Lesen

Der Anonymus bietet Mitgliedern die Möglichkeit, ein Werk sowohl anonym einzustellen, als auch anonym (auf die Rückmeldungen) zu antworten. Bitte lest euch die FAQs gut durch, bevor ihr etwas in diese Rubrik einstellt.)
Anonymus
Beiträge: 434
Registriert: 28.09.2007

Beitragvon Anonymus » 16.12.2010, 01:02

LESEN


Ich werde lesen. Das habe ich mir für heute vorgenommen. Sicher, es ist nicht leicht ein solches Vorhaben wirklich umzusetzen, aber ich werde es tun. Ich werde lesen.
Jetzt stehe ich auf, vorsichtig, denn auf dem Schachbrettmuster des Bodens darf ich nur die schwarzen Felder berühren. Nachts die weißen. Es sind so viele. Schritt für Schritt taste ich mich voran. Von einer schwarzen Kachel zur nächsten, bis ich mein Ziel erreiche.
Was suche ich hier?
Ein Buch, ein Buch. Um zu lesen brauche ich ein Buch. Ich hebe meinen Blick vom Boden: Kafka springt mir ins Auge. Marx steht drüber. Lauter Bücher. Schließlich entscheide ich mich für ein abgegriffenes mit rotem Stoffumschlag. Auf dem Einband ist ein golden aufgedruckter Poseidon zu sehen. Seine Konturen scheinen sich in den Stoff zu fressen, sich festzuklammern, als habe er Angst zu fallen. Auch ich habe Angst. Aber das ist Poseidons Schuld. Seine glühenden Augen in der Farbe des Stoffes scheinen mich zu verspotten: Lesen willst du? Lesen? Als ob du das schaffen würdest, mich zu lesen!
Das selbe hat auch Leopold Bloom gesagt, als ich das letzte Mal ein Buch aufschlug.
Den Poseidon sehe ich nicht mehr an, er ist mir unheimlich. Es geht nicht um ihn, der er da auf dem Einband hockt als gelte es den Inhalt vor mir zu schützen. Furchtsam nehme ich das rote Buch mit mir. Zurück über die schwarzen Kacheln, aber langsam. Sie könnten trügerisch sein, den Platz sogar mit einer Weißen tauschen. Ich setze einen Fuß nach dem anderen.
Die Augen halte ich streng auf den Boden gerichtet, damit ich auch ja keinen Fehltritt begehe. Dabei fällt mein Blick auf einen Käfer. Er ist auf den Rücken gedreht. Liegt hilflos auf dem Boden, der im Hintergrund einen Menschen widerspiegelt. Ich habe ihn Herrn K. getauft. Den Käfer, versteht sich.
Tapfer gehe ich weiter.
Ich spüre den Poseidon an meiner Haut. Er horcht auf meinen Pulsschlag, antwortet ihm mit Engelszungen. Lockt mit fremden Gedanken. Aber seine Stimme ist irreführend, Engels steht neben Marx. Die Worte sind ein Hinterhalt, eine Versuchung. Ich erliege ihr nicht.
Erschöpft erreiche ich meinen Anfang.
Ein letzter, triumphierender Blick des Poseidon lässt mich schaudern. Dann schlage ich das Buch auf.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 16.12.2010, 13:52

ich habe versucht, jeden Buchstaben dieses hypnotisierenden Textes zu verfolgen. Mir ist nicht alles erschlossen, aber das stört mich nicht. Dieser Text funktionniert wie ein Schiff, das mich hinausträgt auf Poseidons Element. Die Worte der Sirenen wollen mich verführen, doch ich bleibe dem Buch treu, über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg (ob die Zeit eine Rolle spielt?) Das Schachbrett, das ich nur auf schwarzen Feldern begehen kann, erinnert mich an die Schachnovelle von Stefan Zweig - die unpasssendste Assoziation mit Sicherheit. Ulysses ist nicht weit, die Irrfahrt ds Odysseus, und der Verlag, der James Joyce verlegte. Marx, Engels, Kafka, ... Götzen oder Götter, Ikonen auf jeden Fall. Das lesende - prosa-gebundene Ich - scheitert anscheinend am Lesen, obwohl es sich immer wieder bemüht zum Lsesen zu kommen. Doch Poseidon sorgt dafür, dass der Lesende Schiffbruch erleidet.

Und dennoch: das Gelesene steigt inselartig auf, sind diese Inseln die begehbaren Schachfelder? warum sind diese Felder schwarz?

Nur die schwarze Seite: Schuld und Sünde können gedruckt ... schwarze Tinte - notiert werden?

das weiße unbeschriebene Blatt ist zum Fortschreiten des Lesens nicht bestimmt ...

Wer immer diesen Text geschrieben hat: er ist bemerkenswert, ich meditiere seit heute nacht darüber ...

gefällt mir ausgesprochen gut

Renée


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast