Fall

Der Anonymus bietet Mitgliedern die Möglichkeit, ein Werk sowohl anonym einzustellen, als auch anonym (auf die Rückmeldungen) zu antworten. Bitte lest euch die FAQs gut durch, bevor ihr etwas in diese Rubrik einstellt.)
Gast

Beitragvon Gast » 12.11.2007, 00:14

Fall

Zu kurz war deine Spanne,
Kind, bemessen.
Noch vor dem ersten Schritt
warst du am Ziel.

Aus dem Nest gestoßen,
hast du, Kind,
auf deinem langen Fall
des Lebens Wimpernschlag verspürt.

Sam

Beitragvon Sam » 12.11.2007, 06:34

In der Regel haben Dichter eines gemeinsam: Sie reagieren sensibel auf die Vorkommnisse in ihrer Umwelt. Jede Erschüttterung im nahen und entfernten Umfeld wird wahrgenommen. Und alles, was da so auf der emotionalen Richterskala registriert wird, drängt danach wortgewandet Ausdruck zu finden. Wobei allerdings eine Nivellierung stattfindet, und Erschütterungen verschiedener Stärke auf den gleichen Ausdruckslevel herunter oder, wie meist der Fall, hinaufgeschraubt werden.
Da steht dann der neblige Novembermorgen neben dem plötzlichen Kindstot, das Urlauberlebnis in rauer nordlicher Küstenlandschaft neben der todbringenden Krankheit.
Die Lyrik als Sammelbecken für Gefühle, denen man, ohne sie auszudrücken, wohl nicht Herr werden kann. Also ab damit in den emotionalen Eintopf, der poetischen Ursuppe. Dem Leser wird es schon schmecken. Der kann ja auch noch in seiner Fantasie nachwürzen.

Als Leser mag dann manchmal in die Dichterriege laut hineinrufen: Es muss nicht alles zum Gedicht werden!!! Besser noch: Es KANN nicht alles zum Gedicht werden, was einem näher an den Leib rückt, als ein totgefahrener Hund nordwestlich von Peking.

Eines scheinen viele Dichter dann doch zu vergessen: Es ist nicht die Stärke des Eindrucks, den ein Ereignis auf einen Dichter ausübt, welches über die Qualität des daraus resultierenden Gedicht entscheidet. Sondern es ist die Stärke des AUSDRUCKS, den der Dichter dafür findet.

Obenstehendes Gedicht wird seinem Thema auf keinen Fall gerecht. Zweimal in die lyrische Legokiste greifen reicht einfach nicht aus. Zumal auch die falschen Steine verwendet wurden (aus dem Nest gestoßen, z.B.).

Von wahrer Lyrik ist hier nichts zu spüren. Nicht mal ein Wimpernschlag.

LG

Sam

Gast

Beitragvon Gast » 12.11.2007, 18:14

Mich erinnern die Zeilen an die "frommen" Verse, die man mir in den 50ziger Jahren ins Poesiealbum schrieb.
Wenige der Sprüche taugten etwas, aber die meisten hatten leider in etwa dieselbe Qualität, wie diese beiden Verse.

Gerade so etwas will ich hier aber nicht lesen.

Ich kann nur erahnen welch ein Ereignis dem Schreiber wohl den Anstoß zu diesen Zeilen gab.
Es geht um ein Kind - vielleicht sogar um den Verlust des eigenen Kindes, das sich zu früh (nach Ansicht des Verfassers) aus dem Nest (Elternhaus) davon gemacht hat und anscheinend auf die schiefe Bahn geraten ist.
Wenn ich weiter interpretiere lese ich das "Ziel", als Lebensende, als zu frühen Tod.
Da scheint also der Verfasser der Meinung zu sein, dass erst ein "Jenseits" die Erfüllung des Lebenssinns darstellt.
Eine sehr enge Sicht. Nichts bleibt offen, der Autor stellt fest und teilt seine Erkenntnis mit einem Anflug sentimentaler Erinnerung mit.
Ganz gleich, wie sehr ich mich anstrenge, ich lese da nichts was mich berührt.

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Beitragvon Mnemosyne » 14.11.2007, 17:04

Dem kann ich mich nicht anschließen; die erste Strophe könnte durchaus eine sehr gelungene Eröffnung eines dann aber deutlich detaillierteren Textes werden. Eben darum finde ich das ganze denn aber auch viel zu knapp, und die Bilder der zweiten Strophe verstehe ich nicht innerhalb des Kontextes, den die erste nahelegt - "aus dem Nest gestoßen"? "Langer Fall" (es ist doch eher ein kurzer)? Das ergäbe für mich z.B. Sinn, wenn es tatsächlich um die (ggf. symbolträchtige) Betrachtung eines gefallenen Kükens ginge, aber dazu wiederum will die direkte Anrede "Kind" nicht recht passen.
Was schließlich "des Lebens Wimpernschlag" anzeigen soll, ist mir dunkel - bzw. die Deutungsmöglichkeiten sind so zahlreich und unterschiedlich, daß es nichtssagend wird.
Trotzdem finde ich die erste Hälfte eindrucksvoll - ich würde mich über eine Fortsetzung freuen, die hält, was diese verspricht.


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