Abendgedanken - 2 Versionen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 07.06.2006, 22:39

Version A

Drachenwolken
fliegen ostwärts,
im Westen stürzt
blutrot die Sonne
zur Nacht.

Der fahle Mond
geht im Nacken mir auf.
Wo ist der
Aquarellhimmel, der
uns gerade noch barg?

Seit Du nicht mehr
an mich glaubst,
traue ich meinem
Schritt nicht mehr.

Laufe ziellos. Jeder
Weg fern von Dir.
Wo bist Du?

Version B

Drachenwolken
fliegen ostwärts,
im Westen stürzt
blutrot die Sonne
zur Nacht.

Der fahle Mond
geht im Nacken mir auf.
Wo ist der
Aquarellhimmel, der
uns gerade noch barg?

Laufe ziellos. Jeder
Weg fern von Dir.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 10.06.2006, 16:57, insgesamt 1-mal geändert.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 07.06.2006, 23:48

Lieber Paul Ost,

das ist sehr anrührend, finde ich. Du hast schön, tiefgehend und treffend formuliert. Zum Inhalt: Natürlich verunsichert es, wenn man verlassen wird, in welcher Form auch immer. Andererseits denke ich, Beziehung kann nur gelingen, wenn man auch sich selbst vertraut. Aber vielleicht ist genau das oft das Problem....

Liebe Grüße

leonie

Gast

Beitragvon Gast » 08.06.2006, 10:28

Lieber Paul,
mir gefallen deine Formulierungen sehr... und wie du sie als Metaphern mit Bedeutung für den am Vertrauen ( an der Liebe)Zweifelnden eigesetzt hast ...
Kein malerischer Sonnenuntergang... sondern die Sonne stürzt zur Nacht....
Dass der fahle Mond im Nacken aufgeht erinnert an die Härchen im Nacken die sich kräuseln, klingt aber besser, weil unverbraucht und poetisch.
An der Form habe ich nichts auszusetzen ;-)
LGG

Louisa

Beitragvon Louisa » 08.06.2006, 18:28

Hallo Paul!
ich finde das auch schön. Wunderbare Bilder in den ersten zwei Strophen, die eigentlich schon fast alles erklären.

Deshalb hätte ich die dritte Strophe weggelassen. Dann wirkt es noch mehr, meine ich O:) .

Liebe Grüße, louisa

PS: Wie sieht es aus mit Deinen erotischen Zeilen? Noch 36 Tage!

steyk

Beitragvon steyk » 08.06.2006, 19:07

Wieder scheiden sich die Geister, lieber Paul. Jeder liest und "fühlt" einen Text anders. Ich würde nichts daran ändern.
Gruß
Stefan

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 09.06.2006, 17:15

Hallo zusammen,

schön, dass Euch dieses etwas traurige Gedicht gefällt.

Liebe, Louisa, gerade die dritte Strophe ist mir besonders wichtig. Es geht darum, was fehlt, wenn die geliebte Person fehlt, egal wie sie abhanden gekommen ist. Den Wettbewerb habe ich nicht vergessen, zunächst muss ich aber noch Erfahrungen sammeln.

Liebe Leonie,

ich glaube, dass Menschen soziale Wesen sind. Das so genannte Selbstvertrauen wird ihnen von außen geliehen. Schwierig ist es, wenn die äußeren Stützen wegfallen. Es gibt drei wichtige Pfeiler, auf denen unser Leben ruht: Liebe, Erfolg, Gesundheit. Wenn zwei der drei Bereiche fehlen, dann haben die meisten Menschen üblicherweise ein Problem.

Stell Dir einfach vor, dass unser lyrisches Ich sehr viel Selbstvertrauen hatte, welches ihm dann genommen wurde. Dies geschieht üblicherweise durch Niederlagen. Stell Dir weiterhin vor, unser lyrisches Ich sehnt sich nach einer Geborgenheit und Liebe, die es nur in Gegenwart des lyrischen Du kennen gelernt hat.

Ich war übrigens vor kurzem in der Caspar David Friedrich Ausstellung in Essen. Mir hat vor allem die häufige Zweiteilung seiner Werke in einen düsteren und einen hellen (jenseitigen) Teil gefallen.

Beste Grüße

Paul Ost

Louisa

Beitragvon Louisa » 09.06.2006, 17:31

Hallo Paul!

Erfahrungen? Ist da wirklich so viel Erfahrung nötig? -Mmm...ich kommentiere das besser nicht weiter.

Scahde das Du die dritte Strophe nicht ausradierst. Ich finde, das ist nicht besonders Neu und enthält keine Bilder. Der Leser weiß bestimmt auch so, was das "lyrische Ich" (...) verloren hat.

Sonst ist das alles sehr schön.

Abgesehen davon finde ich Liebe und Gesundheit wichtiger als Erfolg.

Man sollte nicht verhungern, aber sonst ist Erfolg doch nicht mit den anderen beiden zu vergleichen, meine ich.

Grüßlein, louisa

PS: Wenn Du krank bist, ist Dir bestimmt egal, wieviel auf dem Konto liegt.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 09.06.2006, 20:11

Lieber Paul Ost,

danke für die Erklärungen. Ich denke trotzdem, eine gewisse eigene innere Stabilität, die sich nicht zu sehr von äußerem abhängig macht, kann nicht schaden. Wobei das natürlich leichter gesagt als getan ist. Aber ich kenne durchaus dafür beispielhafte Menschen.
Ansonsten wäre ein gut funktionierendes soziales Netz sicher eine große Hilfe, wenn eine der drei angesprochenen Lebenssäulen instabil ist. (Ich kenne übrigens die These, dass als vierte Säule Werte gelten könnten, was ich für nicht ganz abwegig halte).
Mit dem letzten Satz vertrittst Du hoffentlich nicht die Jammertal-These....

Liebe Grüße

leonie

Louisa

Beitragvon Louisa » 09.06.2006, 20:48

So lange man lebt, stehen bei mir alle Säulen kerzengerade. Ich würde auch noch "Hoffnung" hinzuzählen.

-Wenn man die nicht mehr hat, wird´s mit allen drei andern auch den Bach hinunter gehen.

Grüßlein, louisa

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 09.06.2006, 20:59

Hallo die Damen,

danke für die therapeutischen Worte, aber wir sind wohl ein wenig vom Gedicht abgekommen.

Über die Hoffnung, Louisa, haben Leonie und ich uns schon einmal unterhalten. Im christlichen Glauben wird sie ja positiv gesehen. Die Griechen waren da anderer Meinung. Aus der Büchse der Pandora entwich ganz zuletzt das schlimmste Übel: die Hoffnung.

Die Erfahrung, die ich in diesem Gedicht beschreibe, hat aber nichts mit sozialen Netzen und dem Gedanken zu tun, dass Gesundheit besonders wichtig ist oder nicht.

Richtet einmal Euren Blick auf den ausschließlichen und gewissermaßen unendlichen Anspruch der romantischen Liebe. Darum geht es hier. Um den Verlust eines Menschen, von dem man glaubt, man könne ihn nicht ersetzen.

Übrigens schwingt da auch ein kleinwenig Hybris mit: Seit Du nicht mehr an mich glaubst... Wer spricht denn da? Irgendein Mensch? Jesus Christus? Vielleicht gibt es ja noch eine Bedeutungsebene. Auch ist es nicht ganz so üblich, seinen Schritten zu trauen. Sonst traut man eher seinen Ohren nicht mehr oder den Augen.

Die dritte Strophe ist nicht ganz überflüssig.

Es grüßt

Paul Ost

Louisa

Beitragvon Louisa » 09.06.2006, 21:24

Hallo Paul,
ja, das mit den Schritten wollte ich auch noch gelten lassen, aber das: "Seit Du nicht mehr an mich glaubst..." habe ich schon oft gelesen und ich bezweifle, dass auch nur irgendjemand in dieser zeile einen religiösen Hintergrund vermutet.

Aber wenn Du sie so sehr magst, wolen wir sie mal nicht zerreden, die STrophe.

Wirklich? Die Hoffnung war das schlimmste Übel? So habe ich diese Sage noch nie gelesen.

-Ich wusste nur, dass die Hoffnung zuletzt entweicht. Bist Du Dir sicher?

Naja. Die Griechen hatten auch nicht immer recht.

Liebe Grüße, louisa

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 09.06.2006, 22:00

Hallo Paul Ost,

ein entthronter Gott? Der seine Anbeter nicht mehr findet? Davon hat die Liebe ja oft auch etwas....
Ehrlich gesagt, fiel mir bei „traue ich meinem Schritt nicht mehr“ noch eine andere Bedeutung von Schritt ein...
Für mich ist die dritte Strophe übrigens völlig okay....

Viele Grüße

leonie

Cornelia

Beitragvon Cornelia » 10.06.2006, 07:48

Lieber Paul,

ich würde die Frage zum Schluss "Wo bist Du" weglassen, dann wirkt das Ende des Gedichtes intensiver.
Der Gedanke und seine Form gefallen mir ausgesprochen gut.

Liebe Grüße
Cornelia

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 10.06.2006, 16:59

Hallo zusammen,

für die Damen gibt es jetzt eine zweite und gekürzte Version, in der dann auch wirklich jeder Bezug zur Kreuzigung fehlt. Kein "Ecce Homo", nur ein einsamer Liebhaber.

Zur Zeit könnte ich mit beiden Versionen und ihren unterschiedlichen Bedeutungsebenen leben.

Grüße

Paul Ost


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Google [Bot] und 22 Gäste