Agathes Verwandlung

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 14.03.2012, 16:12

Zweite Fassung

Agathes Verwandlung

Als sie bereits das sechzigste Jahr überschritten hatte, wurde aus Agathe über Nacht eine kleine Ziege. Genauer gesagt, eine Bergziege mit braunem Fell; ein liebes Tier, aber eine Ziege. Sie selbst hatte das beim Aufstehen nicht sofort bemerkt. Instinktiv hatte sie sich auf die Hinterbeine aufgestellt, als sie wie jeden Morgen ihren ersten Gang verrichtete: zur Toilette.

Da sie die Brille auf dem Nachttisch immer liegen ließ, ein kleiner Test, um festzustellen, ob sie im Katastrophenfall auch ohne Brille überleben könnte, entging ihr zunächst die Veränderung, die ihre Gestalt erfahren hatte. Doch bereits das Betreten des kleinen Raumes, den sie und ihr Ehegatte, in dieser Großstadtwohnung als WC vorgefunden hatten, war ihr schlicht unmöglich. Sie tänzelte erst einige Male um die Türe herum, und fand nicht heraus, wie sie sich hätte niederlassen können. Sie schätzte ihre körperlichen Ausmaße völlig falsch ein. Es gelang ihr immerhin, ihre Notdurft zu verrichten, aber auf so ungeschickte Art, dass sie anschließend nach einem Putzeimer suchen musste. Das wiederum führte zu einem höchst unbefriedigenden Ergebnis.

Erst bei dieser Gelegenheit bemerkte sie, dass ihr die Hände abhanden gekommen waren. An ihrer Stelle befanden sich Pfoten oder Läufe, die ihr bei der Handhabung der meisten menschlichen Möbel oder Gegenstände wenig nutzten. Sie schaute an sich herunter, genauer gesagt, an sich vorbei. Ihr Hals hatte an Beweglichkeit gewonnen, was ihre Gliedmaßen an Geschicklichkeit verloren hatten.

Auf dem kurzen Weg zurück ins Schlafzimmer beäugte sie dieses Mal ihre veränderte Gestalt und fand sich als Ziege recht bemerkenswert. Das schmale Gesicht des Bergtiers war ihr sympathisch. Sie setzte zu einem jener kurzen Sätze an, mit denen sie sich morgens häufig zu ermuntern versuchte. Doch ein Krächzen und Knacken in ihrer Kehle wollte sich nicht in Laute umwandeln lassen. Auch hörte sie nichts, was nach Räuspern oder Husten hätte klingen können. Sie schaute die Bergziege, die ihr im Spiegel gegenüber stand forschend an. Es wollte ihr nicht einleuchten, dass sie ihre Gedanken nicht aussprechen konnte. Sie setzte noch einige Male zum Sprechen an: nichts Verständliches, nur ein aufgeregter Quietschton entkam ihren Lippen.

Sich so im großen Wandspiegel zu sehen: ein zäh-geschmeidiges Bergtier, dem es an Kraft und Sprungbereitschaft nicht fehlte, kam Agathes heimlicher Sehnsucht nach Beweglichkeit und Anmut entgegen, aber der Verlust der Sprache versetzte sie in große Unruhe. Sie konnte sich wegen der Hufe und der verhärteten Fußteile weder die Augen wischen, noch sich Contenance geben, wie sie es oft tat, wenn sie als gealterte Frau nackt vor dem Spiegel stand und sich mit Bedauern ansah. Dazu fehlte einfach der entscheidende Bestandteil solcher Contenance, eine stets ausgeprägte Taille. Diese hatte oft ausgereicht, um einen einst wohlgeformten Körper erahnen zu lassen. Aber, sie sah sich als Ziege noch einmal an: als Ziege war ihr Alter nicht zu erkennen. Das, dachte das Bergtier, war ein deutlicher Vorteil.

Ihr einziger Wunsch war nun, nach dieser morgendlichen Metamorphose, wieder in den Schlaf zu fallen, tief, sehr tief, in der Hoffnung, ihr Körper möge sich eines Besseren besinnen, vernünftig werden und sie eines Dilemmas beheben. Sie schob mit den Hufen die Bettdecke beiseite und in Erinnerung an ihre menschlichen Gewohnheiten, glitt sie seitwärts ruckend unter eine angenehm mit vielerlei Gerüchen ausgestatteten Bettdecke und suchte mit ihrer schmalen feuchten Schnauze den Kontakt zur Achselhöhle ihres Ehegatten und verweilte dort ein wenig. Als Ziege genoss sie ganz besonders die salzig schmeckenden Sekretionen und ihrem Gatten, der im Traum aufseufzte, machte es offensichtlich nichts aus, von einer etwas rauhen Ziegenzunge gestreichelt zu werden.

Agathe, oder vielmehr die Bergziege schloss nun die Augen. Ihre Träume wurden mit einem Mal überrollt mit Bildern aus der freien Natur, da waren Berge und hohe Alpengipfel, Orte, an denen sie nie in ihrem Leben gewesen war, die sich nun in ihre Traumbilder einschlichen.

In großen Sprüngen erging sie sich in der freien Natur, in der ihr Körper keine Müdigkeit und keine Abnutzung verspürte. Während sich Berggipfel um Berggipfel in ihre Erinnerungen einschlich, lernte sie den Geruch der Wurzeln und Flechten kennen, an denen sie sich nicht sattessen konnte. Sie genoss den feinen würzigen Geschmack eines bitteren Krauts, das ihr, so schien es Agathe, absichtlich in den Weg kam, wo immer sie sich auch hinwendete.
Im Traum verschwanden dann allmählich alle Erinnerungen an ihr menschliches Dasein und Agathe wusste nur noch von sich als von einer Bergziege, die sich in die oberen Etagen eines sechstöckigen Wohnhauses verirrt hatte.

Als ihr Ehegatte am nächsten Morgen aufwachte, und neben sich eine kleine Bergziege vorfand, machte er sich sofort daran, seiner Ehegattin das verwandelte Leben so angenehm wie irgend möglich zu gestalten. Denn ihm war klar, dass es sich um eine jener seltenen Metamorphosen handelte, der nichts widersetzt werden konnte. Zwar hätte er sich gewünscht, seine Frau hätte entweder David Garnetts „The Lady into Fox“ nicht gelesen, oder aber sie hätte sich wenigstens an den Ablauf der Handlung gehalten, und hätte sich damit begnügt, zu einer Füchsin zu werden.

Im Unterschied zum Gatten der kleinen Füchsin, war es ihm nämlich nicht möglich, die kleine geschmeidige Bergziege im nahe liegenden Jagdgebiet unterzubringen. Nicht nur fehlte es dem bescheidenen Großstadtbewohner an der Weitläufigkeit eines Landsitzes, wo sich Füchse und Hasen hätten treffen können, es fehlte ihm überhaupt an Möglichkeiten, die ihm erlaubt hätten, seine kleine Bergziege unter akzeptablen Bedingungen unterzubringen.

Die Tage, die der unerwarteten Metamorphose Agathes folgten, waren für den Ehegatten ein einziger Albtraum. Das Trippeln und Springen der Bergziege führte zu Beschwerden seitens der Nachbarn. Der Steinboden, auf dem die beiden Gatten zuvor leise und behutsam auftraten, wurde durch die klappernden Ziegenhufe eine Art Schlaginstrument und die so entstandenen Geräusche waren dem jungen Pärchen, das die darunterliegende Vierzimmerwohnung in Erwartung der Geburt eines Kindes soeben bezogen hatte, völlig unerträglich. Der Anblick der Bergziege, den der Ehegatte nicht hatte vermeiden können, hatte die junge schwangere Frau in höchste Irritation versetzt.

Der darunter wohnende pensionierte Lehrer entwickelte seinerseits durchaus Verständnis für eine so sonderbare und irgendwie faszinierend erscheinende Geschichte, die jedenfalls nicht in jedem Wohnhaus vorkam. Er suchte sogar sehr deutlich das Gespräch mit Agathes Ehegatten, was diesem peinlich war. Aber auch diese kurze Toleranzepisode, von der Lektüre skurriler Texte genährt, nahm ein Ende. Denn es war eine Sache, sich eine solche Geschichte mit ihren Seltsamkeiten gemütlich im Lesesessel zu Gemüte zu führen, und eine ganz andere, sie als etwas befremdende Realität zu erleben.

Der Ehegatte kümmerte sich sorgsam um das leibliche Wohl der Ziege und versorgte sie mit Bergkräutern. Er richtete einen kleinen Brunnen ein, in dem das Wasser frisch in ein kleines Becken sprudelte. Er legte im Bad eine sandbestreute Comfortecke an, denn alle käuflichen sanitären Vorrichtungen für Tiere erwiesen sich als unzureichend. Nachdem er größere Plastikwannen besorgt hatte, konnte sich Agathe, die sich als Ziege vorbildlich verhielt, wenigstens im notwendigen Maße ihren körperlichen Verichtungen nachgehen.

Agathe erkannte zwar noch die Wohnung, den Ehegatten, und insbesondere den Steinboden, der ihr für ihre täglichen Bergsprünge besonders geeignet schien, doch war ihr nach ihrer Verwandlung nicht nur das bewusste Sprechen, sondern auch das Lesen unmöglich geworden. Nur die aus den großen Fenstern hereinfallenden Lichtstrahlen erweckten ihr Interesse. Sie erhob sich mit den ersten Morgenstrahlen, suchte nach den Kräutersträußchen, die ihr Gatte in einer gewissen Höhe angebracht hatte. Ihm schien es angebracht, der kleinen Ziege zu erlauben, sich kleiner Sprünge zu bedienen, um an die Kräuter zu gelangen. Ganz so, wie er es in einem Tierfilm beobachtet hatte. Einige Tage lang mochte diese seltsame Verquickung von Berg und Großstadtwohnung noch hingehen. Dann mussten die von ihrem Ehegatten vorbereiteten umwälzenden Veränderungen in die Wirklichkeit umgesetzt werden.

In einem geräumigen Lada, der ihnen früher zum Transport der Familie, der Kinder und Enkelkinder gedient hatte, fuhren sie Autobahn um Autobahn hinter sich lassend in die nächst gelegenen Berggebiete. Agathes Ehegatte konnte seinen Blick kaum vom Rückspiegel abwenden. Zu seinem Bedauern hatte er Agathe nämlich in einem verschlossenen Kofferraum unterbringenmüssen, nachdem sich eine Probefahrt als höchst gefährlich erwiesen hatte. Denn Agathes Ungeduld machte sich in ihrer Ziegengestalt besonders deutlich bemerkbar. Eine an die Windschutzscheiben hämmernde Bergziege jedenfalls hätte über kurz oder lang zu einem Unfall geführt. So musste er Agathe schweren Herzens dort einquartieren, wo der vorige Besitzer des Wagens ein Haustier ungebracht hatte. So fuhren sie schweigend ihrer unvermeidlichen Trennung entgegen.

Erst als sie nach stundenlanger Aufwärtsfahrt über schmale Serpentinen vor einer Berghütte angelangt waren, verlor Agathe nach und nach an Mattigkeit. Dennoch verharrte sie unruhig in ihrem geschützten Plätzchen, die Sinne benebelt von Benzin- und Ölgestank. Die Klapptür zum Kofferraum war schon lange Zeit offengestanden, als Agathe sich endlich auf ihre vier Beine stellte und vorsichtig aus dem Auto herauskletterte.

Was blieb ihr anderes übrig? Sie schaute sich um und stellte fest, dass dies ihre Welt war, dass sie hierher gehörte, in die noch freie Natur. Ein paar Probeläufe zeigten ihr, dass sie sich langsam einfinden könnte, in dieses Leben, das aus einem täglichen Springen und Suchen bestand. Zwar sah sie ihr altes Leben in Gestalt ihres Ehegatten nicht ohne Bedauern entschwinden. Doch sie wussten beide, dass es so und nicht anders war: Die Bergziege Agathe hätte in den Großstadtgepflogenheiten und Gerüchen nicht weiterleben können.

Ihr Ehegatte sah mit Bedauern, wie sich das kleine, zähe Bergtier den Steinen und Gebirgspflanzen zuwandte, wie es schnupperte und zu Sprüngen ansetzte. Für zwei Wochen blieb er noch in der nächst gelegenen Berghütte, las noch einmal David Garnetts Erzählung und hoffte, sich der Geschichte, der Metamorphose und der neuen Lebensweise seiner Gattin würdig erwiesen zu haben.

Dann im Bewusstsein, das Richtige getan zu haben, überließ er Agathe ihrer neuen Welt. Er rief ihr beim Abschied noch zu, dass er sie besuchen würde, so oft es ihm seine Verpflichtungen erlaubten. Dann war Agathe allein, mitten in der Bergwelt, die ihr nun keinen Schutz mehr bot, keinen anderen jedenfalls als ihr geschmeidiges Fell und ihre raschen, beweglichen und sprungsicheren Beine.

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Agathes Verwandlung

Aus Agathe wurde über Nacht, als sie bereits das sechzigste Jahr überschritten hatte, eine kleine Ziege. Genauer gesagt, eine Bergziege mit braunem Fell; ein liebes Tier, aber eine Ziege. Sie selbst hatte das beim Aufstehen nicht sofort bemerkt. Instinktiv hatte sie sich auf die Hinterbeine aufgestellt, als sie wie jeden Morgen ihren ersten Gang verrichtete: zur Toilette.
Da sie die Brille auf dem Nachttisch immer liegen ließ, ein kleiner Test, um festzustellen, ob sie im Katastrophenfall auch ohne Brille überleben könnte, übersah sie zunächst ihr verändertes Aussehen. Doch bereits das Betreten des kleinen Raumes, den sie und ihr Ehegatte, in dieser Großstadtwohnung als WC vorgefunden hatten, war ihr schlicht unmöglich. Sie tänzelte erst einige Male um die Türe herum, und fand nicht heraus, wie sie sich hätte niederlassen können. Sie schätzte ihre körperlichen Ausmaße völlig falsch ein und, zu ihrer großen Schande, gelang es ihr zwar, ihre Blase zu entleeren, aber auf so ungeschickte Art, dass sie anschließend nach einem Putzeimer suchen musste.

Auch das führte zu einem höchst unbefriedigenden Ergebnis. Bei dieser Gelegenheit merkte sie erst, dass ihr die Hände abhanden gekommen waren. An ihrer Stelle befanden sich Pfoten oder Läufe, die ihr das Benutzen, das Öffnen oder Schließen menschlicher Möbel oder Gegenstände versagten. Sie schaute an sich herunter, genauer gesagt, an sich vorbei. Ihr Hals hatte an Beweglichkeit gewonnen, was ihre Gliedmaßen an Geschicklichkeit verloren hatten.
Auf dem kurzen Weg zurück ins Schlafzimmer beäugte sie dieses Mal ihre veränderte Gestalt und fand sich als Ziege recht bemerkenswert. Das schmale Gesicht des Bergtiers war ihr sympathisch. Es wollte ihr nicht einleuchten, dass sie ihre Gedanken nicht aussprechen konnte. Sie setzte einige Male zum Sprechen an: nichts Verständliches, nur ein aufgeregter Quietschton entkam ihren Lippen. Dabei schien es doch Agathe, dass mit Ausnahme ihrer neuen tierischen Gestalt, nichts in Konflikt mit einer sprachlich weiterhin anspruchsvollen Innenwelt stand. Letztere glaubte sie nun gerade zum Ausdruck bringen zu müssen..

Sich so im großen Wandspiegel zu sehen: ein zäh-geschmeidiges Bergtier, dem es an Kraft und Sprungbereitschaft nicht fehlte, schmeichelte Agathe einerseits, um sie auf der anderen Seite in extreme Unruhe zu versetzen. Sie konnte sich wegen der Hufe und der verhärteten Fußteile weder die Augen wischen, noch sich Contenance geben, wie sie es oft tat, wenn sie als gealterte Frau nackt vor dem Spiegel stand und sich mit Bedauern ansah. Als Ziege war ihr Alter nicht eindeutig zu erkennen. Das, dachte das Bergtier, war ein deutlicher Vorteil.

Ihr einziger Wunsch war nun, nach dieser morgendlichen Metamorphose, wieder in den Schlaf zu fallen, tief, sehr tief, in der Hoffnung, ihr Körper möge sich eines Besseren besinnen, vernünftig werden und sie eines Dilemmas beheben. Sie schob mit den Hufen die Bettdecke beiseite und in Erinnerung an ihre menschlichen Gewohnheiten, glitt sie seitwärts ruckend unter eine angenehm mit vielerlei Gerüchen ausgestatteten Bettdecke und suchte mit ihrer schmalen feuchten Schnauze den Kontakt zur Achselhöhle ihres Ehegatten und verweilte dort ein wenig. Als Ziege genoss sie ganz besonders die salzig schmeckenden Sekretionen und ihrem Gatten, der im Traum aufseufzte, machte es offensichtlich nichts aus, von einer etwas rauhen Ziegenzunge gestreichelt zu werden.
Agathe, oder vielmehr die Bergziege schloss nun die Augen. Ihre Träume wurden mit einem Mal überrollt mit Bildern aus der freien Natur, da waren Berge und hohe Alpengipfel, Orte, an denen sie nie in ihrem Leben gewesen war, die sich nun in ihre Traumbilder einschlichen.
In großen Sprüngen erging sie sich in der freien Natur, in der ihr Körper keine Müdigkeit und keine Abnutzung verspürte. Während sich Berggipfel um Berggipfel in ihre Erinnerungen einschlich, lernte sie den Geruch der Wurzeln und Flechten kennen, an denen sie sich nicht sattessen konnte. Sie genoss den feinen würzigen Geschmack eines bitteren Krauts, das ihr, so schien es Agathe, absichtlich in den Weg kam, wo immer sie sich auch hinwendete.
Im Traum verschwanden dann allmählich alle Erinnerungen an ihr menschliches Dasein und Agathe wusste nur noch von sich als von einer Bergziege, die sich in die oberen Etagen eines sechstöckigen Wohnhauses verirrt hatte.
Als ihr Ehegatte am nächsten Morgen aufwachte, und neben sich eine kleine Bergziege vorfand, machte er sich sofort daran, seiner Ehegattin das verwandelte Leben so angenehm wie irgend möglich zu gestalten. Denn ihm war klar, dass es sich um eine jener seltenen Metamorphosen handelte, der nichts widersetzt werden konnte. Zwar hätte er sich gewünscht, seine Frau hätte entweder David Garnetts „The Lady into Fox“ nicht gelesen, oder aber sie hätte sich wenigstens an den Ablauf der Handlung gehalten, und hätte sich damit begnügt, zu einer Füchsin zu werden.
Im Unterschied zum Gatten der kleinen Füchsin, war es ihm nämlich nicht möglich, die kleine geschmeidige Bergziege im nahe liegenden Jagdgebiet unterzubringen. Nicht nur fehlte es dem bescheidenen Großstadtbewohner an der Weitläufigkeit eines Landsitzes, wo sich Füchse und Hasen hätten treffen können, es fehlte ihm überhaupt an Möglichkeiten, die ihm erlaubt hätten, seine kleine Bergziege unter akzeptablen Bedingungen unterzubringen.

Die Tage, die der unerwarteten Metamorphose Agathes folgten, waren für den Ehegatten ein einziger Albtraum. Das Trippeln und Springen der Bergziege führte zu Beschwerden seitens der Nachbarn. Der Steinboden, auf dem die beiden Gatten zuvor leise und behutsam auftraten, wurde durch die klappernden Ziegenhufe eine Art Schlaginstrument und die so entstandenen Geräusche waren dem jungen Pärchen, das die darunterliegende Vierzimmerwohnung soeben bezogen hatte, völlig unerträglich.
Zwar hatten die literarisch interessierten und weltoffenen Hausnachbarn durchaus Verständnis für eine so sonderbare und irgendwie faszinierend erscheinende Geschichte, die jedenfalls nicht in jedem Wohnhaus vorkam, aber es war eine Sache, sich eine solche Geschichte mit ihren Seltsamkeiten gemütlich im Lesesessel zu Gemüte zu führen, und eine ganz andre, sie als etwas befremdende Realität zu erleben.

Der Ehegatte kümmerte sich um das leibliche Wohl der Ziege und versorgte sie mit Bergkräutern und richtete einen kleinen Brunnen ein, in dem das Wasser durch eine Durchlauftechnik besonders frisch ins Becken sprudelte. Er legte im Bad eine sandbestreute Comfortecke an, denn erwiesen sich alle käuflichen sanitiären Vorrichtungen für Tiere als unzureichend. Aber als er größere Plastikwannen besorgt hatte, konnte sich Agathe, die sich als Ziege vorbildlich verhielt, wenigstens im notwendigen Maße ihren körperlichen Verichtungen nachgehen.
Agathe erkannte zwar noch die Wohnung, den Ehegatten, und insbesondere den Steinboden, der ihr für ihre täglichen Bergsprünge besonders geeignet schien, doch war ihr bereits am zweiten Tag nach ihrer Verwandlung das bewusste Sprechen und vor allem das Lesen unmöglich geworden. Sie achtete nun noch auf den Ablauf der Veränderungen des Lichteinfalls, der sich durch interessante Schattenzeichnungen auf den Einrichtungsgegenständen abzeichnete. Sie erhob sich mit den ersten Morgenstrahlen, suchte nach den Kräutersträußchen, die ihr Gatte so angebracht hatte, dass sich die Ziege kleiner Sprünge bedienen musste, um sie auszureißen, ganz so, wie er es in einem Tierfilm beobachtet hatte. Einige Tage lang mochte diese seltsame Verquickung von Berg und Großstadtwohnung noch hingehen. Dann mussten die von ihrem Ehegatten vorbereiteten Veränderungen in die Wirklichkeit umgesetzt werden.

In einem geräumigen Lada, der ihnen früher zum Transport der Familie, der Kinder und Enkelkinder gedient hatte, fuhren sie Autobahn um Autobahn hinter sich lassend in die nächst gelegenen Berggebiete. Agathes Ehegatte, dem es ohnehin an Schwatzhaftigkeit mangelte, konnte seinen Blick kaum vom Rückspiegel abwenden, wo er das matte Tier sehen konnte, das im abgetrennten Kofferraum untergebracht war. So fuhren sie schweigend ihrer unvermeidlichen Trennung entgegen.
Erst als sie nach stundenlanger Aufwärtsfahrt über schmale Serpentinen vor einer Berghütte angelangt waren, verlor Agathe nach und nach an Mattigkeit. Dennoch verharrte sie unruhig in ihrem geschützten Plätzchen, die Sinne benebelt von Benzin- und Ölgestank. Die Klapptür zum Kofferraum war schon lange Zeit offengestanden, als Agathe sich endlich auf ihre vier Beine stellte und vorsichtig aus dem Auto herauskletterte.

Was blieb ihr anderes übrig? Sie schaute sich um und stellte fest, dass dies ihre Welt war, dass sie hierher gehörte, in die noch freie Natur. Ein paar Probeläufe zeigten ihr, dass sie sich langsam einfinden könnte, in dieses Leben, das aus einem täglichen Springen und Suchen bestand. Zwar sah sie ihr altes Leben in Gestalt ihres Ehegatten nicht ohne Bedauern entschwinden. Doch sie wussten beide, dass es so und nicht anders war: Die Bergziege Agathe hätte in den Großstadtgepflogenheiten und Gerüchen nicht weiterleben können.

Ihr Ehegatte sah mit Bedauern, wie sich das kleine, zähe Bergtier den Steinen und Gebirgspflanzen zuwandte, wie es schnupperte und zu Sprüngen ansetzte. Für zwei Wochen blieb er noch in der nächst gelegenen Berghütte, las noch einmal David Barnetts Erzählung und hoffte, sich der Geschichte, der Metamorphose und der neuen Lebensweise seiner Gattin würdig erwiesen zu haben.

Dann im Bewusstsein, das Richtige getan zu haben, überließ er Agathe ihrer neuen Welt. Er rief ihr beim Abschied noch zu, dass er sie besuchen würde, so oft es ihm seine Verpflichtungen zuließen. Dann war Agathe allein, mitten in der Bergwelt, die ihr nunmehr keinen Schutz mehr bot, keinen anderen jedenfalls als ihr geschmeidiges Fell und ihre raschen, beweglichen und sprungsicheren Beine.
Zuletzt geändert von Anonymus am 16.03.2012, 09:12, insgesamt 2-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.03.2012, 20:10

Wunderbar skurriler Text!
Noch besser hätte er mir gefallen, wenn die ganze Verwandlung und das Danach mit einer Selbstverständlichkeit beschrieben worden wären, als ob es das Normalste von der Welt wäre. Etliche Sätze sind bereits so geschrieben. Hier z.B.:
Anonymus hat geschrieben:Als ihr Ehegatte am nächsten Morgen aufwachte, und neben sich eine kleine Bergziege vorfand, machte er sich sofort daran, seiner Ehegattin das verwandelte Leben so angenehm wie irgend möglich zu gestalten.

Diesen Stil hätte ich komplett durchgezogen.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 15.03.2012, 00:14

....wenn diese Bergziege innerlich so tickt, dass sie im 6. Stock tatsächlich ein Loftklo aufsuchen will, geht mir nicht den Kopf, warum die dann bei der Autobahnfahrt nicht vorne im Auto sitzen will, sondern meckerlos hinnimmt, dass sie während der Fahrt hinten im abgetrennten Kofferraum eingesperrt wird. Vielleicht hat sie ja Angst, dass sie an der Schweizer Grenze wegen ihres beschissenen Passbildes nicht anstandslos durchgewunken wird...

.....weil im Text das Wort metamorphoesie mehrmals vorkommt, stelle ich mir die ganze Geschichte ohnehin etwas metamorpompöser vor.... als eine Art Halbfabel..ein Mann bewohnt mit seiner Partnerin eine Großstadtwohnung, ihr kommt quasi über Nacht in den Sinn, dass die urbane Autonomie ihren Naturtrieb doch zu sehr einschränkt, sie träumt von einem Leben in der freien Natur, am besten in einer "abgelegenen" Alpenregion, fühlt sich plötzlich (wieder) jung wie eine Bergziege, die ihren Freiheitsdrang ausleben will...
Dem/der Verfasser/in des Textes ist Agathes Wandlung am Ende wohl selbst nicht so ganz geheuer, weil er die Erzählung so enden lässt..."..mitten in der Bergwelt, die ihr nunmehr keinen Schutz mehr bot.."
Zuletzt geändert von jondoy am 15.03.2012, 06:53, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Zefira » 15.03.2012, 00:16

Ich habe es mit Vergnügen gelesen, allerdings scheinen mir die Satzkonstruktionen manchmal etwas gewollt kompliziert:

Sie konnte sich wegen der Hufe und der verhärteten Fußteile weder die Augen wischen, noch sich Contenance geben, wie sie es oft tat, wenn sie als gealterte Frau nackt vor dem Spiegel stand und sich mit Bedauern ansah. Als Ziege war ihr Alter nicht eindeutig zu erkennen. Das, dachte das Bergtier, war ein deutlicher Vorteil.


Das wäre ein Beispiel. Was haben die Hufe mit ihrer Contenance zu tun? Ich kann mir zwar ungefähr vorstellen, wie eine gealterte Frau vor dem Spiegel sich Contenance gibt (vermutlich mache ich das selbst ab und zu), aber ich wüsste nicht, warum ausgerechnet die Hufe sie hindern sollten, das weiterhin zu tun. Obendrein muss sie es gar nicht mehr, wie gleich im nächsten Satz steht, da man ihr ihr Alter ja nicht mehr ansieht. Hier geht einiges durcheinander. Ein wenig Vereinfachung und Klarheit täte dem Text gut.

Grüße von Zefira
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(Ikkyu Sojun)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.03.2012, 13:46

jondoy hat geschrieben:Vielleicht hat sie ja Angst, dass sie an der Schweizer Grenze wegen ihres beschissenen Passbildes nicht anstandslos durchgewunken wird...

Zefira hat geschrieben:Was haben die Hufe mit ihrer Contenance zu tun? Ich kann mir zwar ungefähr vorstellen, wie eine gealterte Frau vor dem Spiegel sich Contenance gibt (vermutlich mache ich das selbst ab und zu), aber ich wüsste nicht, warum ausgerechnet die Hufe sie hindern sollten, das weiterhin zu tun.

Ich hab so gelacht, als ich eure Kommentare las! :mrgreen:

Zefira hat geschrieben:Ein wenig Vereinfachung und Klarheit täte dem Text gut.

Ja, unbedingt. Und vor allem eine Linie! Das schwappt so hin und her, vor und zurück.
Stefan fasst es gut zusammen, finde ich:
jondoy hat geschrieben:Dem/der Verfasser/in des Textes ist Agathes Wandlung am Ende wohl selbst nicht so ganz geheuer

Es sind viele, sehr amüsante Stellen im Text.
Was mir auch noch ein bisschen fehlt, ist das Beschreiben des Zusammenlebens der Beiden, aus Sicht von Agathe.
Diese Szene, in der sie z.B. die salzige Haut ihres Ehemanns ableckt und er genüsslich seufzt, finde ich total klasse.
Davon hätte ich gerne viel mehr.

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Beitragvon Anonymus » 16.03.2012, 07:56

Liebe Freunde,

wie ist es denn nun?

beschissenes Passfoto? eyh?

liebe Grüße

A. wie Anonymaus

Mucki
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Beitragvon Mucki » 16.03.2012, 11:55

Hallo A. wie Anonymaus! ,-)

Die Neufassung finde ich schon sehr viel besser! Du hast einige der "problematischen" Stellen ausgemerzt und gut umformuliert oder ergänzt.

Liebe Grüße
Gabi

jondoy
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Beitragvon jondoy » 17.03.2012, 22:16

Hallo A.,

.....weil ich dein Temperament belohnen will.... :smile:


dem ersten Satz hat die Umstellung der beiden Wörter "über Nacht" gut getan, find ich, der Einstieg in die Geschichte fällt so leichter....die sprache des textes gefällt mir, vor allem die sprachmelodie....

...so ein paar Kleinigkeiten...

.....der Satz "Als Ziege genoss sie ganz besonders die salzig schmeckenden Sekretionen, die sie da fand, und ihrem Gatten, der im Traum aufseufzte, machte es offensichtlich nichts aus, von einer etwas rauhen Ziegenzunge gestreichelt zu werden."....könnte den kursiv gesetzten Einschub vertragen, in dem Satz hat es mich beim Lesen kurz aus der Kurve geschmissen...wäre für mich Wegweiser in die richtige Richtung gewesen, ..ich darf gar nicht erzählen, wie ich diesen Satz beim Schnell Schnell Durchlesen gelesen hab...

......das mit den Stockwerken,
...im Stockwerk drunter wohnt ein junges Pärchen und dann kurz drauf ein pensionierter Lehrer....erzählt mir die Geschichte,
wer wohnt denn jetzt ein Stockwerk tiefer, das junge Pärchen oder dieser Lehrer, oder hat unser "Bergziegenpaar" doch eine so große ´Flatty´, dass unter ihr Platz für zwei ist....

.....an dem Satz "Nachdem er größere Plastikwannen besorgt hatte, konnte sich Agathe, die sich als Ziege vorbildlich verhielt, wenigstens im notwendigen Maße ihren körperlichen Verichtungen nachgehen." .....stoß ich mich....wenn sie sich als Ziege vorbildlich (im Sinne von artgerecht) verhält...dann sucht sie für ihre körperliche Verrichtung keine Plastikwanne auf...sie verhält sich nicht wie domestizierte Hunde und Katzen....


von diesen Mücken abgesehen.....ich find, hat feine Sprache dieser Text, les viel Liebe zum Detail...


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