Unteilbare Zeit

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 07.01.2012, 23:33

Unteilbare Zeit

Blankes Gold über der Autobahn. Kein Himmel war heller.

Je weiter ich mich von der Stadt entfernte, desto unschärfer wurden die Bilder: kaum vierundzwanzig Stunden lagen hinter mir. Wie es zugegangen war, wusste ich nicht. Der Weg war schon versperrt, offen nur ins Freie, in die Zugluft.

Nicht, dass ich mich nicht schon heimisch fühlte in diesem wiederholten Abgang. Da waren sie alle versammelt meine Freuden: Teile, Reste, Stücke, wie es sich gehört für rechte Seelensammler. Mitten in alter Geschichte, als stünde sie da noch geschrieben, als gälten noch ihre Gesetze.

Die Stadt lag hinter mir. Mit ihren Straßen, mit ihren Menschen, mit ihren kleinen Einsamkeiten. Gleichgültig: sie lebt immer, wenn die Menschen leben, was diese auch leben. Sie sammelt, sie verschluckt die Norm, auch die ausgefallenste.

Eine Tür öffnet sich, ein Fenster, der weiße Flur. Der Punkt. Wir waren angelangt. Ein paar Worte, auf Papier geschrieben, ein Seil in den Abgrund der Zeit geworfen, wir, an den Hängen unserer selbst.

An Mut hatte es uns beiden nicht gefehlt, aber es war dann zu Ende und jedes Wort half nur, den Zustand zu besiegeln, der sich bereits wortlos an die Stelle des Wollens gesetzt hatte. Sie war noch da, zum großen Streit entschlossen, ich hatte schon verstanden, nur die Worte wollten noch ausgesprochen werden. Als gehörten sie zu den eigensinnigen Geschöpfen der Natur, die keinen Versuch unterlassen, selbst unbequemste Hindernisse zu durchqueren. Sie standen außer mir und machten sinnlose Verbeugungen.

Nach rechts einordnen. Raststätte. Auf dem Spielplatz Kinder für eine halbe Stunde. Eltern und Autos, Hunde. Niemand erwartet mich, wo ich hinfahre. Keine Hinterbliebenen ... Fertiggerichte, belegte Brote, Kaffee. Der Tag blieb strahlend, wie er begonnen hatte. Für mich.
Autobahnhügel, Raststätten grün, anonymes Treiben, kein Grüppchen kennt das andere, meine Augen ruhten sich aus an der Gleichförmigkeit. Nichts Unvorhergesehenes trat ein. Die Automaten gaben Kalt- und Heißgetränke, Väter und Mütter zückten die Geldbeutel, geduldige Kinder erkaufend, knappes, sachliches Hin- und Her an der Theke. Hier wurden keine Extra--Würste gebraten.

Die Augenblicke bis in kleinste Einzelheiten genießend, ohne Ungeduld, rastend, saß ich am Tisch, vor der Fensterwand, vor der Rasenfläche, vor den Parkplätzen, vor der großen Straße. In diese unendliche Ruhe hinein kamen die ersten Bilder, und gegen meine Privatshow kein Mittel, kein Knopf zum Abstellen.

Ließ sich mit dem Auto durch die Stadt fahren. Besorgungen mussten gemacht werden. Kreuzend erfuhr ich die neuen Ampeln der Stadt. Sie führte mich an ihre Lieblingsstellen, zu den besten Adressen, ein neuer Status musste gezeigt werden, mir blieben das wohltuende Abbiegen, die Betätigung von Schaltung, Kupplung, Blinklicht, zeitfüllende Notwendigkeit.
Für den Rest des Abends fanden wir schließlich einen Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung. Ich war müde gefahren und wenn wir still wurden, hing der weiße Flur vor meinen Augen.

So war es. Ich war Inga gefolgt, bis hin zu ihren Gassen, ihren Kneipen, durch ihre lange Geschichte von dem Mann, der ihr dann schließlich das Kind weggenommen hat, von der Mutter, die immer noch mit Herzanfällen droht, von den Menschen, die sich an sie hängen und sie war doch selber so schwach.

Ihre Last auf mir: das Kind und die gespielte Leichtigkeit, wenn sie sagte: 'nächstes Wochenende'. Hätte ich mehr Mitgefühl zeigen sollen? Ja. Aber ich wollte nichts damit zu tun haben und selbst die Leere in meinem Kopf und der weiße Flur vor meinen Augen wollten mir angenehmer erscheinen, als diese Fülle von Orten, Begebenheiten, als dieses langwierige Wiederfinden. Sie rauchte nicht mehr. Ich wohl.

Im Restaurant erkundigte sie sich nach den Weinen, önologisierte in der Sprache der Botschaftsangestellten. Sie trank, Ich bestellte zu essen, auch für sie. Der Film spulte wie von selbst zurück. Doch es gab keinen Weg nach dahin, nach verlorener Unschuld. Die Schuld wuchs zwischen uns, wir waren Schuldiger und vergaben uns nicht. Ich wehrte mich nicht weiter. Keine Überraschung, das Kind, immer wieder das Kind. 'Nun lass es dort, vielleicht geht es ihm gut, bei dem Vater.' Ich verstand sehr gut: das Kind war ihr Leben. War ihr Leben gut aufgehoben bei dem Vater?

Ich erinnerte sie an das Gebot: du sollst dein Leben nicht auflösen in dem Leben deines Kindes, du sollst dein eigenes Leben haben, in dir, mit dir.
"Kirchensprüche!", sagte sie. Und ich war auch nicht mehr gläubig. Nicht zu dieser Stunde. Wir machten einen letzten Rundgang durch die Stadt. Und woran glaubst du? fragte ich. "An den lieben Gott" aus der Pistole geschossen. Und lachte, ganz herzhaft und frei. "Was sonst noch", sagte sie, sollen wir jetzt noch Sterne zählen ?" Mein Gott nimm bloß jetzt nichts ernst. Sie nahm mich bei der Hand, zog mich zu sich auf die Bank, nahm mir die Zigarette aus dem Mund und lachte weiter. Die Zigarette schwamm im Wasser, so einfach war das.

Ich riss mich los und wusste, dass ihr das wehtat. "Ich bin müde" sagte ich. Sie: Es ist nicht weit bis zu mir. Wir gingen den 'kurzen Weg nebeneinander, stumm, und ich wütete in mir, gegen mich, mit ihr, gegen sie.

Vor dem Haus stand ein kleiner Brunnen. "Wahre Freundschaft soll nicht wanken", sang sie laut. Die schmale, brüchige Holztreppe führte zu ihrer Wohnung. Ich hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie stand schon an der Tür, den Schlüssel in der Hand, öffnete.

Zuerst war es dunkel. Dann schienen Lampen auf den weichen, weißen Teppich. An den Wänden nur wenige Spuren: kühle Bilder, warme Stoffe. Tee ? Gerne. Ich sah die fremde Frau hereinkommen: so hatte Inga Gestalt angenommen.


Im Allgemeinen geht es mir mit Erinnerungen so, dass sie ausgeleuchtet sind wie weite Raume und ich sie festhalte mit Lust. Sie verlieren sich, oder gewinnen an Helle: nichts mehr haftet an den Gegenständen selbst.

Der Stachel dieser Geschichte saß tief.

Die Privatshow läuft. Wenn die Augenblicke wiederkehren, finde ich verschiedene Qualitäten des Lichts, der Luftfeuchtigkeit, der Temperatur. Der Rest ist vertrocknet, und ich achte wohl darauf, den harten Kern nicht mehr aufzubrechen. Ein Kind quengelte, der Vater zückte den Geldbeutel. Ich stand auf, zahlte.
Fand mich wieder im Auto, weiterfahrend, das Seitenfenster geöffnet, Luft in den Haaren.

Zu Besuch in der Stadt, nur ein Wochenende. Wir waren in ihrem Büro verabredet. So war es ausgemacht. Wir hatten uns lange nicht gesehen, viel zu erzählen. Ich war schon am frühen Nachmittag angekommen. Der helle Frühling lag über den Straßen.
Die schöne Freundschaft jedoch war schon aufgelaufen. Davor hatten sich Schatten eingenistet, die Fäden hielten nicht mehr, es brauchte nur ein paar Worte, Missverständnisse, Ketten ungesagter Wahrheiten schnürten uns.
Hartnäckig suchte ich Brücken zu bauen. Terminkalender. "Wann". Keine Antwort. Nur die Schuhspitze einmal auf, einmal ab. "Weiß ich nicht", hieß das.

Ich ging, die Tür schlug hinter mir zu. Den weißen Gang entlang. Mir war Heiß, draußen war es kalt. Die Schlüssel wollten mir nicht gehorchen, saß dann schon im Wagen, kochte unter meiner Nylonbluse, die Brille beschlagen. Der Motor sprang an, ganz plötzlich.
Das Nötige tun, keine Zeit verlieren. Fest sein. Nicht nachgebe. Kein Wort zurücknehmen. Gefühle sparen. Einpacken. Weg. Raus.

Der Koffer! Ich hatte den Koffer vergessen! Spott dröhnte, ich riss den Wagen herum, fast in den gegenüberliegenden Zaun, rannte über die Straße, meine Schritte pochten wieder durch der langen weißen Flur, das Licht im Büro, die Behäbigkeit war wieder eingekehrt. Bücher, Akten, Unterlagen. Sie saß noch da, das Gesicht immer noch verzerrt, flach, weich, alt. Hing schon am Telefon. Genugtuung in der Stimmer, Worüber, fragte ich mich, worüber?

Ich nahm den Koffer, der vergessen neben dem Schreibtisch stand. Und das Telefon, die Pflanzen, die Tür, der Flur, alles lag schon hinter mir.
Es war vorbei.

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[align=right]Langsam verließ ich das Gebäude. Mein Blick wollte sich nicht kurzfassen. Ich schaute und sie blieben für mich uneingenommen der Kiosk, die Straßenbahnhaltestelle, das Haus hinter mir, die Frau in ihrem Büro, Ich, koffertragend.

Der Lärm fiel ab von mir. Die Schlüssel gehorchten. Der Motor rauschte leise und ich fuhr auf Luftkissen. Ich strömte ein in den Verkehr, war mobiles Teil unter Teilen. Getrieben, eingestimmt, eingespielt.

Der Wagen fuhr an den Kanälen der Stadt entlang. Zu den Hafenbecken. Dort lag noch das Boot: Wikingschiff für Kinderträume, Drakkar mit Holzbänken und Himbeerlimonade an heißen Sommer-tagen. Auf dem Kies plötzliche Stille der Räder. Schlagen der Tür, die Schlüssel.

Meine kleine schwarze Tasche. Die saure Luft, kühl, essigrein. Meine Stirn frei vor dem Wind. Heute war alles leer. Ich scheuchte sie auf bei meinem Eintritt in das Bootscafe : Möwen und Kellnerin.

Sie kam auf mich zu, fragte. Ich wusste, was ich brauchte, zündete mir eine Zigarette an mit ihren Streichhölzern. Als sie den Kaffee brachte. Stark, schwarz und heiß. Schleppkähne brachen langsam durch den Kanal. Geranientöpfe an den Fenstern. Am Himmel standen Fallschirmspringer. Die Lagerhallen am anderen Ufer müßig und leer. Dem Wasser dankbar, saß ich nun erst einmal da.

Nichts drang in meinen Kopf, nur die Zeit wühlte mich auf. Unmerklich, unterschwellig, wie es ihre Art ist. Nichts war da, kein Wetter, kein Wind.
Ihren Beruf ausübend, hatte die Kellnerin mit ihren braunen Augen schon verstanden. Ihr neugieriger Blick sagte: "Das musst du vergessen", ob ich noch etwas wünsche, sagte sie dann laut in die Wirklichkeit hinein.

Weiß. Leere Leinwand-

Natürlich. Jetzt saß sie an meinem Tisch. "Wir kennen uns", sagte sie, und als ich lachte: "wirklich". Sie erzählte mir genau, wann und wo. Wir waren beide kleine Mädchen gewesen. Ihr Name fiel mir plötzlich ein: "Inga". Ich suchte die Zahnlücke, aber die war zugewachsen. Da war sie dann da, schaffte Raum in mir, Abstand, Weite und ich schaute sie weiter an, Erinnerungen suchend.
Noch einen Kaffee. Freundliches Ausfragen. Was ich mache, wo ich wohne, und dann von sich sprechend "mein Mann", das hatte ich schon erraten. Das Kind lebt natürlich bei ihm. "Ja", sagte sie. Aber von mir wollte sie wissen "was eigentlich los sei". Nichts. Alles. Geschwätzig, das und das. Die Lastkähne schoben sich wartend durch das Wasser: Schleusenstellen.
Ich nahm eine Zigarette. "Du rauchst zu viel". Bereit, zu verstehen. Ärger in den Händen, als ich sie anzündete. Sie holte sich Urlaub für den Rest des Tages.

Sie trug das Tablett mit Kanne und Tassen, stellte es auf den Teppich, setzte sich daneben. Nun war keine Gefahr mehr, ich war frei.
Unter den Fotos war eines, auf dem wir zusammen zu sehen waren. Das lachende Kind und das finstere. Das finstere war ich. "Ja, das stimmt". Wir waren in dieselbe Kirche gegangen, in dasselbe Freibad. Sie war immer noch dicker. Ich sah Inga in ihrer Wohnung herumgehend, da etwas räumend, hier etwas suchend. Sie fand kleine Stücke, zeigte sie mir, oder legte sie beiseite. Für irgendwann. Für später.
Sie Ist von ängstlicher, schwacher Natur, sagte ich mir, und hat keine Angst. Seit wir zusammen sind, hat sie sich ihrer Freundlichkeit keinen Augenblick lang geschämt. Sie wies mir ein Bett an für die Nacht und zeigte mir Küche und Bad. Falls ich früher aufwachen sollte. "Ich schlafe immer lange".
Vielleicht bin ich dann schon weg, sagte ich. Und fügte hinzu: "Ich fahre bestimmt so früh wie möglich." Sie lächelte weiter. Sie zog sich zurück. Ich blieb mit dem weichen Licht zurück, das ich dann löschte. Zog mich aus in der Dunkelheit und lag dann im Raum, unter der Decke. Der Schlaf kam leicht und im Zimmer war es wieder hell, als ich aufwachte.
Jedenfalls konnte ich einen kurzen Brief schreiben, den ich auf ihren Küchentisch legte, mit meiner Adresse, für alle Fälle. Noch kannte ich Inga nicht. Vielleicht würde ich sie kennenlernen. Kein Ende also.
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Zuletzt geändert von Anonymus am 07.02.2012, 11:38, insgesamt 2-mal geändert.

Jelena

Beitragvon Jelena » 07.02.2012, 09:41

Hallo,

die Stimmung von Verlorenheit in dem Text ist gut getroffen. Schöne Bilder, manchmal nur etwas mit Längen behaftet oder zu partizipien-attribut-lastig.
Ich hätte den Text eher durchgelesen, wenn du es mir mit der kleinen Schrift nicht so schwer gemacht hättest. Da muss man als Leserin schon sehr ausgeruht sein...

Aber heute wirklich gerne gelesen, Jelena.


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