schattenhaut (szenen)

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 22.02.2012, 17:09

unversehens am montagmorgen in den grünfall der linden geraten.
der breite boulevard, das wuchtige universitätsgebäude und der brunnen liegen im schatten.
das grün phophoriziert wie aus einer anderen welt.
ich trage meine schattenhaut, mein zerlesenes camusbuch in der tasche. tagebücher in weinrot, in denen das absurde explodiert und das dennoch aufsteht wie ein ausrufezeichen.
autos rasen vierspurig vorbei, abgaswolken, u-bahnmäuler spucken menschen aus. Das grün schmerzt in den augen.
wieder denke ich an das muttermal unter der linken achsel und panik steigt aus meiner magengrube auf. ein stummer schock. beklemmungen schnüren meine kehle zu.


meine gedanken rasen. ich denke an züge und meine mutter, die in x wohnt, an zuhause. und dass jetzt das leicht auf dem rotgestrichenen küchentisch fällt. es hilft nicht viel. ich gehe innerlich in flammen auf. schnell biege ich in eine seitenstrasse ab, in der ein studentencafe liegt.
es ist gedrängt voll und sehr warm. jacken und mäntel hängen über den stuhllehnen. ich quetsche mich auf einen leeren stuhl und ziehe das camusbuch aus der tasche.
ich schlage willkürlich auf und lese: „Die ersten blühenden Mandelbäume der Straße am Meer entlang. Eine Nacht hat genügt, damit sie sich mit diesem zarten Schnee bedeckten, von dem man sich kaum vorstellen kann, dass er der Kälte und diesem alle Blütenblätter durchnässenden Regen zu widerstehen vermag.“
unwillkürlich schießen mir tränen in die augen. ich blicke auf. am tisch unmittelbar neben mir sitzen zwei junge männer. der mit den schwarzen locken betrachtet mich mit einem feinen lächeln.
ich trage eine himmelblaue bluse und einen kurzen rock. meine graue mohairjacke mit den großen knöpfen hängt über der stuhllehne. sie starren mich an und ich starre zurück. der mit den schwarzen locken kritzelt eine telefonnummer auf einen zettel und reicht ihn mir.
ich lächle gezwungen und stecke ihn ein. ich klappe das buch zu und verlasse hastig und gezwungen lächelnd das cafe. ich bin angezogen und abgestoßen. verwirrt. das muttermal fällt mir schon wieder ein und schweiß bildet sich unter meinen brüsten.

wenig später laufe ich die siegfriedstrasse entlang. an renovierte altbauten vorbei. in der praxis eines psychotherapeuten findet ein seminar statt. er ist gleichzeitig dozent an der uni. wieder fällt mir das muttermal ein, ein kleines dunkles zeichen, ein fremdes lebewesen, das in mir haust.
ich entdecke ein paar andere aus dem seminar. sie winken mir zu. ich bleibe regungslos stehen.
die rothaarige sigrid mit der großen klappe und mehrere ihrer jungs aus der maoistischen zelle. ich ducke mich wie zum sprung. sie nervt mich mit ihrem „venceremos“-gerede und ihrer freien liebe und doch bewundere ich heimlich ihre courage. schon öfter saß ich mit ihr unter der großen kastanie beim bier und schwieg zu den politischen diskursen, die unvermittelt in sexuelle handlungen übergingen mit ihren jungs.
sekundenlang stehe ich und spüre jede faser meiner haut.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 23.02.2012, 07:44

Von diesem Text geht eine starke Wirkung aus, er vermittelt durch die Satzanfänge in Kleinbuchstaben eine Unmittelbarkeit, die durch das beiläufige Aufeinanderfolgen der Eindrücke noch intensiver wird.

Es wird nicht sofort klar, dass das erzählerische Ich weiblich ist, und das ist sehr gut so, ein androgyner Schmelz liegt über dem Ganzen. Die Charakterisierung der Orte (der Küchentisch, das Café, der Kastanienbaum) sowie der Menschen (das Ich, die zwei jungen Leute, die rote Sigrid) ist kurz und prägnant, keine ausholenden Abschweifungen ....

Das Camusbuch ... gehört wohl zu den symbolstarken Markierungen jener Epoche, - es gehört sicher dazu, als Eingrenzung.

Ansonsten vermerke ich einen inhaltlichen "Fehler" ... der Text soll doch wohl in den frühen siebziger Jahren angesiedelt sein, bestimmt gab es tatsächlich Abgaswolken, doch der Hinweis darauf scheint mir eine nachträglich hinzugedachte "innere Wahrnehmung".

Im Ganzen eine bemerkenswerte impressionistische Heraufbeschwörung .

Mucki
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Beitragvon Mucki » 23.02.2012, 13:27

"impressionistische Heraufbeschwörung" trifft es gut, ja. Da schwebt die ganze Zeit unterschwellig etwas Unheilvolles zwischen den Zeilen, das auf mich überspringt. Diese "schattenhaut" (toller Titel!) sind eigentlich Schattenhäute. Da hätte ich gerne noch viel mehr gelesen.
Dieser Satz begeistert mich:
Anonymus hat geschrieben:tagebücher in weinrot, in denen das absurde explodiert und das dennoch aufsteht wie ein ausrufezeichen.

Ich möchte mehr von dieser Frau, von ihrem Innenleben erfahren und was es mit diesem Muttermal auf sich hat, das ihr solche Panik bereitet.

Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 28.02.2012, 17:48

ich laufe in seltsamer betäubung neben ihnen her. ich will nicht, dass sigrid wieder die ganze zeit über mit ihm flirtet (diskutiert), dem dozenten mit dem überheblichen blick und der sarkastischen rede. ich denke an seinen linken zuckenden mundwinkel, wenn seine beiläufigen ironischen bemerkungen fallen.

kurzatmig haste ich die gebohnerte treppe hinauf in den zweiten stock. sigrid kichert und flüstert mit ihrer freundin imke, einer wuchtigen schwarzhaarigen person. plötzlich fühle ich mich unvollständig, spüre die geheime sehnsucht nach dem dozenten, die sich in mich eingefressen hat. sie macht mich befangen und linkisch in seiner gegenwart. ich bereite mich immer sorgfältig auf den kursus vor und sage dann doch wieder nix.

unvermittelt sitzen wir in dem großen halbdunklen zimmer auf matratzen am boden. immer mehr studenten drängen herein. die geräusche der stadt, die gedämpften unterhaltungen der studenten sind mir plötzlich fremd. alles ist mir fremd, alles. kein mensch, der zu mir gehört. ich setze mich neben imke und frage mich, was ich hier tue. Das zimmer ist eine landschaft, in der mein herz keinen halt findet. ich öffne meinen roten ordner und nehme ein weißes blatt heraus.
helmut beginnt zu reden und ich höre seine stimme und höre doch nicht die worte. die zeit steht still. ich stelle mir den koitus mit helmut vor. sicher ist er ein erfahrener mann. er ist mit der blonden inga verheiratet, die auch an der uni arbeitet. er hat erwähnt, dass er eine "offene ehe" führt. Ich blende inga aus. mich reizt die tiefe, die ich hinter seinem ironischen lächeln vermute. der moment, wenn er für mich seine betont gleichgültige miene fallen lässt und mich in zärtlichkeit einhüllt, die nur mich meint.
viele lachen, ich wache kurz aus dem tagtraum auf und habe keine ahnung, worüber gesprochen wurde, sigrid gestikuliert mal wieder und versucht, das wort an sich zu reißen.

ich muss an helmuts penis denken. plötzlich muss ich nach luft schnappen, kann mich kaum bewegen. mein körper macht sich schwer. nichts ist verführerischer als im dunkel zu bleiben im dunkel des nicht gesagten.
ich senke den kopf, meine blonden langen haare sind wie ein vorhang und starre von unten in helmuts gesicht. folge der mimik, lese den augenausdruck. seine augen sind grau.

„heute abend im griechen…?“ ruft sigrid mir im aufbruch zu. ich nicke unverbindlich. „ich geh hin…“, sagt ein dünner junge mit pickelgesicht zu mir: „die sigrid ist eine unheimlich tolle genossin…“ ich schrumpfe bei seinen worten, dränge an allen vorbei ins treppenhaus.
dort stelle ich mich ans fenster, wühle in meiner tasche und warte.
wenig später laufe ich die siegfriedstrasse entlang. an renovierte altbauten vorbei. in der praxis eines psychotherapeuten findet ein seminar statt. er ist gleichzeitig dozent an der uni. wieder fällt mir das muttermal ein, ein kleines dunkles zeichen, ein fremdes lebewesen, das in mir haust.
ich entdecke ein paar andere aus dem seminar. sie winken mir zu. ich bleibe regungslos stehen.
die rothaarige sigrid mit der großen klappe und mehrere ihrer jungs aus der maoistischen zelle. ich ducke mich wie zum sprung. sie nervt mich mit ihrem „venceremos“-gerede und ihrer freien liebe und doch bewundere ich heimlich ihre courage. schon öfter saß ich mit ihr unter der großen kastanie beim bier und schwieg zu den politischen diskursen, die unvermittelt in sexuelle handlungen übergingen mit ihren jungs. „wer zweimal mit dem selben pennt, gehört schon zum establishment“
sekundenlang stehe ich und spüre jede faser meiner haut. schattenhaut.
ich laufe in seltsamer betäubung neben ihnen her. ich will nicht, dass sigrid wieder die ganze zeit über mit ihm flirtet (diskutiert), dem dozenten mit dem überheblichen blick und der sarkastischen rede. ich denke an seinen linken zuckenden mundwinkel, wenn seine beiläufigen ironischen bemerkungen fallen.

kurzatmig haste ich die gebohnerte treppe hinauf in den zweiten stock. sigrid kichert und flüstert mit ihrer freundin imke, einer wuchtigen schwarzhaarigen person. plötzlich fühle ich mich unvollständig, spüre die geheime sehnsucht nach dem dozenten, die sich in mich eingefressen hat. sie macht mich befangen und linkisch in seiner gegenwart. ich bereite mich immer sorgfältig auf den kursus vor und sage dann doch wieder nix.

unvermittelt sitzen wir in dem großen halbdunklen zimmer auf matratzen am boden. immer mehr studenten drängen herein. die geräusche der stadt, die gedämpften unterhaltungen der studenten sind mir plötzlich fremd. alles ist mir fremd, alles. kein mensch, der zu mir gehört. ich setze mich neben imke und frage mich, was ich hier tue. Das zimmer ist eine landschaft, in der mein herz keinen halt findet. ich öffne meinen roten ordner und nehme ein weißes blatt heraus.
helmut beginnt zu reden und ich höre seine stimme und höre doch nicht die worte. die zeit steht still. ich stelle mir den koitus mit helmut vor. sicher ist er ein erfahrener mann. er ist mit der blonden inga verheiratet, die auch an der uni arbeitet. Ich blende inga aus. mich reizt die tiefe, die ich hinter seinem ironischen lächeln vermute. der moment, wenn er für mich seine betont gleichgültige miene fallen lässt und mich in zärtlichkeit einhüllt, die nur mich meint.
viele lachen, ich wache kurz aus dem tagtraum auf und habe keine ahnung, worüber gesprochen wurde, sigrid gestikuliert mal wieder und versucht, das wort an sich zu reißen.

ich muss an helmuts penis denken. plötzlich muss ich nach luft schnappen, kann mich kaum bewegen. mein körper macht sich schwer. nichts ist verführerischer als im dunkel zu bleiben im dunkel des nicht gesagten.
ich senke den kopf, meine blonden langen haare sind wie ein vorhang und starre von unten in helmuts gesicht. folge der mimik, lese den augenausdruck. seine augen sind grau.

„heute abend im griechen…?“ ruft sigrid mir im aufbruch zu. ich nicke unverbindlich. „ich geh hin…“, sagt ein dünner junge mit pickelgesicht zu mir: „die sigrid ist eine unheimlich tolle genossin…“ ich schrumpfe bei seinen worten, dränge an allen vorbei ins treppenhaus.
dort stelle ich mich ans fenster, wühle in meiner tasche und warte.
versonnen sehe ich auf die straße hinaus. draußen fällt die dämmerung. der pinke friseurladen gegenüber leuchtet. eine frau im lodenmantel führt ihren dackel aus. etwas drängt mich, zurück in die wohnung zu laufen, zu helmut. ich lasse es sein. der drang, von ihm berührt zu werden, durch seine hände zum leben erweckt zu werden, bleibt. rote flecken brennen auf meinen wangen. doch dann denke ich an die ärmliche dauer einer nacht, spüre meine anspannung bis ins becken hinein und renne auf die straße.

ich bin noch nicht so weit. ich stecke in meiner schattenhaut. könnte ich mich beim berühren seiner haut an meine erinnern?
irgendwie werde ich es schon schaffen, ihm näher zu kommen.
ich muss schlucken, denke an das muttermal.


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