Zweifel

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 03.04.2009, 15:17

Zweifel


Jemand springt auf deinen Kopf
und erklärt dir
Philosophie und Vernunft.

Du glaubst es, oder du glaubst es nicht.

Ein Zweiter folgt,
definiert
Religion und Moral.

Du glaubst es, oder du glaubst es nicht.

Danach ein Dritter.
Er redet von
Liebe und Gefühl.

Du glaubst es, oder du glaubst es nicht.

Unter der Schädeldecke aber
hörst du eine Stimme, die
etwas sagt

über

Philosophie und Vernunft
Religion und Moral
Liebe und Gefühl.


Und du glaubst es,
oder du glaubst es nicht.

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 09.04.2009, 00:30

Hallo Sam,

ich weiß nun nicht so ganz genau, warum dieser Text in dieser Rubrik steht, aber das ist ja auch nicht so wichtig :-) Gefallen tut er mir jedenfalls! Nur das Wiederholen des "glauben / nicht" glauben ist mir etwas zu spröde, zu statisch geraten; Kann man dem Leser da nicht doch etwas mehr bieten?

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Max

Beitragvon Max » 09.04.2009, 19:54

Lieber Sam,

ich kann da schon ein ironisches Augenzwinkern erkennen.

Ich kann ferdis Kritik an dem Glauben/Nichtglauben folgen, wüsste aber keine Lösung, wie man es hier besser macht.
Deshalb halte ich lieber die Klappe, denn der Text an sich gefällt mir.

Liebe Grüße
Max

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 09.04.2009, 20:46

Hallo sam,

ich habe zweimal einen langen Kommentar zu diesem Text wieder verworfen, weil beide den Text kritisierten, aber ich fand letztlich, dass ihre Kritik nicht haltbar war. Deshalb vielleicht nur eine kürzere Rückmeldung, aber anders klappt es irgendwie nicht: Ich versperre mich der Machart des Textes total. ich kann es so beschreiben: Mir gefällt der Ton nicht und deshalb finde ich ihn nicht humorvoll oder so: Ich finde ihn nicht humorvoll und deshalb gefällt mir der Ton nicht.. ich kann mich nicht davon befreien, dass er mich an vorgesetzte Schullektüre erinnert, zwar nicht die, von der schlechten Sorte, aber doch mit diesem Gefühl, das in mir erzeugt wird, dass der Text zum einen einen begrenzten Horizont hat (bedingt durch das nachfolgende und wohl auch durch die von ferdi und Max schon angesprochene Kompositionsart) und zum anderen so wirkt, als verurteile er eine gewisse Herangehensweise (das von außen kommende erklären, definieren etc.), um dann im Grunde dasselbe zu machen.
Wie die Pointe am Ende als Pointe gemeint ist, meine ich schon zu verstehen (der Witz liegt für mich im besonderen Umbruch zwischen Und du glaubst es und oder du glaubst es nicht. In den vorausgehenden Strophen ist das ja alles in einer Zeile gesetzt. In der letzten folgt dann ein Spiel damit, ob es sich mit seinem Innen denn anders verhält als mit dem von außen auf dem Schädel springenden - und die Spannung wird aufrecht erhalten, ob es einen Unterschied gibt. Philosophisch und humoristisch betrachtet eigentlich ein gutes Ende, wie ich finde, aber aus zuvor genannten Gründen, kann ich es nicht mitgehen. Genau herausbekommen, warum dies so ist, habe ich es nicht. Vielleicht ist diese Form des Textes auch einfach nicht mein Geschmack, ich weiß es wirklich nicht.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 09.04.2009, 23:52

Hi Sam,

ich lese/verstehe deine Zeilen so:
von außen werden dem LI Sachverhalte aufgezwungen, mal wird ihm erklärt, dann definiert, dann geredet. LI wehrt es zweifelnd ab, aber es lässt LI doch nicht los, LI denkt innerlich darüber nach und kommt zum gleichen Ergebnis. Er zweifelt nach wie vor. Sprich, es spielt keine Rolle, ob es dem LI von außen auf den Kopf knallt oder LI es verinnerlicht. Das Ergebnis ist das Gleiche.

Keine Ahnung wieso, aber irgendwie spielen nach meiner Lesart die Werte Philosophie, Vernunft, Religion, Moral, Liebe und Gefühl hier gar keine Rolle. Sie sind austauschbar. Es könnten dort genauso gut andere Werte stehen. Es geht um den sich nicht verändernden Prozess beim LI.

Saludos
Mucki

Sam

Beitragvon Sam » 19.04.2009, 13:05

Hallo Ihr Lieben,

vielen Dank für eure Kommentare und verzeiht bitte, dass ich mich erst jetzt melde!


Ferdi,

die vielen Wiederholungen des "glauben/nicht glauben" hat Nicole auch bemängelt. Sie hat vorgeschlagen das Verb zu varrieren und ein Bezug zu den Substantiven zu setzen. Also Glaube in Verbindung mit Religion. Bei Liebe dann z.B. du fühlst es, oder du fühlst es nicht.

Eine andere Möglichkeit das Spröde etwas aufzubrechen, wäre den Zweiten und Dritten zusammenzufassen. Dann entfiele der "Refrain" einmal.

Mein Problem ist, dass das Spröde ja irgendwie intendiert ist. Mir ging es nicht darum ein "schönes" Gedicht zu schreiben, sondern einen ironischen (deshalb diese Rubrik) Blick auf das Thema Zweifel zu werfen. Einmal dadurch, dass der Zweifel nicht als Untentschlossenheit dargestellt wird sondern als die Summe eines glaubens oder nicht glaubens. Dazu die Irritation die sich vortsetzt, selbst bis tief in die Gedankenwelt des LYrI, welches seiner eigenen Stimme die ÜBER dem redet, was von außen eindringt ebensowenig traut. Die Wiederholungen sind für mich da eine Art Augenzwinkern, ein kurzes, boshaftes Lächeln bei der Beobachtung des Hamsters im Rad.


Max,

schön, wenn du die Ironie erkennst. Über Variationsmöglichkeiten des glaubens/nicht glaubens, habe ich oben bei ferdi etwas geschrieben.


Lisa,

ich kann dir eigentlich nicht viel entgegnen, denn du hast den Text ja eigentlich so verstanden, wie ich ihn gedacht habe. Der spannungsbogen war genau so gewollt, wie du es beschreibst, ebenfalls die letzte Zeile. Dazu noch das alleingelassene "über", welches eine Doppelbedeutung hat. Dass bei dir die Ironie oder der Humor nicht so wirkt, ist zwar schade aber völlig natürlich, denn in diesen Bereichen sind die Geschmäcker sehr verschieden und jeder hat da ja auch unterschiedliche sensible Rezeptoren.

Mit dem begrenzten Horizont gebe ich dir Recht. Es handelt sich, wie so oft, um ein Detail, oder besser gesagt, die Möglichkeit eines Details von einem Ganzen.

Mucki,

du bist mit deiner Lesart schon sehr nah an der Meine, wenn auch nicht ganz. Aufgezwungen würde ich nicht sagen. Aber du hast völlig Recht, das von außen Kommende und das Verinnerlichte führen LyrI letztlich zum gleichen Ergebnis. er akzeptiert es oder eben nicht. Wie ich schon bei ferdi oben erklärte, wird hier zweifeln als Summe von vielen "das glaube ich und das glaube ich nicht" dargestellt.

Bei der Austauschbarkeit der Werte stimme ich dir zu. Mann könnte die Liste noch erweitern oder auch beliebig verändern. Der Prozess im Lyri bleibe tatsächlich der gleiche.


Euch allen nochmals herzlichen Dank!

Liebe Grüße

Sam

Last

Beitragvon Last » 19.04.2009, 15:42

Hallo Sam,

gut, dass du dich jetzt erst meldest. So begegnet mir dein Text zur richtigen Zeit :-)

Ich stimme dir zu, dass die Wiederholung von „du glaubst es, oder du glaubst es nicht“ eine Funktion hat. Für mich hat der Witz des Gedichtes viel damit zu tun, wie diese Wiederholung ihre Wirkung entfaltet.

Es handelt sich bei diesem Vers ja um eine Tautologie. In gewisser Hinsicht ist damit nichts gesagt. Etwas tun oder etwas nicht tun, das tut man immer. In Verbindung zum Titel „Zweifel“ öffnet sich aber ein Inhalt des Satzes, der im Kontrast zwischen Zweifel und Glauben besteht. „Du glaubst es, oder du glaubst es nicht“ weist dann auf einen methodischen Zweifel hin, der darauf bedacht ist, seine Füße auf sicheren Boden zu stellen.

Dieser Zweifel entsteht in Abgrenzung zu dem, was angezweifelt wird, und das ist hier eben das, was Leute so sagen. Geredet wird dabei über die ganz großen Gedanken, wobei jeder Kategorie von Gedanken eine Strophe gewidmet ist und – aus der Perspektive des Zweifelnden – wohl die Reihenfolge der Strophen mit einem hierarchischen Absinken einhergeht. Die Verben machen das deutlich: Zunächst wird erklärt, also logisch möglichst fundierte Aussagen getroffen, danach wird definiert, also bewusst aber willkürlich ein Rahmen gesetzt, schließlich wird nur noch geredet, ohne höheren Anspruch.

Im Anschluss an diese Strophen folgt dann die Tautologie und mit der sinkenden Hierarchie wirkt auch sie immer spröder, immer abgedroschener. Mehr und mehr kristallisiert sich ihr Problem heraus, keinen wirklichen Inhalt zu haben. So kommen nun die eigenen Ansichten ins Spiel, auf die wieder in entsprechender Weise reagiert wird. Diesmal aber in einer Variation. Das Innere, Ursächliche, das auch das zweifelnde Wesen eigentlich ausmacht, ist das, von dem man eigentlich sicher sein könnte. Nun ist es aber sowohl Konsequenz als auch Routine, das „oder du glaubst es nicht“ hinten dran zu hängen.
Der Zweifel löst sich letztlich selbst auf, nicht weil er immer richtig ist, sondern, weil er nicht falsch sein kann. Darin liegt schließlich die Pointe des Gedichts, dass die Tautologie einerseits ganz richtig ist und andererseits nicht. Sie hat selbst eine Hierarchie aufgebaut, an dessen unterster Stelle sie schließlich steht, nämlich da, wo gar nichts mehr zu sagen ist. Dabei war sie so eine galante Metaposition, als sie „über“ dem Gesagten stand. Dieses Für und Wider ist die Ironie des Textes. Dass man sich nichts sagen lassen muss, aber sich vielleicht doch etwas sagen lassen sollte.

Bei der Austauschbarkeit der Werte stimme ich dir zu. Mann könnte die Liste noch erweitern oder auch beliebig verändern. Der Prozess im Lyri bleibe tatsächlich der gleiche.


Hierbei würde ich aber nicht zustimmen, wegen der Hierarchie.


Mit dem begrenzten Horizont gebe ich dir Recht. Es handelt sich, wie so oft, um ein Detail, oder besser gesagt, die Möglichkeit eines Details von einem Ganzen.


Hierbei würde ich auch zustimmen, aber der begrenzte Horizont ist für mich kein Makel des Textes. Er wird ja sozusagen hinter dem unbedingt Wahren erst aufgedeckt.

Sam

Beitragvon Sam » 23.04.2009, 17:00

Hallo Last,

herzlichen Dank für deinen Kommentar! Der mich insoweit fasziniert, dass er mich als Autor mit auf die Leserseite nimmt und Dinge zeigt, die ich nicht bewusst so gestaltet habe, aber die dennoch einen Sinn ergeben.
Natürlich würde ich gerne sagen: Ja, das mit der Hierarchie war so gewollt, darin steckt all der tiefe Sinn. Aber dem war nicht so. Ich wollte durch die Bezeichnungen (Philosophie, Religion, Liebe etc.) ein möglichst breites Spektrum abstecken - deswegen auch die Zustimmung zur Erweiterung/Austausch.
Die dazugehörigen Verben (erklärt, definiert, spricht) habe ich versucht den jeweiligen Hauptwörtern in derem Sinn zuzuordnen.
Dass dabei die von dir erkannte Hierarchie entsteht, war mir nicht bewusst, aber es entspricht dem "Gefühl", das hinter dem Text steckt und deckt sich auch mit den Gedanken, die ich mir aufgrund jenen Gefühls gemacht habe. Zumal ich die Wiederholung des glauben/nichtglauben als eine Art Spirale (in diesem Fall Abwärtsspirale) empfunden habe. Sie mündet an dem Punkt, an dem Sicherheit erwartet wird, aber nicht gegeben ist.

Im Sinne des Gedichts sage ich zu dieser deiner Bemerkung:
Dieses Für und Wider ist die Ironie des Textes. Dass man sich nichts sagen lassen muss, aber sich vielleicht doch etwas sagen lassen sollte.


Ich glaube es, oder ich glaube es nicht. :-)


Nochmals vielen Dank!

Liebe Grüße

Sam


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