Götter und Vögel
Verfasst: 19.04.2008, 14:45
Aus den Reisenotizen. Südamerika, Sommer 1997
Götter und Vögel
José war ein Künstler. Wie schon sein Vater und sein Großvater besaß er die Fähigkeit, aus Holz Figuren zu schnitzen, die eine solche Lebendigkeit ausstrahlen, dass einem unweigerlich das Bedürfnis überkommt sie zu berühren. Bis in die sechziger Jahre hinein gab es nur wenige, die sich in jenem lateinamerikanischen Land durch das Herstellen von Holzskulpturen mit religiösen Motiven ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Man brauchte dazu die offizielle Genehmigung des Priesters der jeweiligen Parroquia oder Gemeinde.
Josés Großvater war der erste in seiner Stadt gewesen, der eine solche Genehmigung erhalten hatte. Mit der wachsenden Zahl von Touristen aus Europa und Nordamerika stieg die Nachfrage nach diesen kleinen Kunstwerken, und immer mehr Bewohner der Stadt versuchten sich in diesem Geschäft. Nicht alle erhielten die erforderliche Berechtigung. Sie mussten sich auf Motive aus der Pflanzen- und Tierwelt sowie Schachspiele beschränken, die wesentlich seltener gekauft wurden.
José, so schien es, hatte die Kunst seiner Väter perfektioniert. Zwar blieb er ein Armer unter Armen, aber sein Ansehen im Ort war sehr groß. Jeder bewunderte seine Figuren, vor allem seine Marienstatuen, die er zunächst nach einem Foto einer berühmten Skulptur aus der großen Kirche der Hauptstadt formte. Später aber verwendete er als Vorbild für seine Figuren das außergewöhnlich schöne Gesicht seiner ältesten Tochter. Rund und gleichmäßig, mit großen dunklen Augen und leicht olivefarbenem Teint, schien es ihm viel besser zur Mutter Gottes zu passen, als jenes blasse, längliche, brav fatalistische Antlitz, mit dem man sonst die Marienfiguren versah. Den Menschen im Ort gefiel dies ebenso (Maria schien auf einmal eine von ihnen zu sein), wie den vielen Touristen, die hier den von ihnen gesuchten Lokalkolorit auf meisterhafte Weise umgesetzt fanden. Niemanden wunderte es, als José vom Priester höchst persönlich den Auftrag für eine große Marienstatue erhielt, die neben dem Altar der Kirche aufgestellt werden sollte. Dieser Auftrag brachte José, neben der Ehre, das erste Mal ein wenig Geld. Wieder war es das Aussehen seine Tochter, das er im Kopf hatte, als er in zweimonatiger Arbeit die schönste Figur schuf, die je aus einem Stück Holz geschnitzt worden war.
Unter großem Aufhebens trug man die Statue schließlich von seinem kleinen Hof in einer feierlichen Prozession zur Kirche. Dort wurde sie gesegnet und aufgestellt; José durfte einen Moment neben dem erhabenen Priester stehen und auf dem anschließenden Fest das erste Glas Chicha erheben, einem Maislikör, den die Frauen der Stadt extra für diesen Anlass, mit reichlich Spucke versehen, zubereitet und besonders lange hatten gären lassen.
Noemi, Josés Tochter, deren Gesicht ein solch fruchtbare Inspiration für ihren Vater war, hatte das sanfte Wesen ihres Vaters geerbt, aber auch die Dickköpfigkeit ihre Mutter, einer derben Frau, die nie lächelte und mit vierzig Jahren, nach der Geburt von zehn Kindern, ausgemergelt und vertrocknet, zwischen Küche und Stall lebte. Trotz Josés Ansehen hatte sich ihr Lebensstandard nicht wesentlich verändert. Das Geld wurde hauptsächlich für die Schule der Kinder ausgegeben. José hätte seiner Frau gerne eine Waschmaschine gekauft, doch er wusste, dass sie nie benutzt würde, nicht solange noch vier Töchter im Hause waren, die alle mithalfen die Berge von Wäsche an den zwei Waschtrögen im Hof sauber zu schrubben.
Für Noemi war es klar, dass ihr Leben einen ähnlichen Verlauf nehmen würde, wie das ihrer Mutter. Aber wie alle Mädchen in ihrem Alter, träumte sie davon einen Mann zu treffen, dessen Liebe und Fürsorge sie den Rest ihres Lebens begleiten würde, mit dem sie eine Familie gründen und alt werden könnte. Als sie diesem Mann begegnete, war sie neunzehn. Er hieß Roberto, hatte ein freundliches und offenes Wesen, sah zwar zum Erbarmen schwächlich aus, besaß aber eine diesem kleinen Körper nicht zuzutrauende Kraft und Zähigkeit, die es ihm ermöglichte jeden Tag zwölf Stunden hart zu arbeiten. Roberto hatte eine wundervolle Stimme, mit der er nicht nur die leb- und lasterhaften Lieder seiner Heimatregion an der Pazifikküste singen, sondern auch die Stimme etlicher berühmter Personen nachstellen konnte. Auf jeder Feier wurde er irgendwann zum Mittelpunkt, wenn er den Präsidenten des Landes, der Priester in der Kirche oder irgendeinen Star aus einer der beliebten Telenovelas nachahmte. Seit Roberto vor etwa fünf Jahren von der Küste in die Berge gezogen war und sich in dieser Stadt niedergelassen hatte, lebte er in einem kleinen Zimmer und sparte jeden Cent um, wenn er heiraten würde, das Geld zu besitzen, für sich und seine Frau ein eigenes Haus zu bauen. Roberto hatte nie eine Schule besucht, sich aber Lesen und Schreiben selber beigebracht und im Laufe seiner Arbeit auf verschiedenen Baustellen auch Rechnen und Berechnen gelernt. Für Noemi war Roberto die Art Mann, die sie sich vorgestellt hatte und das Beste, was sie sich in ihrer Lebenssituation erwarten konnte. Bis auf die, für Noemi völlig unwichtige Tatsache, dass Robertos Haut so dunkel war, wie die schwarzen Tasten eines Klaviers. So richtig bewusst wurde es ihr erst, als sie Roberto ihrer Familie vorstellte und ihre Mutter sich mit versteinerter Miene in die Küche verzog um Reis zu kochen. Sie hatte Roberto weder begrüßt noch ihn angesehen. Noemis Vater blieb ruhig und freundlich, auch wenn man ihm seine Bestürzung anmerkte. Was folgte, waren wochenlange erregte und laute Diskussionen zwischen Mutter und Tochter. Dazwischen José, der stets zu vermitteln suchte, immer mit dem Bestreben Noemi klar zu machen, welche Folgen es für sie hätte, wenn sie einen Schwarzen, einen Moreno, wie man die Farbigen hier nannte, heiratete.
Hier bei uns leben die Schwarzen unter sich, in den kleinen Siedlungen außerhalb der Stadt, erklärte er ihr. Da können wir gar nicht hin. Es ist gefährlich. Die Leute haben Angst. Sie sind anders. Fahr doch an die Küste, in ihre Städte und schau, wie es dort aussieht. Sie leben ein anderes Leben als wir. Man wird uns verachten. Noch nie hat ein Mädchen aus der Stadt einen Moreno geheiratet.
Noemis Mutter war da direkter. Sie sind Schweine, rief sie. Sie fressen Dreck und treiben Unzucht den lieben langen Tag, weil sie nichts arbeiten. Wenn du verhungern willst, dann geh zu denen. Aber bring mir deine Affenkinder bloß nicht nach Hause.
In den Nächten weinte Noemi oft oder schlich sich aus dem Haus, um sich von Roberto trösten zu lassen. Dessen Gelassenheit und Optimismus richtete sie bald wieder auf und sie verbrachten Stunden damit sich vorzustellen, wie sie ihr Haus bauen und nach und nach mit Leben füllen würden.
Als Noemi verkündete, sie werde Roberto heiraten, verfiel ihre Mutter in ein eisiges Schweigen, das sie wohl bis heute nicht mehr gebrochen hat. José startete einen letzten Versuch die Meinung seiner Tochter zu ändern, sah aber bald ein, dass es sinnlos war. Was hätte er getan, wenn er zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte was passieren würde? Um es zu verhindern, sagte er damals zu mir, müsste ich sie einsperren oder umbringen. Ich glaube, das erwarten auch alle von mir.
Eine Trauung in der Kirche der Stadt kam nicht in Frage, aber Noemi wollte wenigstens eine Feier mit Freunden und Familie. José nickte stumm, als sie ihn bat, den Hof seines Hauses dazu zu nutzen. Ein ganzes Wochenende schrieb Noemi Einladungen, die fast alle abgesagt wurden. Bald schon stellte sich heraus, dass außer Robertos Mutter, seine drei Geschwister, zwei seiner Freunde, zwei Freunde Noemis und ihrer eigenen Familie niemand zur Feier kommen würde. Unterdessen sprach sich die Nachricht überall in der Stadt herum. Die Reaktionen reichten von entsetztem Kopfschütteln bis zur lautstarken Empörung. Noemis Geschwister wurden in der Schule angesprochen und verspottet und, was wohl das schlimmste war, Josés Figuren wurden von den Händlern nur noch unter starkem Zögern und zu einem Zehntel des üblichen Preises abgenommen. Kann man nicht mehr gut verkaufen deine Sachen, sagten sie. Sie sind nicht mehr gefragt und außerdem reden die Leute.
Am Tag der Hochzeit stand Noemi um vier Uhr in der Frühe auf. In den Träumen ihrer Jugend war ihre Hochzeit ein wunderbares Ereignis gewesen. Ein Tag, an dem alles voller Licht und Freude war, an dem sie voller Glücksgefühle aufwachen, und während die Mutter und ihre Schwestern alles für die Feier vorbereiteten, sie mit ihrer besten Freundin nichts anders täte, als sich für die Feier zurecht zu machen. Ein warmes Bad, dann die Haare flechten, schließlich das weiße Kleid.
Die Realität sah nun so aus:
Zuerst ging sie in den Stall, suchte die zehn besten Hühner aus, schlachtete sie und warf die toten Körper in einen großen Kessel mit heißem Wasser. Dann zog sie einige Köpfe Salat aus der Erde und wusch sie. Zwischendurch probierte sie den Chicha, den sie schon vor zwei Wochen aufgesetzt hatte und der mit ihrer und Robertos Spucke zum Gären gebracht, einen wunderbar süßherben Geschmack hatte. Dann rupfte sie die Hühner, nahm sie aus und bestrich sie mit einem Sud aus Gewürzen und Essig. Danach ein kurzes kaltes Bad. Eine ihrer Schwestern half ihr einige helle Blümchen in ihre Haare zu flechten. Als Roberto schließlich kam um sie abzuholen, hatte sie zwar alles erledigt, konnte aber nicht verhindern, dass unter dem stumpfweißen Stoff ihres Kleides der Geruch von Fleisch, Gewürzen und Schweiß hervorkroch. Sie hatte nicht mal mehr die Zeit gehabt, auf die Toilette zu gehen.
Mit ihrem Vater und Robertos Mutter als Trauzeugen fuhren sie zum Rathaus und ließen sich als Ehepaar eintragen. Der mürrische Beamte begrüßte sie nicht, noch sah er einen der Anwesenden an. Die Prozedur dauerte nur zwei Minuten und die beiden waren verheiratet.
Als sie zurück kamen, saßen die paar Hochzeitsgäste auf kleinen Holzstühlen im Hof des Hauses und applaudierten. Noemi zog sich eine Schürze über und bereitete mit ihren Schwestern das Essen, während Roberto sich um die Musik kümmerte. Nach dem Essen hielt José eine kurze Rede, in der er betonte, wie sehr ihm das Glück seiner Tochter am Herzen läge, und Roberto ermahnte er, sich gut um sie zu kümmern. Noemis Mutter saß die ganze Zeit in einer Ecke der Küche und verscheuchte Fliegen und Hunde, die sich ihr zu nähern suchten. Einmal hatte José versucht mit ihr zu reden. Er ist schwarz, hatte sie geschrieen. Wir sind es doch auch fast, erwiderte er. Pah, kam die Antwort, wir sind doch keine Tiere.
Nach dem Essen wurde getanzt und tatsächlich schien der Chicha seine Wirkung zu zeigen. Die Stimmung wurde gelöster. Und als Roberto anfing zu singen, machte sich so etwas wie Begeisterung breit.
Etwa zu dieser Zeit erreichte die Prozession das Haus. So wie man vor gut zwei Jahren die schönste Marienstatue, die je geschaffen wurde, feierlich aus Josés Haus getragen und in die Kirche der Stadt gebracht hatte, kam sie nun wieder zurück. Ohne fröhliche und feierliche Lieder freilich.
Der Priester blieb vor dem Tor des Hauses stehen und lies einen seiner Lakaien die Skulptur in den Hof tragen und sie mitten zwischen die tanzenden Gäste werfen. Selbst dort im Staub erschien die Figur einem wunderbar und atemberaubend schön. In jeder Falte des langen Gewandes, in der feingliedrigen Gestaltung der Finger und den unter dem Gewand herausragenden Fußzehen erkannte man die Hand des begnadeten Künstlers. Nur dem Gesicht fehlte die Nase (sie schien mit einem Stemmeisen abgeschlagen) und ein grober Pinselstrich hatte es mitsamt Hals und Kragen schwarz gefärbt.
Das Gebrüll der Leute vor dem Tor übertönte die Musik. José vernahm die Stimme des Priesters, der verkündete, ihm sei hiermit die Konzession auf das Herstellen religiöser Bildnisse entzogen. Es flogen ein paar Gegenstände, Steine und altes Obst, auf den Hof und das Dach des kleinen Hauses. Dann entfernte sich der Pöbel, während die Hochzeitsgäste immer noch verstört auf die Statue inmitten des Hofes starrten. Schließlich hob José sie wortlos auf und trug sie hinter den Schuppen, der ihm als Stall und Werkstatt diente.
Man feierte weiter, aber die Stimmung blieb gedämpft und früh schon verabschiedeten sich die paar Gäste. Nachdem Noemi und Roberto den Hof gesäubert und die Küche wieder hergerichtet hatten, verließen sie das Haus, um auf den Bus zu warten , der sie zu Robertos kleinem Zimmer außerhalb der Stadt bringen würde. Bis sich weiteres ergäbe, wollten sie dort wohnen. All die Ereignisse vor der Hochzeit hatten Noemi klar gemacht, dass sie im Begriff war, etwas zu tun, was einen hohen Preis erforderte. Roberto, so empfand sie, war jedes Opfer wert. Dazu gehörte auch, ihre Hochzeit in jedem Aspekt anders zu gestalten, als sie es sich erträumt hatte. Sie nahm es von Anfang an in Kauf, lies sich durch nichts von ihrem Vorhaben abringen, weder durch die vielen Absagen selbst bester Freunde und Familienangehöriger, noch durch den Spott und die Verachtung von Nachbarn und Bekannten. Niemand konnte sie daran hindern, den Mann zu heiraten, den sie liebte. Dennoch, in diesem Moment, indem sie neben Roberto schweigend an der Haltestelle stand, konnte sie das Gefühl nicht verscheuchen, dass dies der traurigste Tag in ihrem Leben gewesen war.
Am selben Abend schleppte José all seine Figuren, die fertigen und die angefangen, in die Mitte des Hofes, stapelte sie über die entweihte Marienfigur, goss Benzin darüber und ließ alles mit einer hohen Stichflamme in Rauch aufgehen. Und während er in das Feuer schaute, ein kleines, schmächtiges Männlein, den die Flammen weit überragten, mit gesenkten Schultern, erschien es einem als ein Bild tiefster Resignation und Trauer.
Ich stellte mich neben ihn und ergriff seine Hand.
„Der Hass“, sagte er ohne mich anzusehen, „ist ein alter, großer Baum, den man nicht ausreißen kann.“ Nach einer Weile zog er seine Hand aus der meinen und ging ins Haus.
Roberto fand keine Arbeit mehr in der Stadt, und so zogen die beiden nach zwei Monaten an die Küste, die überwiegend von Schwarzen bewohnt wird.
Kurz darauf besuchte ich José in seinem Haus. Er saß mit zweien seiner Söhne im Hof und schnitzte an seinen Vögeln. Da ihm beinnahe von einem Tag auf den anderen sämtliche Einkünfte weggefallen waren, musste er seine beiden ältesten Söhne und die zweitälteste Tochter aus der Schule nehmen. Während das Mädchen Gemüse und Eier auf dem Mark verkaufte (die Mutter weigerte sich das zu tun), halfen die beiden Jungs nun ihrem Vater beim Herstellen kleiner Adler, deren mächtige Flügel weit nach vorne gebogen waren, sodass sie das Gewicht des Leibes ausglichen und der Vogel auf seiner Schnabelspitze aus Kolanussfleisch balancieren konnte, ganz gleich wo man ihn absetzte. Außerdem fertigten sie langstielige Rosen aus Holz und Schachspiele, deren Figuren man jedwedes Gesicht geben konnte, ganz wie die Kunden es wünschten. Ein jedes dieser Stücke war ein Meisterwerk. Dennoch wurde sie von den Händlern vor Ort schlecht bezahlt. José und seine Söhne arbeiteten vierzehn Stunden am Tag, um ungefähr die Hälfte dessen zu verdienen, was er vordem allein erwirtschaftet hatte.
José grüßte freundlich als er mich sah, widmete sich aber weiter seiner Arbeit. Wie es denn so ginge, fragte ich. Er sagte zunächst nichts. Ich sah seine feuchten Augen und wie in kurzer Zeit einige Tränen seine zerfurchten Wangen herunterliefen. Dann schickte er seine Jungs kurz ins Haus.
Weist du, sagte er und schnäuzte sich schnell in den Ärmel seiner löchrigen Strickjacke, dass meiner Tochter einen Moreno geheiratet hat, würden die Leute hier mit der Zeit womöglich wieder vergessen. Was aber niemand vergessen wird, ist die Tatsache, dass der Priester eine von ihm selbst gesegnete Maria in den Dreck werfen lässt, weil sie durch eine unmögliche und verfluchte Verbindung entweiht wurde. Das bleibt an mir, solange ich hier wohnen werde. So lange ich leben werde, setzte er nach.
Ich werde das Land bald verlassen, sagte ich nach einer Weile. Ich will von deinen Vögeln einiges mitnehmen und in Europa verkaufen. Die bringen dort das zehnfache, mindestens. Wenn du mir etwa fünfzig Stück fertig machst.
Er nickte nur und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Muss weiter arbeiten, meinte er dann tonlos und lies sein kleines Stemmeisen flink über die hölzernen Adlerflügel zischen.
Einen Tag vor meinem Flug fuhr ich wieder zu ihm. Er empfing mich am Eingang seiner Hauses und meinte nur, er würde mir die Vögel morgen früh vorbei bringen.
Er kam am nächsten Morgen, so gegen halb fünf morgens, in der Hand nur eine kleines Päckchen.
Für dich, sagte er, gab mir einen kurzen aber festen Händedruck und verschwand wieder. Ich hätte ihn gerne umarmt, schreckte aber vor dem Schmerz in seinem Blick zurück, von dem ich annahm, er hätte wenig mit meiner Abreise zu tun.
In dem Päckchen befand sich ein Exemplar der perfekt ausbalancierten Holzadler, mit dunkler Beize überzogen, und wie mir schien, besonders liebevoll geschnitzt. Dazu eine kleine Holzpyramide auf deren Spitze man den Adler absetzten konnte. Am Fuß der Pyramide war mein Vorname eingraviert.
Der Vogel steht jetzt auf meinem Schreibtisch und dreht sich auf seiner Schnabelspitze in dem leichten Luftzug vom Fenster her.
Ich muss zugeben, zunächst war ich ein wenig erzürnt, dass José mein Angebot seine Arbeiten für ihn zu verkaufen, nicht angenommen hatte. Mittlerweile aber ist mir bewusst, warum er es nicht tat. Auf diese Art stellte er für sich klar, dass es von ihm aus ein Abschied für immer war. Nichts sollte uns mehr verbinden, auch keine geschäftliche Abmachung. Mit dem Geschenk und dem letzten Händedruck hatte er mir unsere Freundschaft zwar nicht gekündigt, wohl aber gewissermaßen beerdigt. Heute meine ich zu wissen, warum er das tat.
Tatsächlich war ich es, der Roberto mit Noemi bekannt gemacht hatte. Er gehörte zu der Gruppe junger Bauleute, die mein Architekt angeheuerte hatte, um mein Haus etwas außerhalb der Stadt zu renovieren. Roberto war mir wegen seines lebenslustigen Wesens und seines Humors sofort sympathisch. José und seine Familie wiederum waren mit die Ersten, die ich kennen lernte, als ich in der Stadt ankam. Bei der Feier zur Fertigstellung des Hauses lud ich einige Freunde wie auch die Bauleute, darunter Roberto, ein. José und seine Frau konnten nicht kommen, dafür erschien Noemi mit einem Geschenk der Familie. Im Laufe der Feier stellte ich die beiden einander vor, hätte aber nicht im Traum damit gerechnet, dass sie sich gleich verlieben würden. Letztlich fand ich es aber eine wunderbare Sache, gerade weil sie verschiedenrassig waren und weil mir dieses Durchbrechen der Konventionen als etwas Wünschenswertes und Gutes vorkam. So bestärkte ich sie jedes Mal in ihrem Vorsatz, eine gemeinsame Zukunft zu suchen, auch wenn ich nie soweit ging, wie Noemi es von mir erbat, mich für Roberto bei ihren Eltern einzusetzen. Viele Abende saßen wir auf der Terrasse meines Hauses und sie sprachen über ihre Pläne und auch über all die furchtbaren Reaktionen der Bewohner aus der Stadt, und ich ermutigte sie, dagegen anzukämpfen. Nur so, meinte ich, kann man verkrustete und überalterte Strukturen aufbrechen.
Heute frage ich mich, was aufgebrochen wurde? Nichts! Zerbrochen wurde vieles.
Hatte José von mir als seinen Freund erwartet, dass ich versuchen würde, die beiden von ihrem Vorhaben abzubringen, ihnen die Folgen klarzumachen, die es mit sich bringen würde, für sie, für ihre Familien, für ihr weiteres Leben? Durch meine Beziehungen wäre es leicht gewesen Roberto eine Arbeit am anderen Ende des Landes zu besorgen. Er hätte dort neue Leute kennen gelernt, andere Frauen auch, es wäre auf die ein oder andere Weise zu Ende gegangen. Hatte José vielleicht darauf gehofft? Wäre das der bessere Weg gewesen, der bessere Ausgang für eine der Geschichten, für die ohnehin kein Happyend vorgesehen war? Hätte ich ihnen raten sollen, einfach zu verschwinden, in eine andere Stadt, dort zu heiraten und ihr Glück zu versuchen?
Welche Verletzung soll man wählen? Mit welchen Narben will man den Rest seines Lebens verbringen? Wer kann solche Fragen beantworten? Wer kann sagen, was richtig und falsch ist?
Ich schreibe in mein Tagebuch, heute am Jahrestag der Hochzeit von Roberto und Noemi:
Der Hass und die Dummheit sind Bäume, die man umhauen, aber nicht entwurzeln kann. Aber aus ihrem Holz lassen sich trefflich Götter schnitzen. Götter und Vögel.
Götter und Vögel
José war ein Künstler. Wie schon sein Vater und sein Großvater besaß er die Fähigkeit, aus Holz Figuren zu schnitzen, die eine solche Lebendigkeit ausstrahlen, dass einem unweigerlich das Bedürfnis überkommt sie zu berühren. Bis in die sechziger Jahre hinein gab es nur wenige, die sich in jenem lateinamerikanischen Land durch das Herstellen von Holzskulpturen mit religiösen Motiven ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Man brauchte dazu die offizielle Genehmigung des Priesters der jeweiligen Parroquia oder Gemeinde.
Josés Großvater war der erste in seiner Stadt gewesen, der eine solche Genehmigung erhalten hatte. Mit der wachsenden Zahl von Touristen aus Europa und Nordamerika stieg die Nachfrage nach diesen kleinen Kunstwerken, und immer mehr Bewohner der Stadt versuchten sich in diesem Geschäft. Nicht alle erhielten die erforderliche Berechtigung. Sie mussten sich auf Motive aus der Pflanzen- und Tierwelt sowie Schachspiele beschränken, die wesentlich seltener gekauft wurden.
José, so schien es, hatte die Kunst seiner Väter perfektioniert. Zwar blieb er ein Armer unter Armen, aber sein Ansehen im Ort war sehr groß. Jeder bewunderte seine Figuren, vor allem seine Marienstatuen, die er zunächst nach einem Foto einer berühmten Skulptur aus der großen Kirche der Hauptstadt formte. Später aber verwendete er als Vorbild für seine Figuren das außergewöhnlich schöne Gesicht seiner ältesten Tochter. Rund und gleichmäßig, mit großen dunklen Augen und leicht olivefarbenem Teint, schien es ihm viel besser zur Mutter Gottes zu passen, als jenes blasse, längliche, brav fatalistische Antlitz, mit dem man sonst die Marienfiguren versah. Den Menschen im Ort gefiel dies ebenso (Maria schien auf einmal eine von ihnen zu sein), wie den vielen Touristen, die hier den von ihnen gesuchten Lokalkolorit auf meisterhafte Weise umgesetzt fanden. Niemanden wunderte es, als José vom Priester höchst persönlich den Auftrag für eine große Marienstatue erhielt, die neben dem Altar der Kirche aufgestellt werden sollte. Dieser Auftrag brachte José, neben der Ehre, das erste Mal ein wenig Geld. Wieder war es das Aussehen seine Tochter, das er im Kopf hatte, als er in zweimonatiger Arbeit die schönste Figur schuf, die je aus einem Stück Holz geschnitzt worden war.
Unter großem Aufhebens trug man die Statue schließlich von seinem kleinen Hof in einer feierlichen Prozession zur Kirche. Dort wurde sie gesegnet und aufgestellt; José durfte einen Moment neben dem erhabenen Priester stehen und auf dem anschließenden Fest das erste Glas Chicha erheben, einem Maislikör, den die Frauen der Stadt extra für diesen Anlass, mit reichlich Spucke versehen, zubereitet und besonders lange hatten gären lassen.
Noemi, Josés Tochter, deren Gesicht ein solch fruchtbare Inspiration für ihren Vater war, hatte das sanfte Wesen ihres Vaters geerbt, aber auch die Dickköpfigkeit ihre Mutter, einer derben Frau, die nie lächelte und mit vierzig Jahren, nach der Geburt von zehn Kindern, ausgemergelt und vertrocknet, zwischen Küche und Stall lebte. Trotz Josés Ansehen hatte sich ihr Lebensstandard nicht wesentlich verändert. Das Geld wurde hauptsächlich für die Schule der Kinder ausgegeben. José hätte seiner Frau gerne eine Waschmaschine gekauft, doch er wusste, dass sie nie benutzt würde, nicht solange noch vier Töchter im Hause waren, die alle mithalfen die Berge von Wäsche an den zwei Waschtrögen im Hof sauber zu schrubben.
Für Noemi war es klar, dass ihr Leben einen ähnlichen Verlauf nehmen würde, wie das ihrer Mutter. Aber wie alle Mädchen in ihrem Alter, träumte sie davon einen Mann zu treffen, dessen Liebe und Fürsorge sie den Rest ihres Lebens begleiten würde, mit dem sie eine Familie gründen und alt werden könnte. Als sie diesem Mann begegnete, war sie neunzehn. Er hieß Roberto, hatte ein freundliches und offenes Wesen, sah zwar zum Erbarmen schwächlich aus, besaß aber eine diesem kleinen Körper nicht zuzutrauende Kraft und Zähigkeit, die es ihm ermöglichte jeden Tag zwölf Stunden hart zu arbeiten. Roberto hatte eine wundervolle Stimme, mit der er nicht nur die leb- und lasterhaften Lieder seiner Heimatregion an der Pazifikküste singen, sondern auch die Stimme etlicher berühmter Personen nachstellen konnte. Auf jeder Feier wurde er irgendwann zum Mittelpunkt, wenn er den Präsidenten des Landes, der Priester in der Kirche oder irgendeinen Star aus einer der beliebten Telenovelas nachahmte. Seit Roberto vor etwa fünf Jahren von der Küste in die Berge gezogen war und sich in dieser Stadt niedergelassen hatte, lebte er in einem kleinen Zimmer und sparte jeden Cent um, wenn er heiraten würde, das Geld zu besitzen, für sich und seine Frau ein eigenes Haus zu bauen. Roberto hatte nie eine Schule besucht, sich aber Lesen und Schreiben selber beigebracht und im Laufe seiner Arbeit auf verschiedenen Baustellen auch Rechnen und Berechnen gelernt. Für Noemi war Roberto die Art Mann, die sie sich vorgestellt hatte und das Beste, was sie sich in ihrer Lebenssituation erwarten konnte. Bis auf die, für Noemi völlig unwichtige Tatsache, dass Robertos Haut so dunkel war, wie die schwarzen Tasten eines Klaviers. So richtig bewusst wurde es ihr erst, als sie Roberto ihrer Familie vorstellte und ihre Mutter sich mit versteinerter Miene in die Küche verzog um Reis zu kochen. Sie hatte Roberto weder begrüßt noch ihn angesehen. Noemis Vater blieb ruhig und freundlich, auch wenn man ihm seine Bestürzung anmerkte. Was folgte, waren wochenlange erregte und laute Diskussionen zwischen Mutter und Tochter. Dazwischen José, der stets zu vermitteln suchte, immer mit dem Bestreben Noemi klar zu machen, welche Folgen es für sie hätte, wenn sie einen Schwarzen, einen Moreno, wie man die Farbigen hier nannte, heiratete.
Hier bei uns leben die Schwarzen unter sich, in den kleinen Siedlungen außerhalb der Stadt, erklärte er ihr. Da können wir gar nicht hin. Es ist gefährlich. Die Leute haben Angst. Sie sind anders. Fahr doch an die Küste, in ihre Städte und schau, wie es dort aussieht. Sie leben ein anderes Leben als wir. Man wird uns verachten. Noch nie hat ein Mädchen aus der Stadt einen Moreno geheiratet.
Noemis Mutter war da direkter. Sie sind Schweine, rief sie. Sie fressen Dreck und treiben Unzucht den lieben langen Tag, weil sie nichts arbeiten. Wenn du verhungern willst, dann geh zu denen. Aber bring mir deine Affenkinder bloß nicht nach Hause.
In den Nächten weinte Noemi oft oder schlich sich aus dem Haus, um sich von Roberto trösten zu lassen. Dessen Gelassenheit und Optimismus richtete sie bald wieder auf und sie verbrachten Stunden damit sich vorzustellen, wie sie ihr Haus bauen und nach und nach mit Leben füllen würden.
Als Noemi verkündete, sie werde Roberto heiraten, verfiel ihre Mutter in ein eisiges Schweigen, das sie wohl bis heute nicht mehr gebrochen hat. José startete einen letzten Versuch die Meinung seiner Tochter zu ändern, sah aber bald ein, dass es sinnlos war. Was hätte er getan, wenn er zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte was passieren würde? Um es zu verhindern, sagte er damals zu mir, müsste ich sie einsperren oder umbringen. Ich glaube, das erwarten auch alle von mir.
Eine Trauung in der Kirche der Stadt kam nicht in Frage, aber Noemi wollte wenigstens eine Feier mit Freunden und Familie. José nickte stumm, als sie ihn bat, den Hof seines Hauses dazu zu nutzen. Ein ganzes Wochenende schrieb Noemi Einladungen, die fast alle abgesagt wurden. Bald schon stellte sich heraus, dass außer Robertos Mutter, seine drei Geschwister, zwei seiner Freunde, zwei Freunde Noemis und ihrer eigenen Familie niemand zur Feier kommen würde. Unterdessen sprach sich die Nachricht überall in der Stadt herum. Die Reaktionen reichten von entsetztem Kopfschütteln bis zur lautstarken Empörung. Noemis Geschwister wurden in der Schule angesprochen und verspottet und, was wohl das schlimmste war, Josés Figuren wurden von den Händlern nur noch unter starkem Zögern und zu einem Zehntel des üblichen Preises abgenommen. Kann man nicht mehr gut verkaufen deine Sachen, sagten sie. Sie sind nicht mehr gefragt und außerdem reden die Leute.
Am Tag der Hochzeit stand Noemi um vier Uhr in der Frühe auf. In den Träumen ihrer Jugend war ihre Hochzeit ein wunderbares Ereignis gewesen. Ein Tag, an dem alles voller Licht und Freude war, an dem sie voller Glücksgefühle aufwachen, und während die Mutter und ihre Schwestern alles für die Feier vorbereiteten, sie mit ihrer besten Freundin nichts anders täte, als sich für die Feier zurecht zu machen. Ein warmes Bad, dann die Haare flechten, schließlich das weiße Kleid.
Die Realität sah nun so aus:
Zuerst ging sie in den Stall, suchte die zehn besten Hühner aus, schlachtete sie und warf die toten Körper in einen großen Kessel mit heißem Wasser. Dann zog sie einige Köpfe Salat aus der Erde und wusch sie. Zwischendurch probierte sie den Chicha, den sie schon vor zwei Wochen aufgesetzt hatte und der mit ihrer und Robertos Spucke zum Gären gebracht, einen wunderbar süßherben Geschmack hatte. Dann rupfte sie die Hühner, nahm sie aus und bestrich sie mit einem Sud aus Gewürzen und Essig. Danach ein kurzes kaltes Bad. Eine ihrer Schwestern half ihr einige helle Blümchen in ihre Haare zu flechten. Als Roberto schließlich kam um sie abzuholen, hatte sie zwar alles erledigt, konnte aber nicht verhindern, dass unter dem stumpfweißen Stoff ihres Kleides der Geruch von Fleisch, Gewürzen und Schweiß hervorkroch. Sie hatte nicht mal mehr die Zeit gehabt, auf die Toilette zu gehen.
Mit ihrem Vater und Robertos Mutter als Trauzeugen fuhren sie zum Rathaus und ließen sich als Ehepaar eintragen. Der mürrische Beamte begrüßte sie nicht, noch sah er einen der Anwesenden an. Die Prozedur dauerte nur zwei Minuten und die beiden waren verheiratet.
Als sie zurück kamen, saßen die paar Hochzeitsgäste auf kleinen Holzstühlen im Hof des Hauses und applaudierten. Noemi zog sich eine Schürze über und bereitete mit ihren Schwestern das Essen, während Roberto sich um die Musik kümmerte. Nach dem Essen hielt José eine kurze Rede, in der er betonte, wie sehr ihm das Glück seiner Tochter am Herzen läge, und Roberto ermahnte er, sich gut um sie zu kümmern. Noemis Mutter saß die ganze Zeit in einer Ecke der Küche und verscheuchte Fliegen und Hunde, die sich ihr zu nähern suchten. Einmal hatte José versucht mit ihr zu reden. Er ist schwarz, hatte sie geschrieen. Wir sind es doch auch fast, erwiderte er. Pah, kam die Antwort, wir sind doch keine Tiere.
Nach dem Essen wurde getanzt und tatsächlich schien der Chicha seine Wirkung zu zeigen. Die Stimmung wurde gelöster. Und als Roberto anfing zu singen, machte sich so etwas wie Begeisterung breit.
Etwa zu dieser Zeit erreichte die Prozession das Haus. So wie man vor gut zwei Jahren die schönste Marienstatue, die je geschaffen wurde, feierlich aus Josés Haus getragen und in die Kirche der Stadt gebracht hatte, kam sie nun wieder zurück. Ohne fröhliche und feierliche Lieder freilich.
Der Priester blieb vor dem Tor des Hauses stehen und lies einen seiner Lakaien die Skulptur in den Hof tragen und sie mitten zwischen die tanzenden Gäste werfen. Selbst dort im Staub erschien die Figur einem wunderbar und atemberaubend schön. In jeder Falte des langen Gewandes, in der feingliedrigen Gestaltung der Finger und den unter dem Gewand herausragenden Fußzehen erkannte man die Hand des begnadeten Künstlers. Nur dem Gesicht fehlte die Nase (sie schien mit einem Stemmeisen abgeschlagen) und ein grober Pinselstrich hatte es mitsamt Hals und Kragen schwarz gefärbt.
Das Gebrüll der Leute vor dem Tor übertönte die Musik. José vernahm die Stimme des Priesters, der verkündete, ihm sei hiermit die Konzession auf das Herstellen religiöser Bildnisse entzogen. Es flogen ein paar Gegenstände, Steine und altes Obst, auf den Hof und das Dach des kleinen Hauses. Dann entfernte sich der Pöbel, während die Hochzeitsgäste immer noch verstört auf die Statue inmitten des Hofes starrten. Schließlich hob José sie wortlos auf und trug sie hinter den Schuppen, der ihm als Stall und Werkstatt diente.
Man feierte weiter, aber die Stimmung blieb gedämpft und früh schon verabschiedeten sich die paar Gäste. Nachdem Noemi und Roberto den Hof gesäubert und die Küche wieder hergerichtet hatten, verließen sie das Haus, um auf den Bus zu warten , der sie zu Robertos kleinem Zimmer außerhalb der Stadt bringen würde. Bis sich weiteres ergäbe, wollten sie dort wohnen. All die Ereignisse vor der Hochzeit hatten Noemi klar gemacht, dass sie im Begriff war, etwas zu tun, was einen hohen Preis erforderte. Roberto, so empfand sie, war jedes Opfer wert. Dazu gehörte auch, ihre Hochzeit in jedem Aspekt anders zu gestalten, als sie es sich erträumt hatte. Sie nahm es von Anfang an in Kauf, lies sich durch nichts von ihrem Vorhaben abringen, weder durch die vielen Absagen selbst bester Freunde und Familienangehöriger, noch durch den Spott und die Verachtung von Nachbarn und Bekannten. Niemand konnte sie daran hindern, den Mann zu heiraten, den sie liebte. Dennoch, in diesem Moment, indem sie neben Roberto schweigend an der Haltestelle stand, konnte sie das Gefühl nicht verscheuchen, dass dies der traurigste Tag in ihrem Leben gewesen war.
Am selben Abend schleppte José all seine Figuren, die fertigen und die angefangen, in die Mitte des Hofes, stapelte sie über die entweihte Marienfigur, goss Benzin darüber und ließ alles mit einer hohen Stichflamme in Rauch aufgehen. Und während er in das Feuer schaute, ein kleines, schmächtiges Männlein, den die Flammen weit überragten, mit gesenkten Schultern, erschien es einem als ein Bild tiefster Resignation und Trauer.
Ich stellte mich neben ihn und ergriff seine Hand.
„Der Hass“, sagte er ohne mich anzusehen, „ist ein alter, großer Baum, den man nicht ausreißen kann.“ Nach einer Weile zog er seine Hand aus der meinen und ging ins Haus.
Roberto fand keine Arbeit mehr in der Stadt, und so zogen die beiden nach zwei Monaten an die Küste, die überwiegend von Schwarzen bewohnt wird.
Kurz darauf besuchte ich José in seinem Haus. Er saß mit zweien seiner Söhne im Hof und schnitzte an seinen Vögeln. Da ihm beinnahe von einem Tag auf den anderen sämtliche Einkünfte weggefallen waren, musste er seine beiden ältesten Söhne und die zweitälteste Tochter aus der Schule nehmen. Während das Mädchen Gemüse und Eier auf dem Mark verkaufte (die Mutter weigerte sich das zu tun), halfen die beiden Jungs nun ihrem Vater beim Herstellen kleiner Adler, deren mächtige Flügel weit nach vorne gebogen waren, sodass sie das Gewicht des Leibes ausglichen und der Vogel auf seiner Schnabelspitze aus Kolanussfleisch balancieren konnte, ganz gleich wo man ihn absetzte. Außerdem fertigten sie langstielige Rosen aus Holz und Schachspiele, deren Figuren man jedwedes Gesicht geben konnte, ganz wie die Kunden es wünschten. Ein jedes dieser Stücke war ein Meisterwerk. Dennoch wurde sie von den Händlern vor Ort schlecht bezahlt. José und seine Söhne arbeiteten vierzehn Stunden am Tag, um ungefähr die Hälfte dessen zu verdienen, was er vordem allein erwirtschaftet hatte.
José grüßte freundlich als er mich sah, widmete sich aber weiter seiner Arbeit. Wie es denn so ginge, fragte ich. Er sagte zunächst nichts. Ich sah seine feuchten Augen und wie in kurzer Zeit einige Tränen seine zerfurchten Wangen herunterliefen. Dann schickte er seine Jungs kurz ins Haus.
Weist du, sagte er und schnäuzte sich schnell in den Ärmel seiner löchrigen Strickjacke, dass meiner Tochter einen Moreno geheiratet hat, würden die Leute hier mit der Zeit womöglich wieder vergessen. Was aber niemand vergessen wird, ist die Tatsache, dass der Priester eine von ihm selbst gesegnete Maria in den Dreck werfen lässt, weil sie durch eine unmögliche und verfluchte Verbindung entweiht wurde. Das bleibt an mir, solange ich hier wohnen werde. So lange ich leben werde, setzte er nach.
Ich werde das Land bald verlassen, sagte ich nach einer Weile. Ich will von deinen Vögeln einiges mitnehmen und in Europa verkaufen. Die bringen dort das zehnfache, mindestens. Wenn du mir etwa fünfzig Stück fertig machst.
Er nickte nur und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Muss weiter arbeiten, meinte er dann tonlos und lies sein kleines Stemmeisen flink über die hölzernen Adlerflügel zischen.
Einen Tag vor meinem Flug fuhr ich wieder zu ihm. Er empfing mich am Eingang seiner Hauses und meinte nur, er würde mir die Vögel morgen früh vorbei bringen.
Er kam am nächsten Morgen, so gegen halb fünf morgens, in der Hand nur eine kleines Päckchen.
Für dich, sagte er, gab mir einen kurzen aber festen Händedruck und verschwand wieder. Ich hätte ihn gerne umarmt, schreckte aber vor dem Schmerz in seinem Blick zurück, von dem ich annahm, er hätte wenig mit meiner Abreise zu tun.
In dem Päckchen befand sich ein Exemplar der perfekt ausbalancierten Holzadler, mit dunkler Beize überzogen, und wie mir schien, besonders liebevoll geschnitzt. Dazu eine kleine Holzpyramide auf deren Spitze man den Adler absetzten konnte. Am Fuß der Pyramide war mein Vorname eingraviert.
Der Vogel steht jetzt auf meinem Schreibtisch und dreht sich auf seiner Schnabelspitze in dem leichten Luftzug vom Fenster her.
Ich muss zugeben, zunächst war ich ein wenig erzürnt, dass José mein Angebot seine Arbeiten für ihn zu verkaufen, nicht angenommen hatte. Mittlerweile aber ist mir bewusst, warum er es nicht tat. Auf diese Art stellte er für sich klar, dass es von ihm aus ein Abschied für immer war. Nichts sollte uns mehr verbinden, auch keine geschäftliche Abmachung. Mit dem Geschenk und dem letzten Händedruck hatte er mir unsere Freundschaft zwar nicht gekündigt, wohl aber gewissermaßen beerdigt. Heute meine ich zu wissen, warum er das tat.
Tatsächlich war ich es, der Roberto mit Noemi bekannt gemacht hatte. Er gehörte zu der Gruppe junger Bauleute, die mein Architekt angeheuerte hatte, um mein Haus etwas außerhalb der Stadt zu renovieren. Roberto war mir wegen seines lebenslustigen Wesens und seines Humors sofort sympathisch. José und seine Familie wiederum waren mit die Ersten, die ich kennen lernte, als ich in der Stadt ankam. Bei der Feier zur Fertigstellung des Hauses lud ich einige Freunde wie auch die Bauleute, darunter Roberto, ein. José und seine Frau konnten nicht kommen, dafür erschien Noemi mit einem Geschenk der Familie. Im Laufe der Feier stellte ich die beiden einander vor, hätte aber nicht im Traum damit gerechnet, dass sie sich gleich verlieben würden. Letztlich fand ich es aber eine wunderbare Sache, gerade weil sie verschiedenrassig waren und weil mir dieses Durchbrechen der Konventionen als etwas Wünschenswertes und Gutes vorkam. So bestärkte ich sie jedes Mal in ihrem Vorsatz, eine gemeinsame Zukunft zu suchen, auch wenn ich nie soweit ging, wie Noemi es von mir erbat, mich für Roberto bei ihren Eltern einzusetzen. Viele Abende saßen wir auf der Terrasse meines Hauses und sie sprachen über ihre Pläne und auch über all die furchtbaren Reaktionen der Bewohner aus der Stadt, und ich ermutigte sie, dagegen anzukämpfen. Nur so, meinte ich, kann man verkrustete und überalterte Strukturen aufbrechen.
Heute frage ich mich, was aufgebrochen wurde? Nichts! Zerbrochen wurde vieles.
Hatte José von mir als seinen Freund erwartet, dass ich versuchen würde, die beiden von ihrem Vorhaben abzubringen, ihnen die Folgen klarzumachen, die es mit sich bringen würde, für sie, für ihre Familien, für ihr weiteres Leben? Durch meine Beziehungen wäre es leicht gewesen Roberto eine Arbeit am anderen Ende des Landes zu besorgen. Er hätte dort neue Leute kennen gelernt, andere Frauen auch, es wäre auf die ein oder andere Weise zu Ende gegangen. Hatte José vielleicht darauf gehofft? Wäre das der bessere Weg gewesen, der bessere Ausgang für eine der Geschichten, für die ohnehin kein Happyend vorgesehen war? Hätte ich ihnen raten sollen, einfach zu verschwinden, in eine andere Stadt, dort zu heiraten und ihr Glück zu versuchen?
Welche Verletzung soll man wählen? Mit welchen Narben will man den Rest seines Lebens verbringen? Wer kann solche Fragen beantworten? Wer kann sagen, was richtig und falsch ist?
Ich schreibe in mein Tagebuch, heute am Jahrestag der Hochzeit von Roberto und Noemi:
Der Hass und die Dummheit sind Bäume, die man umhauen, aber nicht entwurzeln kann. Aber aus ihrem Holz lassen sich trefflich Götter schnitzen. Götter und Vögel.