Ein Mal ist kein Mal

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 09.11.2008, 10:07

3. Fassung (danke Lisa für die weitere Anregungen)

Klein und verwackelt. So bezeichnete sich Samira. Mitten auf ihrer Nasenspitze saß ein Muttermal. Das linke Schulterblatt stand hervor wie ein Flügel. Samiras Arme reichten fast bis zu den Knien, die Oberschenkel waren zu kurz geraten. Ihr Haar, stumpfbraun und struppig, schimmerte im Sonnenlicht grünlich.

Manchmal, wenn sie das Gefühl hatte, etwas besser dazustehen in der Welt, nannte sie sich „klein und grün“. Diese Momente fanden statt, wenn wir nach draußen fuhren und durch Wälder streiften. Da richtete sich Samiras kleiner Körper auf, ihr Atem stotterte nicht aus der Brust heraus, sondern floss in gleichmäßigem Strom. Ohne das geringste ängstliche Schwanken, das sie in der Stadt heimsuchte, schritt sie sicher aus. Auf dem Heimweg in der Straßenbahn sank sie jedoch wieder in sich zusammen.

Samira ist meine beste Freundin seit dem Kindergarten. Schon damals war sie anders, was sie zum beliebten Opfer machte. Ich beschützte sie, wann immer es möglich war und schlug mich sogar für sie.

Ihr Liebling, mich ausgenommen, war Haustier Felix, ein Gecko. Er lebte in Samiras Schlafzimmer hinter ihrem wertvollsten Schatz, einer gerahmten, signierten Zeichnung von Jean Cocteau, die eine Szene aus dem Film „La Belle et la Béte“ darstellte.
„Felix ernährt sich selbst“, grinste sie.
Das Bild hatte ihr die Mutter vor ihrem frühen Tod geschenkt, ebenso die Zauberkraft. Sie sagte damals, dass sie weiße Hexen wären, die mit dem Vodoo-Scheiß nichts am Hut hätten.
„Eine Lebensversicherung, wenn nichts mehr geht.“ Meine Freundin knusperte ihr billiges Knäckebrot, verkroch sich daheim in ihrem verschlissenen Lehnsessel und las Tag und Nacht in den Büchern, die sie auf dem Flohmarkt erstand.

Oberflächlich betrachtet, lebte sie von nichts. Im Nichts. Unter dem Existenzminimum. Ihr Halbtagsgehalt als Buchhalterin in einem kleinen Zuckerlgeschäft langte gerade für Miete und Heizung. Und das mit über vierzig. Ich war empört darüber, aber auch beeindruckt, denn Samiras ethisches Bewusstsein stand der Verbesserung ihrer Lebensumstände im Wege. Sie war nicht käuflich und das war ihre Crux. Es hätte so einfach sein können, einen gewissen Wohlstand zu erreichen oder wenigstens ihre Verpackung zu ändern, in der ein hochgradig gebildetes Wesen steckte. Ein kleiner Hexenzauber und schon ... aber sie weigerte sich strikt: „Nur weil ich über magische Kräfte verfüge, heißt das noch lange nicht, dass ich Dinge tue, die mich korrumpieren könnten, Stefanie“, sagte sie.
„Du würdest aber Menschen damit helfen und gleichzeitig Geld verdienen.“
„Tu ich nicht.“
„Kranke gesund machen?“, schlug ich vor.
„Und dann würden sie sich Reichtum wünschen, oder ewiges Leben oder sonst einen Irrsinn. Es gibt kaum anständige Menschen auf der Welt. Sieh dich um“, antwortete Samira und beendete das Gespräch.

Ganz selten hexte sie schon. Das wusste ich, weil ich einmal dabei war. Ich hatte sie zu einem Stadtspaziergang überredet, wir standen vor einer Boutique, in der ein tolles rotes Etuikleid hing, dass ich gern gehabt hätte. Da kreischte eine Frau hinter uns: „Hilfe, meine Tasche!“
Wir sahen den Dieb davonlaufen, Samira schnalzte mit den Fingern, und er fiel der Länge nach hin. Ihm wurde die Beute entrissen. Die ärmlich gekleidete Rentnerin war heilfroh, ihre Tasche wieder zu haben. Samira stritt zwar ab, etwas gedreht zu haben, aber ich wusste genau, dass sie es war.

Eines Tages verliebte ich mich rettungslos in Gerrit. Ein Bild von einem Kerl! Leider zeigte er null Interesse für mich. In seiner Stammkneipe himmelte ich ihn schamlos an, was Gerrit lediglich ein gelangweiltes ‚Über-mich-Hinwegsehen’ entlockte. Es war die schiere Qual.
Ich schüttete Samira mein Herz aus. Sie löffelte ihren Joghurt und rümpfte die Nase. Nun sah sie wirklich wie ein verwahrlostes Kätzchen aus, mit dem wackelnden Leberfleck.
„Hilf mir, Samira, bitte“, flehte ich liebeskrank.
„Kann nicht“, murrte sie.
„Mach doch einmal eine Ausnahme, du bist mir was schuldig. Wie oft habe ich dich aus dem Mob in unserer Kindheit rausgehauen, ha?“
Ihre Augen funkelten. „Ach? Du willst mich erpressen?“
Ich senkte den Blick vor Samiras Wut, bestand aber darauf, dass es ihre verdammte Pflicht war, mich zu unterstützen.
„Okay“, lenkte sie ein, „ich verstehe deinen Wunsch, geh hin und hol dir das Objekt deiner Begierde.“ Sie fuchtelte mit den langen Armen um mich herum, zischelte: „Szinggwigringkawumm“, für einen Moment flammte es in ihrem Wohnzimmer glutrot auf, es sirrte und pfiff, dann war es still.
Ich umarmte sie voller Glück.
„Na los doch“, sagte sie freundlich, „aber ich schwöre dir, es war die absolute Ausnahme, bitte mich niemals wieder um so etwas, denn ich werde es nicht tun. Kein einziges Mal mehr.“
Ich versprach es hoch und heilig, schwor es sogar beim Namen meiner Mutter, so aufgeregt vor Vorfreude, dass meine Stimme ganz tief und heiser klang. Ich rannte heim, um mich herauszuputzen.
Vor der Wohnungstür begegnete mir die Nachbarin. Sie sah mich seltsam an, fragte: „Wohnen Sie hier?“
War sie besoffen?
„Aber ja, Frau Meier!“, sagte ich befremdet und knallte die Tür hinter mir zu.
Fast wäre ich gestorben, als ich mich im Spiegel erblickte. Das war doch nicht möglich! Mit zitternden Fingern tippte ich Samiras Nummer ins Telefon. „Bist du sicher, du hast den richtigen Liebeszauber genommen? Weißt du eigentlich, wie ich aussehe!“, brüllte ich.
Samiras glockenhelles Lachen erklang. „Klar weiß ich das, Stefanie. Du wolltest doch unbedingt den tollen Kerl. Um ihn zu kriegen, musst du ab jetzt Stefan heißen. Kapiert?“
Ich brach ohnmächtig zusammen.
Als ich zu mir kam, warf ich einen genaueren Blick in den Spiegel, um festzustellen, dass ich ein passabler Mann war, und kicherte über die Untertreibung des Jahrhunderts. Niemals vorher war ich so schön gewesen! Waschbrettbauch, breite Schultern, bronzebraun glänzten Haut und Haar, veilchenblaue Augen blitzen vergnügt aus den edlen Gesichtszügen. Ungläubig starrte ich lange Zeit auf den Prachtkerl. Das Kleid sollte natürlich gegen ein anderes Outfit gewechselt werden; ich zog meinen größten Pullover und meine engsten Jeans an. Was für ein Knackpo!
Danach raste ich zu Samira. Eine unbekannte Schönheit öffnete mir. Ein Rasseweib im roten Etuikleid. Sie warf die golden schimmernden Locken in den Nacken.
„Na? Schon erholt vom ersten Schock?“
„Samira?“, stotterte ich.
„Komm rein“, sagte sie nickend.
Dann saßen wir nebeneinander auf ihrem Sofa und ich konnte mich einfach nicht satt sehen an ihr.
„Ein Mal ist kein Mal“, kicherte sie. „Nur für heute Abend.“
Gecko Felix lugte hinterm Cocteau hervor und schnalzte leise, als ich zum ersten Mal meine Hand zwischen die Schenkel einer Frau legte.


Korr. 1. Satz statt unsichtbar/verwackelt. Gestrichen im 3. Absatz: Klein und grau, bis unsichtbar verweigerte sie es, sich benutzen zu lassen.


2. Fassung (danke Mucki und Zefi)
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1. Fassung
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© Elsa Rieger
Zuletzt geändert von Elsa am 14.11.2008, 15:57, insgesamt 5-mal geändert.
Schreiben ist atmen

Trixie

Beitragvon Trixie » 09.11.2008, 20:23

Hi Elsa,

die Geschichte grenzt an Kitsch, aber wirklich nur "grenzt" - mir hat sie sehr gut gefallen. Ich verfolgte sie mit einem Lächeln und am Ende war ich irgendwie zufrieden.

Was mir allerdings gar nicht gefiel war der Titel. Ich bin ein paar Mal darüber geschlittert und dachte "neee, les ich nicht." Aber als ich dann sah, dass sie von dir war, erweckete das mein Interesse. Was ja nicht unbedingt der Fall sein sollte. Ich finde, der Titel ist sehr nicht-aussagekräftig und, hm, langweilig...

Das Samira sich jetzt für nur einen Abend in das Super-Weib verwandelt - ok. Weil? Achso, weil sie es bei Steffi getan hat und gefallen daran fand, mutiger wurde. Oder wie? Und wieso nur für einen Abend? Und wir Steffi dann auch wieder zurück verwandelt oder was? Und wenn Samira Steffi in einen Mann verwandelt hat, damit sie Gerrit bekommt (schwul, nehme ich an), dann müsste sie, also Steffi, doch noch immer dieselben Gefühle für Männer haben wie vorher, sonst brächte das ja nix (also auch schwul), aber du sagst, dass sich die Hormone ändern, sie sich jetzt also für Frauen interessiert (verwirr verwirr). Hat Samira das dann schamlos ausgenutzt und nie vorgehabt, ihre Freundin für den Mann ihrer Träume zu vewandeln?

Du siehst - gerade bei dem wichtigsten Teil der Geschichte bleiben noch ein paar kleine Fragen offen.

Ich mag jedoch sehr den Schreibstil. Der sagt mir zu und macht es für mich immer wieder zu einem positiven Erlebnis, wenn ich deine Geschichten lese!

Liebe Grüße
Trixie

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 09.11.2008, 20:50

Liebe Trixie,

Kitsch???? Interessant.

So viele Fragen, hm... sieh mal, es ist eine Hexengeschichte. Kannst du es nicht einfach hinnehmen? :-)

Sie ist nicht schwul geworden, aber ein richtiger Mann, dem die Hormone einschießen, was Samira ja wissen muss, sonst hätte sie sich nicht in einen Vamp verzaubert. Vorübergehend.

Lieben Gruß
ELsa
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Trixie

Beitragvon Trixie » 10.11.2008, 13:58

Liebe Elsa,

nicht Kitsch. Grenze zum Kitsch: Frau, hässlich, kein Erfolg, in der Schule gemobbt, aber am Ende wird alles gut :-).

Ich könnte es hinnehmen, wenn ich jetzt als überkritischer Lektor gelesen hätte, aber ich habe einfach als "ich" gelesen und es mich eben verwirrt und gestört, dass a.) die Fragen am Ende offen blieben und b.) ich es anscheinend "falsch" verstanden hatte, was ich aber erst erfuhr, nachdem ich die anderen Kommentare gelesen habe.

Für mich passen da einfach ein paar Dinge nicht zusammen. Ich denke, wenn du Leser-Feedback willst, dann auch solches wie meines :-)! Nichtsdestotrotz mag ich die Geschichte (bis auf den Titel ;-) ).

Liebe Grüße
Trixie

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 10.11.2008, 14:27

Liebe Trixie,

Kitsch: Achso, du meinst "Klischee"! Ich habe das Wort nicht einordnen können, weißt du?
Denn Kitsch ist für mich überbordende Adjektive und schmalztriefende Beschreibungen. Daher habe ich mich sehr gewundert, denn das kann ich in der Geschichte nicht finden.

Klischee, klar. Absichtlich, schließlich ist es eine Hexengeschichte :-)

Klar will ich dein Feedback, sonst hätte ich doch nicht extra nachgefragt.

Ich könnte es hinnehmen, wenn ich jetzt als überkritischer Lektor gelesen hätte
Das glaube ich nicht, gerade dann nicht. Aber vielleicht hättest du dann das Augenzwinkern meinerseits darin gelesen können. Schade, dass es nicht so ist.

Den Titel kann ich nicht ändern, er ist Kern der Geschichte.

Danke, dass dir trotz der vielen Fragen, dass vieles unverständlich bleibt und ohne Titel gefällt, wie ich schreibe :-)

Lieben Gruß
ELsa
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Trixie

Beitragvon Trixie » 10.11.2008, 17:42

Hi Elsa,

ok, dann nehme ich es eben so hin :-). Auch OK.

Kitsch/Klischee - jedenfalls ja, hehe.

Liebe Grüße zurück!!
Trixie

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 10.11.2008, 18:03

Liebe Trixie,

Danke dir.

Lieben Gruß
ELsa
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jondoy
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Beitragvon jondoy » 10.11.2008, 23:39

Hi Elsie :hexe0013: ,

jetzt hab ich mir hier mal den absoluten Luxus erlaubt, diese Geschichte beim Lesen einfach nur zu genießen, ohne auf irgendwas aufzupassen oder gar einen Verbesserungsvorschlag machen zu `müssen`.

Die Sprache fand ich unheimlich witzig, sie hat so einen Drive, der mir gefällt, solche phantasievollen Geschichten mag ich, könnte stundenlang zuhören, ich nehm sie einfach so leicht, wie sie geschrieben scheint *grins*, die Background-Arbeit überseh ich jetzt mal mit voller Absicht,

ich hab sie heute abend zum ersten Mal gelesen, sie klang rauchig wie ein Schluck Whiskey, bei dem ich hinterher auf das Ettiket sehe und mir denke, was ist da drin gewesen, ich denke, ne wilde Elsie, jedenfalls so hat er geschmeckt :nicken:,

In seiner Stammkneipe himmelte ich ihn schamlos an


Den Satz fand ich so witzig, so direkt, so `surreal`dafür die Location, das war ja fast Slapstick,

War sie besoffen?


Bei dem Satz (angelangt) war ich durchs Lesen schon so besoffen, dass ich ich zuerst las, die Nachbarin hätte sich das gefragt, aber in diesem Zustand spielt es für die Geschichte in diesem Moment (des Lesens) keine Rolle mehr, in der Sekunde hätt ich mich überhaupt nicht drüber gewundert, dass da irgendwie alle in der Geschichte `besoffen` waren, ähm, ja :smile:

kurz noch was zu diesem Satz:
Genau genommen lebte sie von nichts. Im Nichts. Unter dem Existenzminimum. Ihr Buchhaltergehalt reichte gerade für


weisst du, strenggenommen ist das ein knallhart realistischer Satz. In meinem engeren Bekanntenkreis kenn ich tatsächlich drei Personen, die leben im Monat von weniger als die Hälfte des Betrages, der bei uns in Deutschland als Armutsgrenze gilt. Die staatlich registrierten Armen nehmen jede staatliche Unterstützung in Anspruch, die sie kriegen können, dieser andere Schlag da, die schämen sich, nehmen das Geld vom Staat nicht in Anspruch, ich hab schon mehrmals versucht, für sie Wohngeld und die sonstige staatliche Unterstützung zu beantragen, ich hab ihnen fett den Zettel unter die Nase gehalten, dass sie viel ärmer sind, wie jede Kirchenmaus, aber die sind so stur, sie lehnen das konsequent ab, die haben echt Haltung, das sind die echten Armen für mich, die bewahren sich entgegen aller staatlichen Almosenanträge ihren Stolz.
Die Samira scheint auch eine von diesem Schlag zu sein.

Gruß,
Stefan

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.11.2008, 08:31

Lieber Stefan,

Danke, dass du mir hier mitteilst, dass die Geschichte bei dir genauso ankommt, wie sie von mir geplant und geschrieben ist. Das freut mich richtig!

ich nehm sie einfach so leicht, wie sie geschrieben scheint *grins*,
Schön!

Zum Leben im Nichts: Ja, ich kenne auch solche Menschen und bewundere sie. Für sie steht Samira.

Herzlich Danke für deinen Kommentar,
lieben Gruß
ELsie
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 11.11.2008, 17:24

Liebe Elsa,

! :-)

Ich hab die Geschichte vor ein paar Tagen angefangen, dann war etwas und ich musste vom Rechner weg, nun hab ich sie zuende gelesen und das war eine Überraschung *lach - das hat mir gefallen! Ich hab am Anfang gedacht, das wird eine ganze andere Art Geschichte als sie es dann wurde.
Ich finde sie liebenswert, heiter und witzig, darum mag ich sie, und ich denke, das ist auch ihr Anspruch. Sie schafft es die Zuneigung zwischen den beiden Frauen zu zeigen und damit Zuneigung überhaupt.
Auch finde ich es gut, dass man den Verlauf der Geschichte nicht sofort so vermutet. Ich würde allerdings den ersten Abschnitt:

Klein und grau bis unsichtbar. So bezeichnete sich Samira. Manchmal, wenn sie das Gefühl hatte, etwas besser dazustehen in der Welt, nannte sie sich „klein und grün“.

Sie ist meine beste Freundin seit dem Kindergarten. Schon damals war sie anders, was sie zum beliebten Mobbingopfer machte. Ich beschützte sie, wann immer es möglich war und schlug mich oft für sie.
Mitten auf ihrer Nasenspitze saß ein schwarzes Muttermal. Das linke Schulterblatt hob sich stärker hervor als das andere, was den Eindruck eines Buckels erweckte. Samiras Arme baumelten fast bis zu den Knien, weil die Beine zu kurz geraten waren. Ihr Haar, stumpfbraun und struppig, schimmerte im Sonnenlicht grünlich.

Genau genommen lebte sie von nichts. Im Nichts. Unter dem Existenzminimum. Ihr Buchhaltergehalt reichte gerade für Miete und Heizung. Und das mit über vierzig. Ich war beeindruckt davon, aber auch empört darüber. Samiras ethisches Bewusstsein stand der Verbesserung ihrer Lebensumstände im Wege. Sie war nicht käuflich und das war ihre Crux. Klein und grau, bis unsichtbar verweigerte sie es, sich benutzen zu lassen. Sogar von sich selbst. Es hätte so einfach sein können, ihre Hülle zu verändern, in der ein hochgradig gebildetes Wesen steckte. Ein kleiner Hexenzauber und schon ... aber sie weigerte sich strikt: „Nur weil ich über magische Kräfte verfüge, heißt das noch lange nicht, dass ich Dinge tue, die mich korrumpieren könnten.“
„Du würdest aber Menschen damit helfen und gleichzeitig Geld verdienen.“
„Es gibt kaum anständige Menschen auf der Welt“, antwortete Samira und beendete das Gespräch.
Ihr Liebling, mich ausgenommen, war Haustier Felix, ein Gecko. Er lebte in Samiras Schlafzimmer hinter ihrem wertvollsten Schatz, einer gerahmten, signierten Zeichnung von Jean Cocteau, die eine Szene aus dem Film „La Belle et la Béte“ darstellte.
„Felix ernährt sich selbst“, grinste sie. Das Bild hatte ihr die Mutter vor ihrem frühen Tod geschenkt, ebenso die Zauberkraft. Sie sagte damals, dass sie weiße Hexen wären, die mit dem Vodoo-Scheiß nichts am Hut hätten.
„Eine eiserne Reserve, wenn nichts mehr geht.“ Meine Freundin knusperte ihr Knäckebrot von Aldi, verkroch sich daheim in ihrem verschlissenen Lehnsessel und las Tag und Nacht in den Büchern, die sie günstig auf dem Flohmarkt erstand.


stilistisch etwas (!) (nicht zu sehr, der Überraschungseffekt und die stilistische Einheit sollten sich die Waage halten) an den zweiten anpassen, durch etwas Frisches, etwas etwas mehr Humor schon vorher oder "Spannung/Gummi", weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll, damit der Text auf dieser Ebene zwar umschwenkt, aber nicht zerfällt.


Details:



Ich finde, dass die Betitelung "graue Maus" und die Beschreibungen von Samira:

("Mitten auf ihrer Nasenspitze saß ein schwarzes Muttermal. Das linke Schulterblatt hob sich stärker hervor als das andere, was den Eindruck eines Buckels erweckte. Samiras Arme baumelten fast bis zu den Knien, weil die Beine zu kurz geraten waren. Ihr Haar, stumpfbraun und struppig, schimmerte im Sonnenlicht grünlich.")

nicht zusammenpassen - das sind verschiedene Dinge, finde ich. Auf die graue Maus-Beschreibung solltest du daher vielleicht verzichten, ich find's auch nicht schade drum, da in der Alltagssprache so ein Ausdruck ganz praktisch ist, weil jeder sofort weiß, was gemeint ist, aber eine Geschichte sollte die Sprachlichkeit betreffend ja gerade durch eine eigene Sprache schaffen zu erzählen, wovon sie erzählen will.

Und dann finde ich das Auftauchen des Wortes "Mobbing" wenig erzählerisch: Klar, das ist ein fester Begriff, den man als Kritiker bei einer Rezension dann auch fallen lassen sollte/könnte, aber in der Geschichte würde ich eher erzählen, wie es Samira in der Schule erging, und nicht explizit sagen, dass sie gemobbt wird.


Ansonsten fand ich das einfach herzerfrischend - war wohl auch gerade in der richtigen Stimmung dazu.

Liebe Grüße,
Lisa

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.11.2008, 23:42

Liebe Lisa,

Ui, das freut mich, dass du das gern gelesen hast, Spaß hattest.

Das "grau" ist gestrichen. "Mobbing" auch. Ich habe auch ein bisschen verschoben, damit der Stil auch oben leichter wird (wie ich hoffe).

Vielen Dank!

Oben ist die 2. Fassung.

Lieben Gruß
ELsa
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Beitragvon Mucki » 12.11.2008, 00:43

Liebe Elsie,

die kleinen Änderungen sind gut, machen die Story runder. Den Einschub mit dem Dieb und dem roten Etuikleid, das am Ende wieder auftaucht, finde ich auch fein.
Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 12.11.2008, 09:16

Liebe Mucki,

Danke fürs erneute Lesen und die Rückmeldung, fein!

Lieben Morgengruß
ELsie
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 12.11.2008, 11:34

Ja - habe es auch gerade noch mal gelesen - das mit dem Dieb ist eine tolle Idee.
:hand0051: :hand0051: Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 12.11.2008, 14:53

Liebe Elsa,

ja, die Änderungen gefallen mir auch sehr gut!

Ich hab das grau an anderer Stelle nochmal entdeckt :pfeifen:

Klein und grau, bis unsichtbar verweigerte sie es, sich benutzen zu lassen.


Ich würde sogar (vorher vergessen, entschuldige) das unsichtbar noch austauschen durch etwas anderes - denn sind Mobbing-Opfer unsichtbar? Vielleicht gibt es ja ein witziges Antonym zu zauberhaft/bezaubernd?

Ansonsten :daumen:

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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