Texte kreisen

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 29.07.2011, 16:48

Eine Frau mit farblosem Haar schleicht durch Wohnungen, endlos verschachtelte Räume, weiß wie Papier. Das Parkett glänzt.

Die Leere haftet sich an ihre Fersen. Das Licht verwirrt sie. Es ist hell, und gleicht doch verschütteter Milch.
Sie läuft schneller, in Nylonstrümpfen.

Ihre Haut pfirsichfarben, leicht angewelkt. Das Kinn zittert, die Ecken ihres Mundes verfärben sich bläulich.

Sie läuft schneller, die Wände scheinen zu wandern.

Sie ist eine Fremde, eine Ungeborene. Ihre Hand ertastet die Biegung der Wand.

Ihr Blick fällt aus dem Fenster auf eine grüne Wiese. Krähen steigen auf, landen auf, suchen ihren Heimatbaum.

Egal wie schnell sie läuft, die Leere höhlt sie aus, schluckt sie. Die Leere lächelt hohl.

Im Treppenhaus ist es dämmrig. Aufzüge summen. Ein paar Leute laufen achtlos an ihr vorbei, jeder in seiner Spur.


Es ist einer dieser perlgrauen Tage. Mit durchsichtigen Wolken und frischem Wind.
Bettine hört ihre Schritte auf dem Asphalt. Schiebt den Mantelkragen hoch.
Lässt sich vom Wind mitnehmen durch die Vorstädte.

In der Nähe einer Tankstelle stolpert sie plötzlich.
Ein Gitterkäfig steht am Rande der Straße. Drinnen hockt ein Kaninchen, starr vor Schreck.
Es ist weiß wie Schnee, eine Ballerina, eine Flocke nur.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 30.07.2011, 14:08

Ein Text, der sich abseits des Gewöhnlichen bewegt, durch verschachtelte Räume wie weißes Papier. Geheimnisvoll, aber nicht Verrätselt, in einem Sinne, dass man es ganz "auflösen" möchte, oder könnte. Es wirkt, erzeugt eine Traumstimmung und klingt dabei so selbstverständlich, als würde man sich tatsächlich immer nur auf seiner Spur an dieser Welt vorbeibewegen und könnte diese Frau vor der Leere retten, sie schreiben, "gebären", wenn man nur hinschauen würde.

Sprache und Inhalt unterstützen sich gegenseitig. Schön auch die luftige Setzung des ersten Teils, der dann durch das engere des zweiten Teils aus dem Papier in eine Realität gehoben wird, die zuerst vertrauter scheint, mit dem "weiß" dann aber den Kreis zur ersten Zeile schließt.

An ein paar Stellen würde ich persönlich noch etwas feilen, aber das sind sicher Kleinigkeiten.
Schön mal wieder etwas in dieser Art im Salon zu lesen!
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)


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