viel Kreativität und Abstraktion in so wenig Wörter zu packen :).

Grüßlein
die Trix

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 19.08.2009, 15:40

Hallo fenestra,

Schlurchen ist wohl eine Verschmelzung von Schlurfen und Lurch? ;)

*lach* das ist Mundart, keine Eigenkreation. Ich musste auch erst recherchieren, aber es kommt anscheinend wirklich vom Lurch. nachlesen
Ich mag es klangbildlich lieber als schlurfen.
Und immerhin bin ich da in berühmter Gesellschaft :o)
Aus Kurt Tucholsky: Strafgericht?
Sie wiesen nach ... Und nun? Was wird geschehen?
Wir werden sie nach Hause schlurchen sehen.


Der Schlusssatz ist für mich eigentlich keine wirkliche Pointe, aber wen stört das schon bei so einem schönen Text, der feine surreale Bilder erzeugt.

Danke! Ja, der Schlusssatz... ich mag keine Pointen. Von daher war das schon das höchste der pointierten Gefühle. ;-)

Hallo Mucki,

eine interessante Interpretation. Gefällt mir und klingt stimmig. Ich habe zwar beim Schreiben nicht an den Suppenkaspar gedacht, aber natürlich stimmt der Daumenlutscher-Konrad-Bezug mit dem veränderten Zitat. Dank dir.

Hallo Trixie,

„sehr geheimnisvoll und intensiv“ :-) Schön, dass es so ankommt.
Unverständlich sollte er natürlich trotzdem nicht sein... zumindest nicht so, dass es den Leser verärgert. Aber das scheint ja auch nicht passiert zu sein.



Liebe Grüße
Flora

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 19.08.2009, 17:08

Liebe Flora,

poetisch-surreale Prosa, die ich sehr liebe. Ich bewundere deine sprachliche Freiheit. Was mir weniger gefällt, ist der skurrile Anteil, zB :

Konrad, sein wahrer Name bleibt unbenannt, ging gerne des Nachts philospazieren.

- warum darf er nicht einfach Konrad sein (außerdem ist "wahr" zweimal vorhanden).

Am Anfang der Fußgängerzone kehrte er sich stets um,

- warum 'sich' ?

Abgesehen von diesen Fragen : wortgewaltig und dennoch fein geschnitzt

liebe Grüße

Renate

DonKju

Beitragvon DonKju » 19.08.2009, 21:10

... möchte ich sagen: Das ist für mich bisher das Lyrischte aller Drabbles ! Und: Ohne Pointe geht es hier aber bei dieser Form, wenn ich das richtig verstanden habe, nun einmal nicht - man kann ja aber ruhig eine ganz kleine, zarte nehmen ...

Liebe Grüße an Flora von Hannes

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 20.08.2009, 10:23

Hallo Renate,

danke für deinen Komm und deine Fragen.
Was mir weniger gefällt, ist der skurrile Anteil, zB :

Konrad, sein wahrer Name bleibt unbenannt, ging gerne des Nachts philospazieren.

- warum darf er nicht einfach Konrad sein (außerdem ist "wahr" zweimal vorhanden).

Die beiden „wahr“ sind schon absichtlich gesetzt, sie beziehen sich ja auch aufeinander.
Es scheint mir für die Geschichte wesentlich, dass er nicht „einfach“ Konrad sein kann.

Am Anfang der Fußgängerzone kehrte er sich stets um,

- warum 'sich' ?

Weil es mir um eine Veränderung geht, nicht nur des Weges.


Hallo Hannes,

danke, freut mich... ja ein bisschen lyrisch und ganz klein und zart im Abgang :o) und immerhin haben wir hier 89 Wörter mehr zur Verfügung. ;-)


liebe Grüße
Flora

Andreas

Beitragvon Andreas » 20.08.2009, 10:44

Hallo Flora,

das ist mal ein wirklich starkes Drabble, was ich mir jetzt das 4. Mal vor diesem Kommentar durchgelesen habe. So ganz, fürchte ich, habe ich nicht den Zugang, aber es lichtet sich. Lediglich eine kurze Frage habe ich. Ist "schlurchen" etwas wie "schlurfen"?

Grüße
Andreas

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 21.08.2009, 09:23

Hallo Andreas,

danke! Öhm ja, das Schlurchen ist wohl unbekannter, als ich dachte. Fenestra hat auch schon gefragt, schau mal ein paar Postings weiter oben, habe ich etwas dazu geschrieben. Ja, schlurchen und schlurfen ist ähnlich, für mich ist schlurchen noch ein wenig mit einem anderen Bild verknüpft, eine andere Körperhaltung, andere Stimmung, aber das ist vermutlich sehr individuell durch Erfahrung geprägt.

liebe Grüße
Flora

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noel
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Beitragvon noel » 21.08.2009, 17:53

o
feinstes absurdistan
wie schaaaaaaaaaaaannnnnnnnnnn

gerne gelesen,
gelesen OHNE nach dem sinn
von dies & das nach
zu sinnen---
Zuletzt geändert von noel am 22.08.2009, 20:41, insgesamt 1-mal geändert.
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 22.08.2009, 20:37

Danke noel! Ich habe deinen Komm zwar nicht ganz verstanden, aber ich glaube dem Sinn nach_gespürt. :-)

liebe Grüße
Flora

Max

Beitragvon Max » 01.09.2009, 21:34

Liebe Flora,

ich bin ein wenig zweigespalten.
Jeder einzelne Satz ist sehr kunstvoll und ich freue mich an vielen gelungenen Formulierungen, vor allem auch denen, die hier in anderen Kommentaren auch schon kritisch bewertet wurden.
Schwieriger finde ich den Zusammenhang zum Struwelpeter, der nur mit guter Kenntnis vom leser hergestellt wird (vermute ich mal) und auch ein wenig den Zusammenhalt der Sätze untereinander, bei denen ich gelegentlich den Eindruck bekomme, dass die Geschichte häufig aufs Neue einsetzt.
Sprachlich finde ich die Geschichte aber von allen Drabbels eine der besten.

Liebe Grüße
Max

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 02.09.2009, 14:40

Hallo Flora!

"Ich mag keine Pointen" schreibst du, und das kann ich ziemlich gut verstehen; schon wegen der Gefahr, dass man z.B. bei einem Drabble 95 Worte schreibt, nur um die fünf folgenden vorzubereiten, und dann oft der größere Teil des Textes keinen "Wert an sich" hat... Hier bei dir geht es vielleicht gerade umgekehrt, was aber gar nichts schadet :-) Mir jedenfalls gefällt der Text wirklich gut. Lediglich die "huschenden" Fledermäuse scheinen mir etwas schematisch?!

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)


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