Das rote Tier
Undurchdringliche Dunkelheit, nur schemenhafte Gestalten und einzelne Mondstrahlen, die durch Ritzen magische Schatten werfen. Ein Zug rattert gemächlich durch eine trostlose öde Landschaft. Ein Gepäckwagen ohne eingebaute Sitze. Ein Gefangenentransport am Ende eines wirren Krieges. Nur noch Nachwehen. Die Menschen im Zug traumatisiert und orientierungslos.
Als die Dämmerung zögernd hereinbricht und fahles Licht auf graue Schneemassen wirft, beginnt Kate, die anderen im Zug zu mustern. Ihr blasses Gesicht unter dem aschblonden Haar zeigt keine Regung, eine kalte Maske, ein harter Blick. Kate ist noch jung, schlank, fast knabenhaft, manchmal zuckt ihr linker Mundwinkel verächtlich. Ihr Blick gleitet flüchtig über alle hin und wendet sich gleich wieder ab, dann bleibt er an einem großgewachsenen Mann mit eisgrauem Haar hängen, ein paar Sekunden zu lange.
Er gefällt ihr, sie kämpft den Impuls des Verlangens nieder, der in ihr aufkeimt, seit geraumer Zeit hasst sie Gefühlsregungen.
Ihr Blick will zu ihm zurückkehren, genau in sein Gesicht sehen. Sie lehnt sich an die scheppernde Waggonwand und schließt die Augen. Die Zeit entschwindet, sie löst sich langsam auf, in ihrem Kopf wird es hohl, nur das monotone Rattern des Wagens.
Jetzt ist sie außerhalb ihrer Gefühle, dieses Waggons, außerhalb der Zeit, den grausamen grauen Städten, in denen Tod und Verlust herumstreifen wie plündernde Vagabunden.
Und da ist es wieder, das Bild, das ihren Kopf ausfüllt, der große, dunkle, blattlose Baum, in dessen Ästen eine Wiege hängt mit einem Kind, vom leisen Wind sanft geschaukelt. Es ist Nacht und doch scheint die Sonne, eine schwarze, lichtlose Sonne. Überall stehen düstere Häuser mit schwarzen Türen, nirgends Menschen, nur ein seltsames rotes Tier läuft durch die Straßen und das endlose Wiegenlied des Todes erklingt. Das Tier hat ein großes starres Auge, ist nicht Pferd, nicht Hund.
Kate schlägt ihren Kopf an die Wand, dann öffnet sie langsam die Augen und der Wunsch ist wieder da, der Eisgraue möge sie wahrnehmen, seine behaarten Arme mögen sie festhalten.
Der Mann sieht über sie hinweg. Sie zieht die Beine an und legt den Kopf auf die Knie, wieder erscheint die Baumwiege, gelb und blau in der unheimlich leeren Landschaft, die Fenster der geisterhaften Häuser sind erleuchtet, aber die Häuser verlassen.
Der Zug stoppt, Austreten und Essen fassen. Der Himmel ist fahl, ohne Wärme. Kate würgt an einem Teller Linsensuppe und einem groben Stück Roggenbrot herum. Es ist dunstig, flaches Land, eine leise Ahnung von Sonnenstrahlen liegt in der Luft, die bunt flimmernd im Dunst aufblitzen. In der Ferne kann Kate ein paar graue Dörfer erkennen. Sie fröstelt, versucht, die klammen Finger an der Tasse mit dünnem, spülwasserartigem Tee zu wärmen.
Im Vorübergehen streift der Eisgraue sie mit seinem Parka. Kate erschrickt, dann mustert sie ihn wieder. Graue Augen, ein gut geschnittenes Gesicht mit Kinngrübchen, Dreitagebart, trotz der langen Fahrt wirkt er nicht abgerissen.
Sie fühlt wieder ein leichtes inneres Beben. Sie starrt in die neblige Weite, schwarze Krähenvögel versammeln sich, die Äste der Bäume ragen skelettartig in den Himmel, der keine Zuflucht schenkt.
In der kalten Luft steigen ihre inneren Bilder wieder kristallklar auf, der Verlust ihrer Angehörigen, die schrillen Schreie ihrer jüngeren Schwester, als sie von Soldaten brutal vergewaltigt wurde. Kate lag zitternd im Versteck auf dem Dachboden und konnte ihr nicht helfen. Kate bricht der Schweiß aus, sie denkt an die weißblonden Haare ihrer Schwester. Die Bilder erstarren zu Eis.
Nur das rote Tier rennt dröhnend durch hallende Gassen, die Häuser lächeln grausam, sie sind mörderische Fallen, ihre Steine flüstern von Blut und Tod.
Auf Bäumen wachsen Kinder, aber die Äste sind doch kahl.
Zurück im Waggon verfolgt Kate unauffällig den Eisgrauen, und als der Zug langsam anfährt, wirft sie ihr Bündel neben sein Lager. Kurzerhand.
Sie duckt sich in seine Gegenwart, nimmt seine Witterung auf. Die Nacht wird tiefer, sie verschlingt alles wie eine dunkle Woge, Atemgeräusche, Schnarchen, das Rattern des Zuges, das endlose Lied.
Je länger sie neben ihm liegt, desto vertrauter wird er ihr. Plötzlich, ohne Nachzudenken, streckt sie ihre Hand aus und fasst ihn an, tastet ihn ab. Als ihr Sekunden später klar wird, was sie da tut, und ihre Hand zurückziehen will, langsam, unauffällig, als hätte sie sich nie auf den Weg gemacht, packt er zu und umklammert ihr Handgelenk mit eisenhartem Griff. Augenblicke verstreichen in völliger Reglosigkeit, nur die Schritte des roten Tieres, sein verzweifeltes Galoppieren, hallen durch die kalte Nacht aus Marmorgestein.
Kate beginnt zu weinen, die massive Eisschicht hat einen gefährlichen knackenden Riss.
Er lässt ihre Hand los. Kate versucht die Tränen aufzuhalten. Dann spürt sie seine große warme Hand an ihrer Wange. Er rückt näher und streicht über ihr Haar, Kate ist erschöpft. Sie wehrt sich nicht, als er sie an sich zieht, sie spürt Haare auf seiner Brust, die rauen Decken, die Wärme eines anderen Körpers, eine Ahnung von Schutz.
Endlich kann sie über die Grenze gleiten, ins bewusstlose Land des Schlafes, jemand passt vielleicht auf. Die schwarze Sonne darf sinken.
Als Kate aufwacht, ist es spät, der Zug steht, die anderen sind draußen. Auch der Eisgraue ist weg. Schmerzende Helligkeit dringt in den Wagen. Kate fühlt nur Verlust, er ist weg, das Eis knackt wieder, mit brüchigem nachhaltigem Unterton. Mühsam erhebt sie sich, stolpert zur Tür. Ein schöner Tag, der Himmel ist blau, wie eine Schicht Sahne über Kates flauer Verzweiflung. Ihre grünen, katzenartigen Augen suchen ihn, lauern, er scheint sie nicht zu bemerken, das rote Tier rast kopflos in die schwarzen Türöffnungen der Häuser, dahinter ist kein Haus, nur leerer Raum, der ins Nichts fällt. Glas splittert, die Waggonwände schwanken leicht.
Sie starrt in diesen hohnlachenden blauen Himmel, und ist keiner weiteren Bewegung fähig.
Der in der Sonne glitzernde Schnee zieht sie zu Boden, sie will sich in die Kälte fallen lassen, blutlos.
Plötzlich steht der Eisgraue neben ihr und reicht ihr einen Becher Tee. Er sieht sie an, hilft ihr aus dem Waggon. Kate kann nichts sagen, ihre Zähne klappern. „Wir sind bald da“, sagt er. „Die Fahrt ist bald vorbei.“ Er kann sogar lächeln.
Für Kate gibt es keinen Ort, wo sie ankommen könnte. Nur einen schwarzen Weg, der nirgendwo hinführt, nie mehr.
Sie nimmt den Tee und lässt ihr Gesicht gefrieren zur kalten Maske, dann wendet sie sich ab,
In der folgenden Nacht beginnt das Tier zu bellen, und rammt seinen Kopf mit dem großen Auge gegen den Baum. Die Wiege schwankt immer heftiger, das Kind wird zu Boden stürzen. Das ist das Ende.
Heulender Schmerz flüstert sich durch Kates Knochen. Als sie es nicht mehr aushält, krallt sie sich in den Arm des Eisgrauen. Er macht sich los und hält sanft ihren Kopf im Nacken fest, bis das Tier nicht mehr tobt. Er flüstert nahe an ihrem Ohr: “Du kannst mit mir kommen, mein Bruder hat ein Anwesen im Süden.“ Die Worte sickern in Kate ein, ein Ort im Raum, wo sie noch hingehen kann. Trotzdem fragt sie: “Meinst du das ernst?“ Sie spürt im Dunkeln, wie er nickt.
Einen Augenblick ist sie ergriffen, den Tränen nahe. Ihr Hals wird eng.
Alles wird ruhig, das rote Tier verlässt die Stadt, für eine Weile. Sie schmiegt sich an ihn und küsst ihn auf seine lederfarbenen Lippen, nur flüchtig.
Es ist helles, beiges, weiches Leder.
“Du schuldest mir nichts“, sagt er leise. Doch sie ist schon eingeschlafen, mit dem Kopf an seiner Brust, die Faust in ihrer Hosentasche hat sich gelockert.
Aber die tote Stadt, sie fällt nicht. Das Kind steigt nicht vom Baum und die Schatten fressen die Welt. Der Abgrund lauert hinter den Fassaden, und die Häuser lächeln höhnisch, weil sie Bescheid wissen. Der Grausamkeit der dunklen Schächte werden noch viele zum Opfer fallen.
Die Heimtücke von Jahrhunderten sickert durch die brüchigen Mauern.
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