Vom Schwindel

Der Anonymus bietet Mitgliedern die Möglichkeit, ein Werk sowohl anonym einzustellen, als auch anonym (auf die Rückmeldungen) zu antworten. Bitte lest euch die FAQs gut durch, bevor ihr etwas in diese Rubrik einstellt.)
Gast

Beitragvon Gast » 02.11.2007, 20:35

Er ist vergeblich verliebt, seit Wochen, seit Monaten sein Dauerzustand (oder seit Jahren? seit seiner Geburt?) Er schaut in die Werbebeilagen der Tageszeitung. H&M, oder Peek& Cloppenburg sieht die hübschen Mädchen, und stellt sich vor, wie SIE in diesem Kleid, in diesem Rock aussähe, in jedem Gesicht lauert SIE, und er ist sich nicht sicher, ob es gut ist, dass er sie tatsächlich öfter sehen darf, als ihm lieb sein müsste, oder ob er daran verzweifeln würde, wann.

Wenn sie neben ihm steht, muss er sich bitter beherrschen, um sie nicht zu berühren, das fällt ihm so schwer, so schwer, und die Bitterkeit darin macht ihn weinen, später zuhause, wie er nie zuvor weinte als Erwachsener. Dann schaut sie ihn so an, dass er rot würde, wenn er das könnte, er muss weg gucken, und würde doch lieber vor ihr stehen, Auge um Auge Zahn um Zahn, seine Arme um sie schlingen, endlich.

Stattdessen bringt er sie nach Hause und sagt „tschüss, bis nächste Woche“ und gibt Acht, dass er nicht mit quietschenden Reifen anfährt, und dass er nicht den Wagen vor der Ausfahrt parkt und aussteigt und hinter ihr her rennt, doch sie ist schon im Haus, Tür zu, es ist dunkel und Regen.

An Schlaf nur mit Mühe zu denken, er schläft auch nicht, sondern träumt, und am Morgen weckt ihn der Sohn, ich muss zur Schule, Papa, machst du mir noch Frühstück. Er steht auf und fragt sich, wie einsam er wäre, wenn er nichts mehr für sie empfände, wagt kaum, die Zeitung aufzuschlagen, wegen Peek & Cloppenburg, ihr Gesicht überall, ihre Stimme, diese Stimme treibt ihn in den Wahnsinn, wie sie schmeichelt und lockt und tröstet und lacht und jeden Schritt ihm verbietet.

Wenn man vergeblich verliebt ist, stolpert man über den eigenen Schwindel am Morgen, und schluckt an den Worten im eigenen Kopf, die man dort hinein gestopft hatte, abends zuvor, um sie nicht laut zu sagen, und sie wachsen zu einem Tumor, der diesen Schwindel verursacht, der – und das ist vielleicht das Schlimmste – sich wie ein kleiner Freund gebärdet, den man nicht eingeladen hat: Er ist wenigstens da.

Louisa

Beitragvon Louisa » 02.11.2007, 21:53

Hallo anonymer Verliebter!

Es gibt viele Menschen, die eine Frau verehren und es gibt viele Frauen. (Haha...das ist mal etwas Schönes in der Welt!)

Ich frage mich: Was macht Deinen Verehrer und Deine Frau so besonders, was unterscheidet sie von zum Beispiel Werther und Lotte? Was macht sie aus?

Ich erfahre noch viel zu wenig von dieser Frau und diesem Mann. Der Erzähler selbst sieht ihr Gesicht in jedem x-beliebigen Modemagazin und genauso x-beliebig und blass erscheint einem nach dieser kurzen Beschreibung auch die Dame. Das ist schade, denn das ist sie ja sicherlich nicht.

Das würde ich ändern. Es ist ja auch nicht schwer, etwas konkreter zu werden. Dir fällt sicher eine Menge an Details ein.

Mir gefallen aber die Kontraste zwischen realen Situationen und Visionen. Wobei selbst diese nur sehr kurz angeschnitten werden. Zum Beispiel:

Wenn sie neben ihm steht, muss er sich bitter beherrschen, um sie nicht zu berühren, das fällt ihm so schwer, so schwer, und die Bitterkeit darin macht ihn weinen, später zuhause, wie er nie zuvor weinte als Erwachsener. Dann schaut sie ihn so an, dass er rot würde, wenn er das könnte, er muss weg gucken, und würde doch lieber vor ihr stehen, Auge um Auge Zahn um Zahn, seine Arme um sie schlingen, endlich.


Mir gefällt das ja, aber:

1. Wo steht er neben ihr?

2. Was tut sie dabei?

3. Was beobachtet er dabei an ihr/an sich selbst? (Nein, anschauen und rot werden ist mir zu wenig und zu bekannt.)

Dieses biblische Ende des Absatzes ist hingegen ganz originell.

Diese Fragen würde ich mir eigentlich bei jedem Absatz stellen.

Mir gefällt sehr gut:

Er steht auf und fragt sich, wie einsam er wäre, wenn er nichts mehr für sie empfände, wagt kaum, die Zeitung aufzuschlagen, wegen Peek & Cloppenburg...


Das ist eine schöne Idee, dass allein das Gefühl des Verliebtseins eine Art Geborgenheit mitbringt.

Der letzte Absatz ist mir etwas zu viel auf einmal:

Man muss sehr auf die Worte und die Bildersprache Acht geben, denke ich.

"Er" stolpert (!) über seinen Schwindel. Er schluckt die Worte, die im Kopf sind. Obwohl er sie geschluckt hat, können sie noch zu einem Tumor im Kopf wachsen, der sich wie ein ungebetener Freund verhält.

Findest Du das sehr auf den Punkt gebracht :smile: ?

Sonst ist es ja ganz süß, aber die Frau kommt mir zu kurz, obwohl sie ja augenscheinlich geliebt wird.

Viel Erfolg!
l

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 02.11.2007, 22:43

Mir fällt hier der Song von Kraftwerk ein: Das Modell

Mann hat frust vom Reallive und sieht sich in den Werbemotiven, die für Männer gemacht sind, als Partner.
Das wird jede Werbeagentur freuen. Diese Mitmenschen sprechen sie an und bieten dann die Produkte als Ersatz, oder wie?

Ich halte diesen Text für sehr gelungen, weil er die Wirkung von Werbung zeigt, und deren Zerstörung der Wahrnehmung.

Naja, und so weiter........

Mioshe

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 05.11.2007, 08:11

Der Autor kann schreiben, keine Frage. Leider kommen in dem kurzen Text nur Blitzlichter zum tragen. Mir geht es wie Louisa, ich möchte mehr wissen.

Warum er sich "bitter" beherrschen muss, erhellt sich mir nicht. Ich kann das nicht sehen, es ist eine Behauptung. Dann frage ich mich auch, warum er sie nicht einfach, wie gewünscht, in die Arme nimmt? Er ist offensichtlich ein erwachsener Mann, er hat einen Sohn.

Einfach zu kurz, zu angedeutet, was schade ist. Ich hoffe, es ist ein Auszug, der Beginn einer längeren Erzählung.

Lieben Gruß
ELsa
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