Götter und Vögel

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Sam

Beitragvon Sam » 19.04.2008, 14:45

Aus den Reisenotizen. Südamerika, Sommer 1997

Götter und Vögel

José war ein Künstler. Wie schon sein Vater und sein Großvater besaß er die Fähigkeit, aus Holz Figuren zu schnitzen, die eine solche Lebendigkeit ausstrahlen, dass einem unweigerlich das Bedürfnis überkommt sie zu berühren. Bis in die sechziger Jahre hinein gab es nur wenige, die sich in jenem lateinamerikanischen Land durch das Herstellen von Holzskulpturen mit religiösen Motiven ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Man brauchte dazu die offizielle Genehmigung des Priesters der jeweiligen Parroquia oder Gemeinde.
Josés Großvater war der erste in seiner Stadt gewesen, der eine solche Genehmigung erhalten hatte. Mit der wachsenden Zahl von Touristen aus Europa und Nordamerika stieg die Nachfrage nach diesen kleinen Kunstwerken, und immer mehr Bewohner der Stadt versuchten sich in diesem Geschäft. Nicht alle erhielten die erforderliche Berechtigung. Sie mussten sich auf Motive aus der Pflanzen- und Tierwelt sowie Schachspiele beschränken, die wesentlich seltener gekauft wurden.

José, so schien es, hatte die Kunst seiner Väter perfektioniert. Zwar blieb er ein Armer unter Armen, aber sein Ansehen im Ort war sehr groß. Jeder bewunderte seine Figuren, vor allem seine Marienstatuen, die er zunächst nach einem Foto einer berühmten Skulptur aus der großen Kirche der Hauptstadt formte. Später aber verwendete er als Vorbild für seine Figuren das außergewöhnlich schöne Gesicht seiner ältesten Tochter. Rund und gleichmäßig, mit großen dunklen Augen und leicht olivefarbenem Teint, schien es ihm viel besser zur Mutter Gottes zu passen, als jenes blasse, längliche, brav fatalistische Antlitz, mit dem man sonst die Marienfiguren versah. Den Menschen im Ort gefiel dies ebenso (Maria schien auf einmal eine von ihnen zu sein), wie den vielen Touristen, die hier den von ihnen gesuchten Lokalkolorit auf meisterhafte Weise umgesetzt fanden. Niemanden wunderte es, als José vom Priester höchst persönlich den Auftrag für eine große Marienstatue erhielt, die neben dem Altar der Kirche aufgestellt werden sollte. Dieser Auftrag brachte José, neben der Ehre, das erste Mal ein wenig Geld. Wieder war es das Aussehen seine Tochter, das er im Kopf hatte, als er in zweimonatiger Arbeit die schönste Figur schuf, die je aus einem Stück Holz geschnitzt worden war.

Unter großem Aufhebens trug man die Statue schließlich von seinem kleinen Hof in einer feierlichen Prozession zur Kirche. Dort wurde sie gesegnet und aufgestellt; José durfte einen Moment neben dem erhabenen Priester stehen und auf dem anschließenden Fest das erste Glas Chicha erheben, einem Maislikör, den die Frauen der Stadt extra für diesen Anlass, mit reichlich Spucke versehen, zubereitet und besonders lange hatten gären lassen.

Noemi, Josés Tochter, deren Gesicht ein solch fruchtbare Inspiration für ihren Vater war, hatte das sanfte Wesen ihres Vaters geerbt, aber auch die Dickköpfigkeit ihre Mutter, einer derben Frau, die nie lächelte und mit vierzig Jahren, nach der Geburt von zehn Kindern, ausgemergelt und vertrocknet, zwischen Küche und Stall lebte. Trotz Josés Ansehen hatte sich ihr Lebensstandard nicht wesentlich verändert. Das Geld wurde hauptsächlich für die Schule der Kinder ausgegeben. José hätte seiner Frau gerne eine Waschmaschine gekauft, doch er wusste, dass sie nie benutzt würde, nicht solange noch vier Töchter im Hause waren, die alle mithalfen die Berge von Wäsche an den zwei Waschtrögen im Hof sauber zu schrubben.

Für Noemi war es klar, dass ihr Leben einen ähnlichen Verlauf nehmen würde, wie das ihrer Mutter. Aber wie alle Mädchen in ihrem Alter, träumte sie davon einen Mann zu treffen, dessen Liebe und Fürsorge sie den Rest ihres Lebens begleiten würde, mit dem sie eine Familie gründen und alt werden könnte. Als sie diesem Mann begegnete, war sie neunzehn. Er hieß Roberto, hatte ein freundliches und offenes Wesen, sah zwar zum Erbarmen schwächlich aus, besaß aber eine diesem kleinen Körper nicht zuzutrauende Kraft und Zähigkeit, die es ihm ermöglichte jeden Tag zwölf Stunden hart zu arbeiten. Roberto hatte eine wundervolle Stimme, mit der er nicht nur die leb- und lasterhaften Lieder seiner Heimatregion an der Pazifikküste singen, sondern auch die Stimme etlicher berühmter Personen nachstellen konnte. Auf jeder Feier wurde er irgendwann zum Mittelpunkt, wenn er den Präsidenten des Landes, der Priester in der Kirche oder irgendeinen Star aus einer der beliebten Telenovelas nachahmte. Seit Roberto vor etwa fünf Jahren von der Küste in die Berge gezogen war und sich in dieser Stadt niedergelassen hatte, lebte er in einem kleinen Zimmer und sparte jeden Cent um, wenn er heiraten würde, das Geld zu besitzen, für sich und seine Frau ein eigenes Haus zu bauen. Roberto hatte nie eine Schule besucht, sich aber Lesen und Schreiben selber beigebracht und im Laufe seiner Arbeit auf verschiedenen Baustellen auch Rechnen und Berechnen gelernt. Für Noemi war Roberto die Art Mann, die sie sich vorgestellt hatte und das Beste, was sie sich in ihrer Lebenssituation erwarten konnte. Bis auf die, für Noemi völlig unwichtige Tatsache, dass Robertos Haut so dunkel war, wie die schwarzen Tasten eines Klaviers. So richtig bewusst wurde es ihr erst, als sie Roberto ihrer Familie vorstellte und ihre Mutter sich mit versteinerter Miene in die Küche verzog um Reis zu kochen. Sie hatte Roberto weder begrüßt noch ihn angesehen. Noemis Vater blieb ruhig und freundlich, auch wenn man ihm seine Bestürzung anmerkte. Was folgte, waren wochenlange erregte und laute Diskussionen zwischen Mutter und Tochter. Dazwischen José, der stets zu vermitteln suchte, immer mit dem Bestreben Noemi klar zu machen, welche Folgen es für sie hätte, wenn sie einen Schwarzen, einen Moreno, wie man die Farbigen hier nannte, heiratete.
Hier bei uns leben die Schwarzen unter sich, in den kleinen Siedlungen außerhalb der Stadt, erklärte er ihr. Da können wir gar nicht hin. Es ist gefährlich. Die Leute haben Angst. Sie sind anders. Fahr doch an die Küste, in ihre Städte und schau, wie es dort aussieht. Sie leben ein anderes Leben als wir. Man wird uns verachten. Noch nie hat ein Mädchen aus der Stadt einen Moreno geheiratet.
Noemis Mutter war da direkter. Sie sind Schweine, rief sie. Sie fressen Dreck und treiben Unzucht den lieben langen Tag, weil sie nichts arbeiten. Wenn du verhungern willst, dann geh zu denen. Aber bring mir deine Affenkinder bloß nicht nach Hause.

In den Nächten weinte Noemi oft oder schlich sich aus dem Haus, um sich von Roberto trösten zu lassen. Dessen Gelassenheit und Optimismus richtete sie bald wieder auf und sie verbrachten Stunden damit sich vorzustellen, wie sie ihr Haus bauen und nach und nach mit Leben füllen würden.
Als Noemi verkündete, sie werde Roberto heiraten, verfiel ihre Mutter in ein eisiges Schweigen, das sie wohl bis heute nicht mehr gebrochen hat. José startete einen letzten Versuch die Meinung seiner Tochter zu ändern, sah aber bald ein, dass es sinnlos war. Was hätte er getan, wenn er zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte was passieren würde? Um es zu verhindern, sagte er damals zu mir, müsste ich sie einsperren oder umbringen. Ich glaube, das erwarten auch alle von mir.

Eine Trauung in der Kirche der Stadt kam nicht in Frage, aber Noemi wollte wenigstens eine Feier mit Freunden und Familie. José nickte stumm, als sie ihn bat, den Hof seines Hauses dazu zu nutzen. Ein ganzes Wochenende schrieb Noemi Einladungen, die fast alle abgesagt wurden. Bald schon stellte sich heraus, dass außer Robertos Mutter, seine drei Geschwister, zwei seiner Freunde, zwei Freunde Noemis und ihrer eigenen Familie niemand zur Feier kommen würde. Unterdessen sprach sich die Nachricht überall in der Stadt herum. Die Reaktionen reichten von entsetztem Kopfschütteln bis zur lautstarken Empörung. Noemis Geschwister wurden in der Schule angesprochen und verspottet und, was wohl das schlimmste war, Josés Figuren wurden von den Händlern nur noch unter starkem Zögern und zu einem Zehntel des üblichen Preises abgenommen. Kann man nicht mehr gut verkaufen deine Sachen, sagten sie. Sie sind nicht mehr gefragt und außerdem reden die Leute.

Am Tag der Hochzeit stand Noemi um vier Uhr in der Frühe auf. In den Träumen ihrer Jugend war ihre Hochzeit ein wunderbares Ereignis gewesen. Ein Tag, an dem alles voller Licht und Freude war, an dem sie voller Glücksgefühle aufwachen, und während die Mutter und ihre Schwestern alles für die Feier vorbereiteten, sie mit ihrer besten Freundin nichts anders täte, als sich für die Feier zurecht zu machen. Ein warmes Bad, dann die Haare flechten, schließlich das weiße Kleid.
Die Realität sah nun so aus:
Zuerst ging sie in den Stall, suchte die zehn besten Hühner aus, schlachtete sie und warf die toten Körper in einen großen Kessel mit heißem Wasser. Dann zog sie einige Köpfe Salat aus der Erde und wusch sie. Zwischendurch probierte sie den Chicha, den sie schon vor zwei Wochen aufgesetzt hatte und der mit ihrer und Robertos Spucke zum Gären gebracht, einen wunderbar süßherben Geschmack hatte. Dann rupfte sie die Hühner, nahm sie aus und bestrich sie mit einem Sud aus Gewürzen und Essig. Danach ein kurzes kaltes Bad. Eine ihrer Schwestern half ihr einige helle Blümchen in ihre Haare zu flechten. Als Roberto schließlich kam um sie abzuholen, hatte sie zwar alles erledigt, konnte aber nicht verhindern, dass unter dem stumpfweißen Stoff ihres Kleides der Geruch von Fleisch, Gewürzen und Schweiß hervorkroch. Sie hatte nicht mal mehr die Zeit gehabt, auf die Toilette zu gehen.

Mit ihrem Vater und Robertos Mutter als Trauzeugen fuhren sie zum Rathaus und ließen sich als Ehepaar eintragen. Der mürrische Beamte begrüßte sie nicht, noch sah er einen der Anwesenden an. Die Prozedur dauerte nur zwei Minuten und die beiden waren verheiratet.
Als sie zurück kamen, saßen die paar Hochzeitsgäste auf kleinen Holzstühlen im Hof des Hauses und applaudierten. Noemi zog sich eine Schürze über und bereitete mit ihren Schwestern das Essen, während Roberto sich um die Musik kümmerte. Nach dem Essen hielt José eine kurze Rede, in der er betonte, wie sehr ihm das Glück seiner Tochter am Herzen läge, und Roberto ermahnte er, sich gut um sie zu kümmern. Noemis Mutter saß die ganze Zeit in einer Ecke der Küche und verscheuchte Fliegen und Hunde, die sich ihr zu nähern suchten. Einmal hatte José versucht mit ihr zu reden. Er ist schwarz, hatte sie geschrieen. Wir sind es doch auch fast, erwiderte er. Pah, kam die Antwort, wir sind doch keine Tiere.
Nach dem Essen wurde getanzt und tatsächlich schien der Chicha seine Wirkung zu zeigen. Die Stimmung wurde gelöster. Und als Roberto anfing zu singen, machte sich so etwas wie Begeisterung breit.
Etwa zu dieser Zeit erreichte die Prozession das Haus. So wie man vor gut zwei Jahren die schönste Marienstatue, die je geschaffen wurde, feierlich aus Josés Haus getragen und in die Kirche der Stadt gebracht hatte, kam sie nun wieder zurück. Ohne fröhliche und feierliche Lieder freilich.
Der Priester blieb vor dem Tor des Hauses stehen und lies einen seiner Lakaien die Skulptur in den Hof tragen und sie mitten zwischen die tanzenden Gäste werfen. Selbst dort im Staub erschien die Figur einem wunderbar und atemberaubend schön. In jeder Falte des langen Gewandes, in der feingliedrigen Gestaltung der Finger und den unter dem Gewand herausragenden Fußzehen erkannte man die Hand des begnadeten Künstlers. Nur dem Gesicht fehlte die Nase (sie schien mit einem Stemmeisen abgeschlagen) und ein grober Pinselstrich hatte es mitsamt Hals und Kragen schwarz gefärbt.
Das Gebrüll der Leute vor dem Tor übertönte die Musik. José vernahm die Stimme des Priesters, der verkündete, ihm sei hiermit die Konzession auf das Herstellen religiöser Bildnisse entzogen. Es flogen ein paar Gegenstände, Steine und altes Obst, auf den Hof und das Dach des kleinen Hauses. Dann entfernte sich der Pöbel, während die Hochzeitsgäste immer noch verstört auf die Statue inmitten des Hofes starrten. Schließlich hob José sie wortlos auf und trug sie hinter den Schuppen, der ihm als Stall und Werkstatt diente.

Man feierte weiter, aber die Stimmung blieb gedämpft und früh schon verabschiedeten sich die paar Gäste. Nachdem Noemi und Roberto den Hof gesäubert und die Küche wieder hergerichtet hatten, verließen sie das Haus, um auf den Bus zu warten , der sie zu Robertos kleinem Zimmer außerhalb der Stadt bringen würde. Bis sich weiteres ergäbe, wollten sie dort wohnen. All die Ereignisse vor der Hochzeit hatten Noemi klar gemacht, dass sie im Begriff war, etwas zu tun, was einen hohen Preis erforderte. Roberto, so empfand sie, war jedes Opfer wert. Dazu gehörte auch, ihre Hochzeit in jedem Aspekt anders zu gestalten, als sie es sich erträumt hatte. Sie nahm es von Anfang an in Kauf, lies sich durch nichts von ihrem Vorhaben abringen, weder durch die vielen Absagen selbst bester Freunde und Familienangehöriger, noch durch den Spott und die Verachtung von Nachbarn und Bekannten. Niemand konnte sie daran hindern, den Mann zu heiraten, den sie liebte. Dennoch, in diesem Moment, indem sie neben Roberto schweigend an der Haltestelle stand, konnte sie das Gefühl nicht verscheuchen, dass dies der traurigste Tag in ihrem Leben gewesen war.

Am selben Abend schleppte José all seine Figuren, die fertigen und die angefangen, in die Mitte des Hofes, stapelte sie über die entweihte Marienfigur, goss Benzin darüber und ließ alles mit einer hohen Stichflamme in Rauch aufgehen. Und während er in das Feuer schaute, ein kleines, schmächtiges Männlein, den die Flammen weit überragten, mit gesenkten Schultern, erschien es einem als ein Bild tiefster Resignation und Trauer.
Ich stellte mich neben ihn und ergriff seine Hand.
„Der Hass“, sagte er ohne mich anzusehen, „ist ein alter, großer Baum, den man nicht ausreißen kann.“ Nach einer Weile zog er seine Hand aus der meinen und ging ins Haus.

Roberto fand keine Arbeit mehr in der Stadt, und so zogen die beiden nach zwei Monaten an die Küste, die überwiegend von Schwarzen bewohnt wird.
Kurz darauf besuchte ich José in seinem Haus. Er saß mit zweien seiner Söhne im Hof und schnitzte an seinen Vögeln. Da ihm beinnahe von einem Tag auf den anderen sämtliche Einkünfte weggefallen waren, musste er seine beiden ältesten Söhne und die zweitälteste Tochter aus der Schule nehmen. Während das Mädchen Gemüse und Eier auf dem Mark verkaufte (die Mutter weigerte sich das zu tun), halfen die beiden Jungs nun ihrem Vater beim Herstellen kleiner Adler, deren mächtige Flügel weit nach vorne gebogen waren, sodass sie das Gewicht des Leibes ausglichen und der Vogel auf seiner Schnabelspitze aus Kolanussfleisch balancieren konnte, ganz gleich wo man ihn absetzte. Außerdem fertigten sie langstielige Rosen aus Holz und Schachspiele, deren Figuren man jedwedes Gesicht geben konnte, ganz wie die Kunden es wünschten. Ein jedes dieser Stücke war ein Meisterwerk. Dennoch wurde sie von den Händlern vor Ort schlecht bezahlt. José und seine Söhne arbeiteten vierzehn Stunden am Tag, um ungefähr die Hälfte dessen zu verdienen, was er vordem allein erwirtschaftet hatte.
José grüßte freundlich als er mich sah, widmete sich aber weiter seiner Arbeit. Wie es denn so ginge, fragte ich. Er sagte zunächst nichts. Ich sah seine feuchten Augen und wie in kurzer Zeit einige Tränen seine zerfurchten Wangen herunterliefen. Dann schickte er seine Jungs kurz ins Haus.
Weist du, sagte er und schnäuzte sich schnell in den Ärmel seiner löchrigen Strickjacke, dass meiner Tochter einen Moreno geheiratet hat, würden die Leute hier mit der Zeit womöglich wieder vergessen. Was aber niemand vergessen wird, ist die Tatsache, dass der Priester eine von ihm selbst gesegnete Maria in den Dreck werfen lässt, weil sie durch eine unmögliche und verfluchte Verbindung entweiht wurde. Das bleibt an mir, solange ich hier wohnen werde. So lange ich leben werde, setzte er nach.
Ich werde das Land bald verlassen, sagte ich nach einer Weile. Ich will von deinen Vögeln einiges mitnehmen und in Europa verkaufen. Die bringen dort das zehnfache, mindestens. Wenn du mir etwa fünfzig Stück fertig machst.
Er nickte nur und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Muss weiter arbeiten, meinte er dann tonlos und lies sein kleines Stemmeisen flink über die hölzernen Adlerflügel zischen.

Einen Tag vor meinem Flug fuhr ich wieder zu ihm. Er empfing mich am Eingang seiner Hauses und meinte nur, er würde mir die Vögel morgen früh vorbei bringen.
Er kam am nächsten Morgen, so gegen halb fünf morgens, in der Hand nur eine kleines Päckchen.
Für dich, sagte er, gab mir einen kurzen aber festen Händedruck und verschwand wieder. Ich hätte ihn gerne umarmt, schreckte aber vor dem Schmerz in seinem Blick zurück, von dem ich annahm, er hätte wenig mit meiner Abreise zu tun.
In dem Päckchen befand sich ein Exemplar der perfekt ausbalancierten Holzadler, mit dunkler Beize überzogen, und wie mir schien, besonders liebevoll geschnitzt. Dazu eine kleine Holzpyramide auf deren Spitze man den Adler absetzten konnte. Am Fuß der Pyramide war mein Vorname eingraviert.

Der Vogel steht jetzt auf meinem Schreibtisch und dreht sich auf seiner Schnabelspitze in dem leichten Luftzug vom Fenster her.
Ich muss zugeben, zunächst war ich ein wenig erzürnt, dass José mein Angebot seine Arbeiten für ihn zu verkaufen, nicht angenommen hatte. Mittlerweile aber ist mir bewusst, warum er es nicht tat. Auf diese Art stellte er für sich klar, dass es von ihm aus ein Abschied für immer war. Nichts sollte uns mehr verbinden, auch keine geschäftliche Abmachung. Mit dem Geschenk und dem letzten Händedruck hatte er mir unsere Freundschaft zwar nicht gekündigt, wohl aber gewissermaßen beerdigt. Heute meine ich zu wissen, warum er das tat.
Tatsächlich war ich es, der Roberto mit Noemi bekannt gemacht hatte. Er gehörte zu der Gruppe junger Bauleute, die mein Architekt angeheuerte hatte, um mein Haus etwas außerhalb der Stadt zu renovieren. Roberto war mir wegen seines lebenslustigen Wesens und seines Humors sofort sympathisch. José und seine Familie wiederum waren mit die Ersten, die ich kennen lernte, als ich in der Stadt ankam. Bei der Feier zur Fertigstellung des Hauses lud ich einige Freunde wie auch die Bauleute, darunter Roberto, ein. José und seine Frau konnten nicht kommen, dafür erschien Noemi mit einem Geschenk der Familie. Im Laufe der Feier stellte ich die beiden einander vor, hätte aber nicht im Traum damit gerechnet, dass sie sich gleich verlieben würden. Letztlich fand ich es aber eine wunderbare Sache, gerade weil sie verschiedenrassig waren und weil mir dieses Durchbrechen der Konventionen als etwas Wünschenswertes und Gutes vorkam. So bestärkte ich sie jedes Mal in ihrem Vorsatz, eine gemeinsame Zukunft zu suchen, auch wenn ich nie soweit ging, wie Noemi es von mir erbat, mich für Roberto bei ihren Eltern einzusetzen. Viele Abende saßen wir auf der Terrasse meines Hauses und sie sprachen über ihre Pläne und auch über all die furchtbaren Reaktionen der Bewohner aus der Stadt, und ich ermutigte sie, dagegen anzukämpfen. Nur so, meinte ich, kann man verkrustete und überalterte Strukturen aufbrechen.
Heute frage ich mich, was aufgebrochen wurde? Nichts! Zerbrochen wurde vieles.
Hatte José von mir als seinen Freund erwartet, dass ich versuchen würde, die beiden von ihrem Vorhaben abzubringen, ihnen die Folgen klarzumachen, die es mit sich bringen würde, für sie, für ihre Familien, für ihr weiteres Leben? Durch meine Beziehungen wäre es leicht gewesen Roberto eine Arbeit am anderen Ende des Landes zu besorgen. Er hätte dort neue Leute kennen gelernt, andere Frauen auch, es wäre auf die ein oder andere Weise zu Ende gegangen. Hatte José vielleicht darauf gehofft? Wäre das der bessere Weg gewesen, der bessere Ausgang für eine der Geschichten, für die ohnehin kein Happyend vorgesehen war? Hätte ich ihnen raten sollen, einfach zu verschwinden, in eine andere Stadt, dort zu heiraten und ihr Glück zu versuchen?
Welche Verletzung soll man wählen? Mit welchen Narben will man den Rest seines Lebens verbringen? Wer kann solche Fragen beantworten? Wer kann sagen, was richtig und falsch ist?

Ich schreibe in mein Tagebuch, heute am Jahrestag der Hochzeit von Roberto und Noemi:
Der Hass und die Dummheit sind Bäume, die man umhauen, aber nicht entwurzeln kann. Aber aus ihrem Holz lassen sich trefflich Götter schnitzen. Götter und Vögel.

Nicole

Beitragvon Nicole » 19.04.2008, 17:20

Lieber Sam,

wie immer bin ich fasziniert, wie leicht Du den Leser in eine Welt entführst, die zumindest für mich "rein in Europa rumgekommene" fremd und befremdlich ist. Trotzdem sehe ich, was passiert, hab ein klares Bild von den Charakteren, die Du zeichnest, sehe die Kirche, den Hof, die Statuen. Und, ich bin so verdammt sicher, daß Du so einen Vogel tatsächlich auf dem Schreibtisch stehen hast...so glaubhaft bringst Du mir diese Geschichte nahe! Im Gegensatz zu den letzten Geschichten, die ich von Dir las, bist Du hier Detailverliebter, und im ersten Moment hatte ich das Gefühl "hier müßte man kürzen". Aber bein zweiten und dritten lesen wurde mir klar, daß es schade wäre um jedes Wort. Es würde meinen Genuß beim Lesen schmälern... Und irgendwie schafftst Du es am Ende, auf Basis dieser "exotischen Geschichte" Fragen zu stellen, die unabhängig stehen, nicht an das Dorf oder den Kontinent gebunden sind. Die nachdenklich machen und plötzlich auch den Leser hier tangieren. Und der Tagebucheintrag am Schluß ist, gelinde gesagt, brilliant.
Ich danke dir für die schöne Reise, die ich eben mit Dir erleben durfte!

Nicole

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 19.04.2008, 17:52

Hallo allerseits :-)

Ich gestehe, mit diesem Text überhaupt nicht warm werden zu können. Das liegt zum einen sicher daran, dass ich auf der inhaltlichen Ebene nie wirklich das Gefühl hatte, es könnte etwas anderes passieren als das, was ich ohnehin erwartete, zum anderen und viel mehr aber an der sprachlichen Gestaltung.

Wenn ich in einer Buchandlung probeweise ein Buch in die Hand näme und als ersten Sarz etwas wie "Wie schon sein Vater und sein Großvater besaß er die Fähigkeit, aus Holz Figuren zu schnitzen, die eine solche Lebendigkeit ausstrahlen, dass einem unweigerlich das Bedürfnis überkommt sie zu berühren." läse, würde ich das Buch sofort wieder zurückstellen: Diese bloße Aneinanderreihung von Sätzen und Satzelementen, die der Spannung der gesamten Periode keine Beachtung schenkt, ist auf Dauer sehr langweilig zu lesen.

(Außerdem müsste es doch "einen" heißen (Wen überkommt das Bedürfnis?), oder? Auch würde ich hinter "überkommt" ein Komma setzen. Insgesamt weißt der Text sehr viele Zeichensetzungs-, Rechtschreib- und Grammatikfehler auf. Das wäre ja nicht weiter schlimm, aber von einem hier im "Publicus" eingestellten Werk hätte ich vermutet, das es sorgfältiger durchgesehen wäre).

Eine andere zufällig ausgewählte Stelle: "Dort wurde sie gesegnet und aufgestellt; José durfte einen Moment neben dem erhabenen Priester stehen und auf dem anschließenden Fest das erste Glas Chicha erheben, einem Maislikör, den die Frauen der Stadt extra für diesen Anlass, mit reichlich Spucke versehen, zubereitet und besonders lange hatten gären lassen."

"Dort" ist mir zu ungenau - im Vorsatz war von "zur Kirche" die Rede. Was meint im Zusammenhag damit "dort"? In, vor, neben? Das unanschauliche Passiv "wurde aufgestellt und gesegnet" hätte ich vermieden und den Priester wenigstens kurz skizziert, dann hätte die "Erhabenheit" vielleicht über die Stimme und die Gesten herübergebracht werden können statt wie hier durch ein aus dem Nichts auftauchendes Adjektiv, bei dem man sofort das irritierende Gefühl hat, die eigentlich positive Bedeutung von "erhaben" sei hier ins Gegenteil verkehrt, ohne aber einen Grund dafür angeben zu können. Der lange Relativsatz hinter "Chica" gibt der Periode einen schlechte Balance, finde ich. Auch müsste es "ein" Maislikör heißen, nicht ""einen"?! Besser klänge für mich jedenfalls (wenn es schon sein muss): "den die Frauen der Stadt extra für diesen Anlass zubereitet und, mit reichlich Spucke versehen, besonders lange hatten gären lassen."

Ich glaube, ich bleibe mal bei den Relativsätzen: "Und während er in das Feuer schaute, ein kleines, schmächtiges Männlein, den die Flammen weit überragten" Falsches Relativpronomen?!

Und noch einer: "Ein ganzes Wochenende schrieb Noemi Einladungen, die fast alle abgesagt wurden. Bald schon stellte sich heraus, dass außer Robertos Mutter, seine drei Geschwister, zwei seiner Freunde, zwei Freunde Noemis und ihrer eigenen Familie niemand zur Feier kommen würde. " Dass alle Einladungen abgesagt wurden, ist einerseits eine unnötige Info: "Einladungen, aber schon bald war klar, dass..." würde die Ablehnung augenfällig beinhalten. Aber wenn die Ablehnung schon ausformuliert wird, dann würde ich sie nicht als Relativsatz nachklappen lassen, sondern ganz ans Ende nehmen: "Ein ganzes Wochenende schrieb Noemi Einladungen, aber bald schon stellte sich heraus, dass außer Robertos Mutter, seine drei Geschwister, zwei seiner Freunde, zwei Freunde Noemis und ihrer eigenen Familie niemand zur Feier kommen würde: Alle anderen hatten abgesagt.

(Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass die Einadungen nicht abgesagt, sondern ignoriert wurden? Scheint mir jedenfalls die wahrscheinlichere Reaktion.)

(Es müsste doch "außer... seinen Geschwistern etc. heißen?)

Ich denke, es wird klar, worauf ich hinaus will und hoffe, meine ablehndende Haltung dem Text gegenüber begründet haben zu können.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Nicole

Beitragvon Nicole » 19.04.2008, 18:10

Hi ferdi,

sicher hast Du Recht, das der Text noch Schreibfehler und Zeichenfehler hat.
Ich habe eine ähnliche Diskussion vor einiger Zeit mit einer Freundin geführt. Nach Rücksprache mit Jela zitiere ich:

1. Vergiß die Schreibfehler und deren Korrekturen. Das ist Handwerk.
Was die Welt braucht, ist aber kein Handwerk, sondern Kunst.
Und Kunsthandwerk ist da kein Kompromiss.
Dazu gibt es fleißige Lektoren, der sich um solchen Kleinkram kümmert.
Die Aufgabe des Autors liegt im Schreiben und darin, den Leser zu interessieren, zu unterhalten und bestenfalls zum Nachdenken zu bringen.
Sicher ist es schöner, einen absolut fehlerfreien Text zu lesen. Aber die Hauptsache sollte doch der Inhalt sein.

Mir geht gerade durch den Sinn, wie wohl ein Herr Grass reagiert hätte, hätte man ihn auf 3857 Kommafehler im Manuskript zur Blechtrommel aufmeksam gemacht hätte.
Und ich denke an die Geschichte des Offiziersanwärters, der unter einen inhaltlich hervorragenden Textes im Bewußtsein seiner Interpunktionsschwäche ca. 300 Kommas, Punkte, Ausrufezeichen und sonstige Zeichen setzte und dazu schrieb: Satzzeichen sind bei Bedarf selbst zu setzen. Das ist ein Befehl.
Der Mann wurde ein erfolgreicher Offizier.


Ich persönlich finde es hilfreich, wenn ich auf Fehler in meinen Texten aufmerksam gemacht werde. Dies sollte jedoch auch meiner Meinung nach die inhaltliche Betrachtung eines Textes nicht dominieren.

Lieben Gruß, Nicole

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Beitragvon ferdi » 19.04.2008, 18:29

Hallo Nicole!

Die Zeichensetzungsfehler sind ja auch das geringste Problem des Textes. Schlimmer sind natürlich schon die grammatikalischen Fehler - jeder wie ein Schlagloch, und wenn da zuviele von kommen, hält sich auch im tollsten Auto der Welt der Fahrspaß arg in Grenzen. Entscheidend ist aber, dass Sam (meinem Empfinden nach, natürlich!) seinen Inhalt, vor allem durch die gewählten, in meinen Augen oft gedankenlose Satzstrukturen, "schlecht angezogen" hat. Mehr, als eine Idee einzukleiden, ist uns Normalsterblichen eh nicht gegeben (Da braucht es etwa schon einen Mörike, bei dem ein Kommentator anlässlich einer seiner Verserzählungen bewundernd anmerkte, dass Wort und Vers dem Inhalt nicht Kleidung, sondern Haut wären - so sehr schienen ihm Form und Inhalt eins zu sein), aber selbst dann sollte das ganze doch gepfegt daherkommen, sonst sieht man nämlich nur die offenen Schnürsenkel, aber nicht den wunderschönen Fuß ;-)

Deine Freundin sei an den altbekannten Stoßseufzer erinnert: "Gute Prosa ist harte Arbeit." Und erst dann, und auch nur vielleicht - wenn man Glück hat - folgt ein zweiter Schritt, der dann heißt: "Harte Arbeit ist Kunst."

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Nicole

Beitragvon Nicole » 19.04.2008, 19:47

Hi ferdi,

ich verstehe durchaus, was Du sagen willst. Aber ist das wirklich das einzige...?
Ich gestehe, ich bin ein Mensch, in dessen Gehirn die Tipp und Kommafehler zumeist direkt korrigert werden, ich lese da drüber, wenn der Text mich fesselt.

Und dieser Text hier fesselt mich und ich finde es so bedauerlich, das er nun auf seine Orthographie und Grammatik reduziert wird...

Nicole

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Beitragvon ferdi » 19.04.2008, 20:27

Hallo Nicole,

ok, lass uns eine kleine Privatdiskussion führen :-)

Sieh mal, als ich in leicht fortgeschrittenem Alter doch beschloss, ein paar Semester an die Uni zu gehen, setzte ich mich einmal in ein Hauptseminar über Wolframs Parzival. In der ersten Stunde nannte uns der Prof eine neuhochdeutsche Übersetzung, die wir doch bitte im Laufe des Seminars (!) lesen sollten; vorerst genüge auch die ausgeteilte Zusammenfassung. Nach der dritten Stunde war mir klar, das er über jeden erdenklichen literaturwissenschaftlichen Aspekt des Parzival reden würde, dass aber im ganzen Semester nicht ein einziges Wort Mittelhochdeutsch fallen würde. Und da bin ich zu ihm gegangen und habe ihn gebeten, mich aus der Teilnehmerliste zu streichen - ich war offensichtlich völlig fehl am Platz.

Ein Jahr später, dasselbe Thema, ein anderer Prof. Er schlug in der ersten Stunde den Originaltext auf, las einem Publikum, dessen Mittelhochdeutsch bis auf wenige Ausnahmen lausig war und das daher inhaltlich kaum etwas mitbekam und sich nur auf Klang, Tempo etc verlassen konnte, laut eine zentrale Passage vor (sehr beiendruckend!), und fragte dann: "Worum, glauben sie, geht es hier?"

Und da wusste ich: Hier bin ich richtig :-)

Wie, um auf Sams Text zurückzukommen, soll ich zum Beispiel dein "Gefesseltsein" nachvollziehen können, wenn du nirgends auf den Text eingehst, auf seine Worte, seine Sätze, seine Strukturen, auf die Abfolge seiner Ideen? Worin besteht zum Beispiel die "Brillianz" des Tagebucheintrags am Schluss? Und interessanter noch: Worauf begründet sie sich?? Und, um andersherum zu fragen: Was erhebt diesen Text über die 0815-"Liebe scheitert an gesellschaftlichen Konventionen und stürzt die Beteiligten ins Unglück"-Geschichte?

Und um eine von meinem Standpunkt aus schon gestellte Frage beizusteuern: Ist für dich die Ablehnung der Einladungen einleuchtender oder deren Ignorierung?

Für mein Verständnis von Texten ist die Arbeit "am Wort" der Punkt, von dem alles ausgehen muss. Und natürlich reagiere ich empfindlich, wenn auf dieser Ebene geschludert wird. Das heißt aber doch nicht, dass ich einen Text "auf seine Orthographie und Grammatik reduziere :eek: - ich ziehe lediglich nicht gerne in ein Haus ein, bei dem ich weiß, dass der Architekt schlechtes Baumaterial verwendet hat. Da kann es noch so schön aussehen - wohlfühlen werde ich mich nicht.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Nicole

Beitragvon Nicole » 19.04.2008, 21:02

Lieber ferdi,

nun, I'll do my very best... :-)
vorab: Ich war nie an der Uni, weiter als bis zur FH hats nie gereicht. Und, solange wir keine Diskussion über die Heißenbergsche Unschärferelation oder Laplace Transformation führen bewege ich mich auf absolut dünnem, heißt "völlig unfachmännischen" Eis.... :-)
Ich weiß nicht genau, wie Du eine Geschichte ließt und beurteilst.
Ich verlange von einer guten Geschichte, daß sie in meinem Kopf Bilder erzeugt, bestenfalls noch Gefühle irgendwo in der Magengegend und möglicherweise am Ende noch einen Aha oder Grübeleffekt, der mich auch nach Lesen der Zeilen noch fesselt.
Laß mich auf Deine Fragen eingehen:

Was erhebt diesen Text über die 0815-"Liebe scheitert an gesellschaftlichen Konventionen und stürzt die Beteiligten ins Unglück"-Geschichte?


Wieso scheitert Deiner Meinung nach diese Liebe? Ich denke, sie tut es nicht. Roberto und Noemi ziehen weg, sind zusammen. Was genau aus den beiden wird, wird mir als Leser doch gar nichtmitgeteilt. Defakto hat Noemi ihren Kopf gegen die Konventionen durchgesetzt und ihren Preis dafür bezahlt. sie ist sich der Höhe durchaus bewußt:
Dennoch, in diesem Moment, indem sie neben Roberto schweigend an der Haltestelle stand, konnte sie das Gefühl nicht verscheuchen, dass dies der traurigste Tag in ihrem Leben gewesen war.

Ich lese daraus nicht, das sie prinzipiell scheitert. Sie zieht mit dem mann, für den sie die Familie "ruiniert" weg und führt das Leben, das sie sich ausgesucht hat.
Für Noemi war Roberto die Art Mann, die sie sich vorgestellt hatte und das Beste, was sie sich in ihrer Lebenssituation erwarten konnte.

Du fragst, was diese Geschichte für mich von anderen Geschichten unterscheidet, bei denen etwas (für mich ist es, wie gesagt, nicht die Liebe) an gesellschaftlichen Konventionen unterscheidet. Nun, ich habe nie in einem südamerikanischen Dorf gelebt, die Konvention und die Lebensweise allein ist mir schon fremd. Ansonsten: es gibt viele Geschichten über Konventionen und deren Fußangeln. Manche davon mag ich, andere nicht. Diese mag ich. Ich verlange nicht immer etwas "neu erfundenes". Ich möchte unterhalten werden. Und das schafft Sam hier für mich als Leserin.
Du fragst:
Und um eine von meinem Standpunkt aus schon gestellte Frage beizusteuern: Ist für dich die Ablehnung der Einladungen einleuchtender oder deren Ignorierung?


Die Ablehnung. Es ist etwas anderes, ob ich eine Einladung erhalte und in die Tonne kicke zeige ich desinteresse. eben Ignoranz. nehme ich den Hörer in die Hand und sage ab, ist das ein ganz offener Affront, ich kann beleidigen oder hinterhältig und deutlich sichtbar lügen. Beides verletzt meines Erachtens mehr, als Ignoranz. Mich zumindest. Und die Gemeinde ignoriert ja nicht, sie ist empört, tuschelt, und schmeißt letztendlich die entstellte Madonne der Hochzeitsgesellschaft vor die Füße... das ist doch sehr aktiv. Ich finde das stimmig.

Warum mir der Tagebucheintrag so gefällt? Oh, reine Gefühlssache. Der Gedanke, daß der Erzähler nach Jahren noch an dieses Erlebnis denkt, gibt dem für mich Gewicht, trifft quasi meine "sentimentale Ader".
Der Hass und die Dummheit sind Bäume, die man umhauen, aber nicht entwurzeln kann. Aber aus ihrem Holz lassen sich trefflich Götter schnitzen. Götter und Vögel.

Ich mag das Bild, Hass und Dummheit zu verarbeiten. laß es Dir auf der Zunge zergehen- Hass und Dummheit lassen sich zu Göttern verarbeiten oder zu Vögeln. Einfältige Anbetung und federleichtes Schweben gleichermaßen. - mir gefällts....

So, ich versuchs mal hiermit
Nicolegruß... :-)

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 20.04.2008, 16:04

Hallo sam,

für mich ist das eine deiner schwächeren Geschichten, ich musste mich zwingen, bis zum Schluss zu lesen. Da ist einmal der Anfang, der schon schwerfällig war, dann ist -sry- das Bild des "Herrgotzschnitzers" einfach zu behäbig, als dass es mir in Südamerika hinpasst. Dann ist da die Romeo/Julia Geschichte, die zwar nicht im Tod der Liebenden endet aber im Untergang der Familie.

Das alles wirkt für mich überladen und im Gegensatz zu deinen sonstigen Geschichten gearbeitet anstatt erzählt. Hinzu kommen die schon von Ferdi bemängelten Rechtschreibfehler, die mir auch unangenehm auffallen.

"den die Frauen der Stadt extra für diesen Anlass, mit reichlich Spucke versehen, zubereitet und besonders lange hatten gären lassen. "

Der zitierte Satz ist ein Beispiel. Wenn man den liest, dann haben sich die Frauen erstmal reichlich mit Spucke versehen und dann den Schnaps zubereitet. Da taucht dann -sry- die Frage auf, wo die Spucke bezogen wurde.

Das "versehen" ist ein überflüssiges Versehen, das den Satz verwässert ne? Solche Sätze gibts noch mehr. Technik macht gerade bei längeren Texten für mich sehr viel aus. Wenn ich dann solche Konstruktionen lese, turnt das ab.

Spucke ist ein sehr sehr altes Gärungsmittel, ob das in den Zeitrahmen passt, kann ich nicht sagen. Ich hätts in einem Text, der die Zeit der Edda behandelt, eher erwartet als hier.


Gruß

Sneaky

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 20.04.2008, 16:11

Hallo Sam,
habe leider gerade keine Zeit, das ganze zu lesen, aber im ersten Absatz sollte es "einen", nicht "einem" "überkommen".
In den nächsten Tagen kann ich hoffentlich noch etwas substantielles beisteuern.
Viele Grüße
Merlin

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.04.2008, 19:05

Eine holzige Geschichte

Aus dem Untertitel "Aus den Reisenotizen. ..." geht hervor, dass der Erzähler diese Geschichte miterlebt hat. Ob nun der Autor identisch mit dem Erzähler ist oder nicht, spielt hierbei keine Rolle.
Der Erzähler kommt auch in der Geschichte vor, jedoch nur marginal. Das aktive Miterleben des Erzählers hätte m.E. die Story wesentlich lebendiger gestaltet. Gleich zu Beginn hätte der Erzähler anschaulich beschreiben können, wie er zu José und seiner Familie gelangte. Z.B. die Tatsache, dass der Erzähler Roberto mit Noemi bekannt gemacht hat, hätte hier aktiv einfließen müssen und nicht erst, quasi als Epilog, erzählt werden sollen.
So aber distanziert sich der Erzähler m.E. zu sehr und "berichtet" von einem Leben anderer, anstatt es so zu erzählen, dass der Leser mittendrin ist und auch miterlebt, wie es dem Erzähler dabei ergeht, der das alles schließlich ja auch miterlebt.

Auch fehlen mir hier Dialoge, temperamentvolle Dialoge, welche die Story auflockern. Es gibt in der Geschichte so viele Momente, in denen sich wunderbar Dialoge einfließen lassen könnten. Die fehlenden Dialoge verschaffen mir, als Leser, einen hölzernen, distanzierten, emotionslosen Eindruck.

Der Einstieg ist mir zu lang. Hier hätten gestrafft werden können.
Der Autor verweist auf ein Lokalkolorit, ohne dieses bildhaft zu beschreiben.
Dass Noemi gleichgestellt wird mit einer Marienfigur scheint mir überzogen, nicht glaubwürdig.
Noemi ist mit den dortigen Traditionen aufgewachsen. Deshalb erscheint mir die Tatsache, dass ihr die schwarze Hautfarbe Robertos erst so richtig auffiel, als sie ihn ihrer Familie vorstellte, auch nicht glaubhaft.
Den Hochzeitsablauf leitet der Autor ein mit dem Satz: "Die Realität sah nun so aus:"
Dieses Distanzierte, das sich wie eine Gebrauchsanleitung liest, ist hier m.E. völlig fehl am Platz.

Fazit:
Der Stoff der Story ist gut, aber die Verarbeitung ist statisch, nicht lebendig, sondern nüchtern, berührt mich deshalb nicht. Das brasilianische Temperament der Protagonisten hätte mehr auserzählt und wie ein bunter Faden die ganze Geschichte durchziehen sollen und auf diese Weise seine Spuren beim Leser hinterlassen können, doch diese Chance wurde vertan, was ich sehr schade finde.

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 30.04.2008, 00:27

Hallo nochmal!

Jetzt schreibe ich mit etwas Abstand nochmal etwas zu diesem Text :-)

Ich glaube, meine Betonung der formalen Seite hat hier wirklich vor allen Dingen mit dem Umstand zu tun, dass er im "Publicus" eingestellt wurde. Dadurch hatte ich irgendwie die Erwartung, einen "fertigen" Text vorzufinden und war ziemlich irritert, als dem nicht so war.

Mucki, Dialoge sind aber doch schwer zu realisieren in einem Aufbau wie diesem, in dem ja jemand, der "nicht dabei war", die Geschichte erzählt?

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 30.04.2008, 00:47

Hi Ferdi,

doch, der Erzähler war ja eben dabei, vor allem gegen Ende der Geschichte. Hier:
Aus den Reisenotizen. Südamerika, Sommer 1997

Um es zu verhindern, sagte er damals zu mir, müsste ich sie einsperren oder umbringen.

Ich stellte mich neben ihn und ergriff seine Hand.
„Der Hass“, sagte er ohne mich anzusehen, „ist ein alter, großer Baum, den man nicht ausreißen kann.“ Nach einer Weile zog er seine Hand aus der meinen und ging ins Haus.

Kurz darauf besuchte ich José in seinem Haus.

José grüßte freundlich als er mich sah, widmete sich aber weiter seiner Arbeit. Wie es denn so ginge, fragte ich. Er sagte zunächst nichts. Ich sah seine feuchten Augen und wie in kurzer Zeit einige Tränen seine zerfurchten Wangen herunterliefen. Dann schickte er seine Jungs kurz ins Haus.
Weist du, sagte er und schnäuzte sich schnell in den Ärmel seiner löchrigen Strickjacke, dass meiner Tochter einen Moreno geheiratet hat, würden die Leute hier mit der Zeit womöglich wieder vergessen.

Ich werde das Land bald verlassen, sagte ich nach einer Weile. Ich will von deinen Vögeln einiges mitnehmen und in Europa verkaufen.

Einen Tag vor meinem Flug fuhr ich wieder zu ihm. Er empfing mich am Eingang seiner Hauses und meinte nur, er würde mir die Vögel morgen früh vorbei bringen.
Er kam am nächsten Morgen, so gegen halb fünf morgens, in der Hand nur eine kleines Päckchen.
Für dich, sagte er, gab mir einen kurzen aber festen Händedruck und verschwand wieder. Ich hätte ihn gerne umarmt, schreckte aber vor dem Schmerz in seinem Blick zurück, von dem ich annahm, er hätte wenig mit meiner Abreise zu tun.
In dem Päckchen befand sich ein Exemplar der perfekt ausbalancierten Holzadler, mit dunkler Beize überzogen, und wie mir schien, besonders liebevoll geschnitzt. Dazu eine kleine Holzpyramide auf deren Spitze man den Adler absetzten konnte. Am Fuß der Pyramide war mein Vorname eingraviert.

Der Vogel steht jetzt auf meinem Schreibtisch und dreht sich auf seiner Schnabelspitze in dem leichten Luftzug vom Fenster her.
Ich muss zugeben, zunächst war ich ein wenig erzürnt, dass José mein Angebot seine Arbeiten für ihn zu verkaufen, nicht angenommen hatte. Mittlerweile aber ist mir bewusst, warum er es nicht tat. Auf diese Art stellte er für sich klar, dass es von ihm aus ein Abschied für immer war. Nichts sollte uns mehr verbinden, auch keine geschäftliche Abmachung. Mit dem Geschenk und dem letzten Händedruck hatte er mir unsere Freundschaft zwar nicht gekündigt, wohl aber gewissermaßen beerdigt. Heute meine ich zu wissen, warum er das tat.
Tatsächlich war ich es, der Roberto mit Noemi bekannt gemacht hatte. Er gehörte zu der Gruppe junger Bauleute, die mein Architekt angeheuerte hatte, um mein Haus etwas außerhalb der Stadt zu renovieren. Roberto war mir wegen seines lebenslustigen Wesens und seines Humors sofort sympathisch. José und seine Familie wiederum waren mit die Ersten, die ich kennen lernte, als ich in der Stadt ankam. Bei der Feier zur Fertigstellung des Hauses lud ich einige Freunde wie auch die Bauleute, darunter Roberto, ein. José und seine Frau konnten nicht kommen, dafür erschien Noemi mit einem Geschenk der Familie. Im Laufe der Feier stellte ich die beiden einander vor, hätte aber nicht im Traum damit gerechnet, dass sie sich gleich verlieben würden. Letztlich fand ich es aber eine wunderbare Sache, gerade weil sie verschiedenrassig waren und weil mir dieses Durchbrechen der Konventionen als etwas Wünschenswertes und Gutes vorkam. So bestärkte ich sie jedes Mal in ihrem Vorsatz, eine gemeinsame Zukunft zu suchen, auch wenn ich nie soweit ging, wie Noemi es von mir erbat, mich für Roberto bei ihren Eltern einzusetzen. Viele Abende saßen wir auf der Terrasse meines Hauses und sie sprachen über ihre Pläne und auch über all die furchtbaren Reaktionen der Bewohner aus der Stadt, und ich ermutigte sie, dagegen anzukämpfen. Nur so, meinte ich, kann man verkrustete und überalterte Strukturen aufbrechen.
Heute frage ich mich, was aufgebrochen wurde? Nichts! Zerbrochen wurde vieles.
Hatte José von mir als seinen Freund erwartet, dass ich versuchen würde, die beiden von ihrem Vorhaben abzubringen, ihnen die Folgen klarzumachen, die es mit sich bringen würde, für sie, für ihre Familien, für ihr weiteres Leben? Durch meine Beziehungen wäre es leicht gewesen Roberto eine Arbeit am anderen Ende des Landes zu besorgen. Er hätte dort neue Leute kennen gelernt, andere Frauen auch, es wäre auf die ein oder andere Weise zu Ende gegangen. Hatte José vielleicht darauf gehofft? Wäre das der bessere Weg gewesen, der bessere Ausgang für eine der Geschichten, für die ohnehin kein Happyend vorgesehen war? Hätte ich ihnen raten sollen, einfach zu verschwinden, in eine andere Stadt, dort zu heiraten und ihr Glück zu versuchen?

Ich schreibe in mein Tagebuch, heute am Jahrestag der Hochzeit von Roberto und Noemi:

Deshalb ja meine Idee, den Erzähler auch zu Beginn mehr einzubringen etc.
Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 30.04.2008, 08:25

El Condor Pasa – Sitten und Gebräuche

Götter und Vögel.
Ein Titel, der überaus trefflich ist, dazu die Verortung: Aus den Reisenotizen. Südamerika, Sommer 1997

Sofort tauchen in mir die aus Kultursendungen wohlbekannten Bilder auf von Regenwald, Tempelruinen, Papageien, Indios.

Und dann lese ich leider nichts von dem Tagebuchschreiber, was ihn im fernen Land bewegt. Ich lese eine endlose narrative Geschichte über Menschen, die mich so, wie sie beschrieben sind, kalt lassen. Das sind keine Reisenotizen, das ist beliebig und unpersönlich, wie schade. Titel verschenkt.
Da hebt sich nichts heraus, es plätschert moderat vor sich hin, einschläfernd. Die Figuren sind schwächlich, bewegen nicht, ich will sie auch gar nicht näher kennen
lernen.

Wahrscheinlich hat der Autor bezweckt, eine kleine Alltagsgeschichte zu erzählen, fernab der riesigen Probleme des Erdteils, doch für mich ist das nicht gelungen, im Gegenteil, mir fehlt ganz viel an Kraft in der Erzählung, die aber keine sein soll, sondern Reisenotizen, die sie nicht ist. Daher denke ich, der Text krankt daran, dass der Autor sich nicht entscheiden konnte, ob er das eine oder das andere machen will.


LG
ELsa
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