Sturz ins BodenloseWenn eine Sache einen Knoten hat, dann gilt sie als schwer lösbar.
Der berühmte „Gordische Knoten“ wurde angeblich auf gewaltsame Weise, mit einem Schlag gelöst.
Ohne Anstrengung, Verwundung und Schmerz scheint es also nicht zu gehen, wenn man Knoten lösen will.
Ein Knoten hält zusammen, verbindet wieder, was davor auseinander gerissen oder sonstwie beschädigt wurde. Ein Gewebe, das Knoten aufweist, gilt als nicht perfekt, es ist nicht mehr glatt, nicht mehr unversehrt. Im Knoten bleibt der Riss oder eine Ahnung davon sichtbar, so wie in der Narbe die einstige Wunde.
Narbengewebe sind nicht schön. Man kann, manchmal muss man sie sogar, bedecken, um nicht ständig an die Wunde erinnert zu werden.
Man legt also etwas darüber. So wie man einen unschönen, rissigen, kalten Boden mit Linoleum bedeckt. Man schafft sich eine Illusion. Oder – um in der Sprache des Gedichtes zu bleiben – man singt sich die Tatsachen schön. So lange, bis es eines Tages einfach nicht mehr geht und man den Dingen auf den Grund gehen möchte. Sich lösen möchte, sich befreien möchte von Halbherzigkeiten, Illusionen, Tränenmeer und ... Knoten, die schmerzen.
Vatermord – die gewaltsame Art und Weise, sich mit einem Schlag zu befreien, aus Angst verworfen.
Wenn man nun den Versuch unternimmt, Knoten zu lösen, zerfällt etwas plötzlich wieder in seine Einzelteile. Das Netz, das bisher getragen, gehalten hat, löst sich auf. Der Sturz ins Bodenlose beginnt ...
Woran sich also halten, bei diesem Sturz ins Ungewisse, in die Finsternis der eigenen Seele? Es hilft wohl alles nichts – in mühevoller Kleinarbeit muss Schicht um Schicht freigelegt werden, bis schließlich am Ende vielleicht Helligkeit eintritt. Und das LI „unbehelligt“ von seinen Wunden genesen kann.
Andrerseits: Helligkeit und Finsternis schließen einander aus. Sie bedingen sich gegenseitig, was für mich nichts anderes bedeutet, als dass Genesung ohne Schmerz nicht möglich ist.
Die Bilder, die das Gedicht tragen, sind durchkomponiert bis ins letzte Detail.
Selbst der erste Satz, der etwas breit über den folgenden Verszeilen steht und mir anfangs etwas seltsam vorkam, kann nur so sein, wie er ist: er legt quasi das Netz aus, aus dem dann das Ich im Folgenden herausfällt.
Je weiter der Text voranschreitet, desto mehr „zerfleddert“ er – graphisch unterstützt das wunderbar dieses Fallen und Zerrissensein.
Ich bedauere an diesem Text nur eines, nämlich dass ich ihn nicht selbst geschrieben habe.
scarlett