„Dies Bildnis ist bezaubernd schön“

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 08.03.2008, 11:59

Mit gerecktem Hals schritt Daphne über den Schulhof, schwenkte energisch ihre rote Plastikhandtasche. Einer der Schüler riss sie ihr immer aus der Hand und rannte davon. Die anderen grölten „Mongo, Mongo!“
„Ich b…bin nicht aus M…Mongolien!“ Daphne stapfte hinterher. „Ich hau dir den Popo kaputt ...“ ihre Stimme erstickte in Tränen.
Vom anderen Ende des Hofs schleuderte der Junge die Tasche in ihre Richtung. Im Dreck blieb sie liegen.
Beim Bücken tropfte Daphne der Rotz aus der Nase. Sie öffnete den goldenen Klippverschluss und linste hinein, seufzte, weil nichts fehlte. Die Taschentücher nicht, die Schokobonbons nicht, das Bettelarmband und der rosa Lippenstift nicht.
Das Armband, ein Taufgeschenk, passte nicht mehr um ihr Handgelenk. Sie zählte die silbernen Anhänger. Katzen, Kleeblätter, Schlüssel und die Herzen, die sie jedes Jahr hinzubekam. „Eins, fünf, zehn, drei, acht ...“ Manchmal geriet sie durcheinander, bei „Zehn“ stopfte sie es zurück, roch am Lippenstift und leckte dran.
Dann lief sie weiter solange ums Viereck, bis die Glocke schrillte.

Ihr Vater wurde wütend, als er von ihrer Zeugung erfuhr.
„Das musst du wegmachen lassen“, sagte er zu Clara, „Du bist über vierzig, und ich bin verheiratet.“
Claras Bauch wuchs, Thomas wurde geschieden und zog ein.
„Thom, sieh nur die süße kleine Nase, wie ein Kätzchen und die schräg gestellten Augen!“, sagte sie entzückt, als Daphne geboren war.

Zwei Jahre später tapste die Kleine neben Clara durch den Supermarkt.
„Niedlich das Püppchen“, sagte die Kassiererin.
Eine Kundin, die nach Clara ihre Einkäufe auf das Laufband legte, meinte nach einem Blick auf Daphne: „Das wird nicht so bleiben ...“
Eine andere seufzte. „Down-Syndrom.“ Ihr Blick in die Runde heischte nach Lob.
Clara nahm Daphne auf den Arm. Beim Hinausgehen hörte sie: „Sowas ist eine Strafe Gottes.“
Clara fing an Daphne zu beobachten. Merkte man ihr das Gen zuviel so deutlich an? Sie konnte keinen Unterschied zu anderen Kindern feststellen.
Lange Jahre hatte sie sich ein Kind gewünscht und jetzt sollte sie aus Angst vor den Leuten nicht mehr auf die Straße? Clara schüttelte den Kopf darüber, umarmte Daphne. Sie war stolz.
Als sie Thomas an ihren Gedanken teilhaben ließ, zwischen Tür und Angel – er verbrachte die meiste Zeit mit arbeiten, sagte er: „Ich habe dich angefleht.“
Er zog sich noch mehr zurück. Schließlich fing er ein Verhältnis mit seiner geschiedenen Frau an, übernachtete auswärts. Clara stellte verblüfft fest, dass es ihr nichts ausmachte.
Sie schleppte Daphne überallhin mit. Äußerte jemand, wie bedauernswert ihr Schicksal sei, sagte sie: „Ich bin überglücklich mit meiner Tochter, sie hat einen starken Charakter.“
Daphnes sechsten Geburtstag feierten sie allein; Thomas hatte angerufen und gesagt, er würde bei seiner ersten Frau bleiben, aber natürlich Unterhalt für das Kind bezahlen.
„B...blablabla!“ Daphne lachte Clara an, die ihr die Karte und das Kuvert aus der Hand nahm und vorlas: „Liebe Daphne, Glück und Segen auf all deinen Wegen. Ich lade dich in die Oper ein zur Zauberflöte. Deine Mama.“
Daphne klatschte in die Hände und blies alle Kerzen auf der Schokoladetorte aus. Sie zerbiss das rosa Seidenband des zweiten Geschenkes. Die Puppe mit blonden Locken sah sie kurz an, ehe sie sie in die Ecke schmiss.

Zwei Tage später saß Daphne mucksmäuschenstill auf zwei Telefonbüchern. Mit aufgerissenem Mund verfolgte sie das Geschehen auf der Bühne. Clara lächelte. Als der letzte Vorhang fiel, hopste Daphne vom Stuhl, fasste nach der Hand ihrer Mutter und zog sie hinaus. Auf dem Heimweg summte sie eine Weile. Plötzlich sang sie: „Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, zernichten Heuchler Macht.“
Clara trat auf die Bremse, drehte sich um. „Was hast du gesagt?“
Daphnes Augen glänzten. Sie wiederholte den Vers Sarastros aus der letzten Szene.

Clara tauschte die Puppe gegen einen Kassettenrekorder um und kaufte die Zauberflöte. Täglich hörte Daphne vor dem Schlafengehen ihre Lieblingsarien und sang sie begeistert und ganz ohne zu Stottern nach.

Ein paar Jahre später tauchte Daphne spät abends im Nachthemd im Wohnzimmer auf. Clara hatte ein paar Freunde, die ihr treu geblieben waren, eingeladen.
„M...Mama G...Geb...burtstag.“
Jemand lachte, was ihm einen scharfen Blick Claras einbrachte.
„Daphne weiß Geschenk“, sagte Daphne und stellte sich vor dem Fenster in Pose. „Pa-Pa-Pa-Papagena!“, begann sie zu schmettern.
Um den Wechsel zwischen Papageno und Papagena spielen zu können, trieb Daphne ihren gedrungenen Körper unerbittlich in Claras Wohnzimmer von einem Ende zum anderen. „Pa-pa-pa-pa-geno“, sang sie beim Kamin und dann vom Fenster her: „Pa-pa-pa-pa-gena.“
Hochrot, mit leuchtenden Augen hinter den Brillengläsern verbeugte sie sich. Clara weinte vor Freude und alle klatschten.
Danach stopfte Daphne Schokoladekuchen in den Mund, die Gäste schauten weg.

„Wir müssen einen Büstenhalter für dich kaufen, Liebling, du wirst langsam erwachsen.“
Daphne patschte auf ihre Rundungen und hüpfte auf und ab.
In der Wäscheabteilung stürzte sie sich mit einem Schrei der Begeisterung auf einen roten Satin-BH.
Die Verkäuferin entwand ihn Daphnes Händen. „Ein Einzelstück. Falsche Größe.“
„Was hältst du von diesem da?“ Clara zeigte auf einen hellblauen.
„Nein. Den da!“ Mit einem Ausfallschritt riss Daphne das rote Teil wieder an sich und zog sich hinter einen der Drehständer zurück.
„Gib her, der passt nicht, sagt die Dame.“
Daphne schnaufte und zog eine wütende Grimasse. Als Clara auf sie zuging, wich sie aus und stieß eine Figurine im grünen Negligé um, schrie: „Will aber!“ Sie stürmte davon, Clara hinterher. „Hör auf damit, du machst doch alles kaputt!“
Aber Daphne kippte drei Drehständer mit Dessous um und tobte weiter. „Ich will rot haben, rot, rot!“
Erst als Clara mit hängenden Armen stehen blieb, hielt Daphne an und streckte den Verkäuferinnen die Zunge heraus. „Rot!“
Clara drückte einer der Damen einen großen Geldschein in die Hand und verließ mit Daphne und einem zu großen, roten Büstenhalter den Laden.

Eine Tante lud am kommenden Wochenende zu ihrem achtzigsten Geburtstag ein. Daphne präsentierte den roten BH, dann sang sie eine Arie aus dem Fliegenden Holländer. Die Familie saß dicht gedrängt um die Kaffeetafel, Clara und Daphne teilten sich einen Stuhl. Mitten in der angeregten Unterhaltung seufzte Daphne laut auf. Mit verklärtem Gesichtsausdruck rieb sie ihr Geschlecht an der Stuhlkante. Sie stöhnte auf dem Höhepunkt, zuckte und sank entspannt in sich zusammen.
„Gut“, sagte sie und griff nach einem Stück Torte.
Einige hüstelten. Clara sagte: „Wir müssen gehen, mein Engel.“

In der Beratungsstelle für Eltern mit behinderten Kinder sagte man Clara: „Menschen wie Daphne haben eine starke Libido, ohne zu begreifen ...“
Clara nahm es hin und verkehrte nur noch mit Verwandten und Freunden, die ihre Tochter akzeptierten, wie sie eben war.

Eines Tages war das Bettelarmband aus der Handtasche verschwunden, nachdem Daphne sie zurückerobert hatte. Der Junge, der trotz aller Ermahnungen nicht genug davon bekommen konnte, sie zu ärgern, schrie: „Mongo! Mongo!“
Als Daphne den Diebstahl bemerkte, warf sie sich auf den Asphalt, wälzte sich und brüllte wie am Spieß. Sie keuchte wie unter Schock bis sie schließlich das Bewusstsein verlor. Der Rettungswagen brachte sie in die Klinik.

Die Schulleitung entschied, dass Daphne besser in einer Sonderschule aufgehoben wäre.
Clara begann wieder zu arbeiten. Halbtags in einem Steuerberatungsbüro. Einer der Klienten machte ihr den Hof.
„M...M...Matthias“, sagte Daphne, als er bei ihnen einzog. Er unterstützte Clara, indem er ihre Tochter von der Schule abholte, wenn sie länger im Büro zu tun hatte.
„Ich kann mir meine Zeit als Selbständiger gut einteilen“, meinte Matthias. Er besaß Seminarräume, die er für esoterische Kurse vermietete.
Er war begeistert von Daphne und zeigte ihr, wie sie auch ohne Sesselkante Lusterfüllung bekommen konnte. Während sie auf dem Bett im Kinderzimmer die Beine spreizte und masturbierte, saß er auf dem Kinderschaukelstuhl und rieb sich. Daphne lachte.
„Springbrunnen“, sagte sie zu seinem ejakulierenden Glied.
Nachher fütterte er sie mit Schokoladekuchen, wischte ihr den Mund ab.
Eines Tages kam Clara früher von der Arbeit und hörte Matthias aus dem Kinderzimmer stöhnen. Sie riss ihn an den Haaren, schlug auf ihn ein.
„Hau ab oder ich zeige dich an“, sagte sie, bemüht, nicht zu schreien, um ihr Kind nicht zu erschrecken.
Matthias packte hastig ein paar Sachen und war innerhalb einer Stunde verschwunden.
Clara sah nach Daphne. Sie hockte auf dem Bett, die Kopfhörer auf und hörte die Zauberflöte.

Als sie mit vierzehn die Sonderschule beendet hatte und tagsüber eine Behindertenwerkstätte besuchte, rief Matthias immer noch an.
„Ich will nichts mehr besprechen mit dir, sei froh, dass du so davon gekommen bist, Matthias“, sagte Clara, wenn er sie anflehte, ihm zu vergeben.
„Ich kann so nicht leben, weiß ja nicht einmal, was in mich gefahren war ...“
„Pech“, sagte Clara und legte auf.
Daphne hatte alle paar Tage einen anderen Freund.
„Sch...schau!“ Sie zupfte das Bild des Favoriten aus der roten Plastikhandtasche, ging von Tisch zu Tisch und hielt es jedem unter die Nase.
„Gut“, sagten die Kollegen und unterbrachen ihre Arbeit, um es sich anzusehen.
Zuhause blätterte sie die Illustrierten durch, die Clara aus dem Wartezimmer des Steuerberaters mitnahm. Gefiel ihr ein Foto, riss Daphne es heraus, stammelte: „Sch...schön.“
Sie drückte das Blatt an ihre Brust, nahm es mit in die Werkstätte und wenn es abgewetzt und eingerissen war, suchte sie sich ein Neues aus.

„Ich bin verlobt“, stieß Daphne eines Tages hervor und klopfte aufgeregt mit dem Zeigefinger auf den Auserwählten der Woche. Clara setzte die Lesebrille auf. Schräg stehende Augen, ein liebevolles Lächeln strahlten sie an.
Diesmal riss Daphne die Seite nicht heraus, sie nahm eine Bastelschere. Die Zunge zwischen den Zähnen konzentrierte sie sich auf das Ausschneiden.
„Soll ich dir helfen, Daphne?“
„Nein! Allein machen!“
Clara ging in die Küche, um Abendbrot vorzubreiten. Vor Schreck ließ sie einen Teller fallen, als Daphne plötzlich wie ein Stier aufbrüllte.
Mit verzerrtem Gesicht trampelte Daphne auf der Zeitschrift herum. „Blöde Schere!“, heulte sie und warf sie nach ihrer Mutter, die zur Seite sprang. Beide fingen an zu weinen.
Clara breitete die Arme aus. „Komm her, mein Kind, komm zur Mama.“
Mit gesenktem Kopf trottete ihre Tochter auf sie zu.
Später saßen sie auf dem Sofa. Daphne knetete ihre Hände rot, den Kopf an Claras Schulter gelehnt. „Mein Verlobter ...“
„Gleich Morgen kaufen wir einen neuen Stern. Und dann machen wir es zusammen. Und du bekommst einen Bilderrahmen, damit du deinen Verlobten aufstellen kannst.“
Daphne Nase rieb an ihrer Schulter. „Ja, Mama“, sagte sie. Sie ließ sich ins Bett bringen, Clara schob sie an der zerfledderten Zeitschrift vorbei.

Daphne durfte die Seite festhalten und Clara führte die Schere. Sie klebte das Bild sorgfältig auf Karton, schob es in den Rahmen aus Plexiglas.

„Jetzt setz dich bitte hin und arbeite wie die anderen“, wurde Daphne ermahnt. Mit eingezogenem Kopf schlurfte sie zu ihrem Platz und schimpfte: „B...blöder Hund!“
Sie blinzelte trübe in den Saal, wetzte auf dem Stuhl herum, beobachtete ihre Tischnachbarin, die ein Lampenschirmdrahtgestell mit Bast umwickelte. Ihr eigenes Werkstück, das wie ein Klumpen Fäden aussah, flog quer durch den Saal.
Sie holte den Dalai Lama aus ihrer Tasche und weinte.
Georg, der Werkstättenleiter, bat Daphnes Mutter zu einem Gespräch.
„Sie ist eben keine Handarbeiterin, sie hat andere Talente“, sagte Clara.
„Das ist schon richtig. Aber die Plätze bei uns sind sehr gesucht und ich kann keinen hier behalten, der sich nicht bemüht.“
„Aber sie ist doch ... das tut sie doch!“, sagte Clara.
Daphne drückte ihre Nase an der Fensterausnehmung in der Tür platt. Sie klopfte an die Scheibe und hielt das Bild des Dalai Lama hoch. „Mein Verlobter will ich hier bin!“
Clara winkte ihr zu. „Ich habe eine Idee“, sagte sie, „meine Tochter singt wunderschön Opernarien. Können Sie sie nicht zur Stimmungsmacherin ernennen? Das geht die Arbeit leichter von der Hand.“
Georg schüttelte den Kopf, aber er willigte ein.

Am nächsten Morgen, als Clara Daphne ablieferte, schlich sie mit schmalen Lippen zu ihrem Platz.
„Daphne, du musst das nicht mehr machen. Weißt du was?“, sagte Georg, während sie ihn anblinzelte, „Ab heute singst du für uns, damit wir mehr Spaß bei der Arbeit haben. Bist du einverstanden?“
Daphne stand langsam auf, sie lachte. Sie schritt durch den Raum an den Tischen vorbei und gab eine Arie nach der anderen zum Besten. Bei Applaus verbeugte sie sich, klatschte niemand, applaudierte sie sich selbst.

Matthias wartete eines Tages vor dem Haus, als Clara zur Arbeit ging.
„Ich möchte, dass du mir verzeihst. Bitte.“
Sofort hatte sie die Szene vor Augen. „Geh. Ich kann nichts tun für dich.“ Sie ließ ihn stehen.

Als Clara in den vorzeitigen Ruhestand ging – die Behindertenwertstätte hieß neuerdings Geschützte Werkstätte und Menschen mit Down-Syndrom wurden nicht mehr als mongoloid bezeichnet – bot sie ehrenamtliche Hilfe an, um ihrer Tochter nahe zu sein.
Georg war gern mit Clara zusammen. Sie half ihm fast täglich für ein paar Stunden in der Betreuung, teilte das Mittagessen aus.
Ihre Hände berührten sich bei einem der Teller. Clara blickte auf und lächelte Georg an. „Sagen musst schon du etwas als Mann.“
Er räusperte sich.
Sie drückte seine Hand. „Morgen Abend bei uns zum Essen?“

Daphne hatte ein ausgesprochen dramatisches Talent und Georg zerbrach sich den Kopf, ob man sie fördern könnte. Ihm gefiel, wie frei von allen Zwängen sie war, sich spontan engagierte, wenn jemand in der Gruppe bockte oder traurig war, er hatte sie gern.
Eines Abends lief im Fernsehen ein Beitrag über eine Opernschüleraufführung. Der Deutschlehrer sagte, sie hätten die Oper gekürzt, damit sie spielbar würde. In den nächsten Wochen suchten Clara und Georg im Wechsel Sponsoren, sprachen mit Banken, Kulturausschüssen der Parteien und karitativen Vereinigungen. Clara und Georg strichen die Zauberflöte zu einer einfachen Fassung zusammen und übten mit den Mitwirkenden die Rollen ein. Die Proben dauerten ein dreiviertel Jahr.

Mit roten Wangen starrte Daphne Georg an. Als er ihr das Zeichen gab, stapfte sie auf die Bühne.
Den Dalai Lama an die Brust gepresst, sang sie: „Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst verloren, listige Schlange Opfer koren. Barmherzige Götter! Schon nahet sich; Ach rettet mich! Ach schützet mich!“

Die Presse lobte die Arbeit als beachtlich. Während eines Fernsehinterviews hielt Daphne das Foto in die Kamera und ihr Lachen war wie das des Dalai Lama. „M... Mein Verlobter. W... Wie gefällt dir m... mein Lippenstift?“, fragte sie und zeigte auf das Rosa. Die Journalistin drehte sich hilfesuchend um.
„Sag doch, wie gefällt er dir?“ Als Daphne keine Antwort bekam, winkte sie in die Kamera und ging aus dem Studio.

Bei der letzten Aufführung saß Matthias in der ersten Reihe.
„In heiligen Hallen kennt die Rache nicht, und ein Mensch gefallen, führt Liebe ihn zur Pflicht“, sang Daphne.
In diesem Augenblick erhob sich Matthias. In einen bodenlangen hellen Samtmantel gehüllt, nickte sie ihm zu, während sie weiter sang: „In heiligen Mauern, wo Mensch Menschen liebt, kann kein Verräter lauern, man dem Feind vergibt ...“
Sie beendete Sarastros Arie am Bühnenrand. „Wen solche Lehren nicht erfreu'n, verdienet nicht Mensch sein.“

Daphne aß kein Fleisch mehr, Clara und Georg beobachteten sie. Jedem blickte sie aufmerksam in die Augen. Sie machte keinen Unterschied, ob es ein Mensch war oder ein Tier.
„Als würde sie einem ins Herz hineinschauen“, sagten sie, ohne es besser beschreiben zu können.
Sie war Ende zwanzig, ihre Regel blieb aus. Noch immer sang sie Arien zur Unterhaltung in der Werkstätte, dazwischen ging sie hinaus in den Hof und setzte sich auf den Rasenfleck, legte das Foto neben sich ins Gras.
Wenn Georg zu ihnen nach Hause kam, nahm Daphne das ohne Einwand zur Kenntnis. Einmal beim Frühstück sagte sie: „Du kannst bleiben. Bist nett.“ Sie ging auf den Balkon hinaus und schaute in den Himmel.
Als Georg das nächste Mal kam, zog er ein Päckchen aus der Tasche des Sakkos. „Für dich, Daphne.“
Sie lachte ihn an, packte die Sonnenbrille aus und setzte sie auf. Sie legte sich der Länge nach auf den Boden des Balkons, verschränkte die Arme und starrte stundenlang in die Wolken.
Georg fragte Clara, ob sie seine Frau werden möchte.
„Ja“, sagte sie.
Georg war zehn Jahre jünger als sie, die auf die siebzig zuging. Er versprach ihr, sich eines Tages um Daphne zu kümmern.

Nach Claras Tod sorgte Georg dafür, dass Daphne eine Gewöhnungszeit blieb, sich auf ein Leben im Heim einzustellen. Als er selbst pflegebedürftig wurde, brachte er sie dorthin. Belegschaft und Bewohner versammelten sich zu ihrem Empfang im Gemeinschaftsraum. Sie hatten Papiergirlanden aufgehängt und es gab Schokoladekuchen.

Hoch in den Siebzigern legte sie sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Einmal noch bekam sie einen Wutanfall. Die Krankenschwester hatte versehentlich das Bild ihres Verlobten vom Nachtkästchen gestoßen.
Eine anhaltende Lungenentzündung schwächte Daphne. Trotz Dekubitus begrüßte sie lächelnd jeden, der an ihr Bett trat, deutete mit zitternder Hand, dann nur mehr mit den Augen auf den Dalai Lama.

Die Werkstätte und das Heim sammelten für einen besonderen Grabstein, in dem ein Porträt von Dalai Lama eingelassen war. Darunter die Worte: „Wenn Leute lachen, sind sie fähig zu denken ...“

©ELsa Rieger
Schreiben ist atmen

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 10.03.2008, 11:38

Elsa hat geschrieben:na, ihr habt vielleicht Probleme ....


Ja, Elsa, während überall Menschen leiden und große Probleme bewältigen müssen, tun wir Kaltherzigen nichts besseres, als über Deine Sätze zu diskutieren.

wonigo

Beitragvon wonigo » 10.03.2008, 11:54

Liebe Sethe, ich bin jetzt völlig ernst: Ich verneige mich vor dir und deiner kämpferischen Haltung für die Belange Behinderter. Ich weiß nichts von dir, vermute aber, dass du in der Behindertenbetreuung tätig bist. Diejenigen, die du betreust, können sich glücklich schätzen, von dir umsorgt zu werden.

Das musste ich jetzt mal loswerden. Ich bin nicht in der Lage, zur Sache jetzt fundiert etwas zu sagen.

Herzliche Grüße
Wolfgang

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Beitragvon Sethe » 10.03.2008, 14:23

Nein, wonigo keine Verneigung oder ähnliches bitte. Bloß nicht.
Ich arbeite in der Behindertenarbeit, das ist richtig, aber nicht in der direkten Betreuung. Seit 9 Jahren versuchen die vielen Pädagogen um mich herrum mich zu "erziehen", dies hat schon zu erstaunlichen Erfolgen geführt. (meine "Erziehungsversuche" bei meinen Pädagogen sind nicht ganz zu erfolgreich ;- )) ). Ich hätte noch gerne mehr Kontakt zu den Menschen, für dich arbeite. Ist aber nicht immer möglich.


Das ist wahrscheinlich auch mein Problem (das ich halt einiges selbst erlebt habe und etliche Lebensgeschichten erzählt bekomme, die einem manchmal ganz schön nachhängen), was meine Probleme mit dem Text von Elsa verursacht.
Ich bin mir sicher, daß Elsa genauso leidenschaftlich diesen Text geschrieben hat, wie ich ihn jetzt kritisiere (mit schlechten Gewissen, muß ich zugeben).
Aus der eigenen und auch aus den Erfahrungen auch der pädagogischen Kollegern heraus, ist mir klar, daß man selber noch in Situationen kommt, wo man im Umgang mit geistig behinderten Menschen unsicher ist, und ja auch noch Berühungsängste hat.
Dieser Text verstärkt diese Unsicherheit meiner Meinung nach. Er nimmt einem nicht die Unsicherheit und auch nicht die Berühungsängste. Vorallem nicht bei Menschen, die nun so gar keinen Kontakt haben.

Na gut, als ich las, es könnte kein sexueller Mißbrauch, war ich wohl etwas zu schnell auf der Palme.

Ich werde dann jetzt mal über die Beziehung zwischen Daphne und Matthias nachdenken.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

wonigo

Beitragvon wonigo » 10.03.2008, 22:13

Liebe Sethe, nun etwas zum so konträr diskutierten Problem:

Ich unterstelle, dass Daphne irgendwie spürte, dass zur vollständigen Befriedigung ihrer Bedürfnisse irgendwie ein Partner gehört. Deshalb entblößte sie sich vor Matthias, ohne äußeren Zwang, wie ich das interpretiere, und sie fühlte, dass der Zuschauer ihre Lust erhöhte.
Und Matthias? Natürlich hätte er die Decke über sie decken können und versuchen, ihr zu erklären, dass man es "so" nicht macht. Vielleicht hätte Daphne sogar zornig und unbeherrscht reagiert.

Als Mann, der mit einem Bein bereits weit jenseits von Gut und Böse steht, muss ich sagen, dass eine solche Situation wahrscheinlich weit über das Vermögen der meisten Männer hinausgegangen wäre, sich zurückzuhalten.

Matthias befriedigt sich auch selbst und Daphne erfährt, dass der Mann gemeinsam mit ihr Lust empfindet, was ihre Lust möglicherweise erhöht.

Rein moralisch bin ich geneigt, Matthias zu verurteilen, so wie es Clara ja auch tat. Im Innern aber frage ich mich, ob zwischen Daphne und Matthias nicht eine Form der Liebe herrschte. Und in der Liebe - wenn beide es wollen - was ist da schlecht, böse oder verurteilenswert?

Sicher werden wir diese Frage nicht völlig beantworten können - es sei denn, ein TR 21- Mensch könne sich dazu erklären.

Auch wenn ich mit Dir in der Meinung nicht übereinstimme, meine Hochachtung vor deinem kämpferischen Einsatz für die Behinderten ist ungebrochen.

Herzlichst
Wolfgang

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leonie
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Beitragvon leonie » 12.03.2008, 11:43

Ich habe lange darüber nachgedacht, warum ich es ganz eindeutig als Missbrauch empfinde, was da passiert.

Es hat mit dem Machtgefälle zwischen den beiden zu tun.

Sogar zwischen "normalen" Menschen ist es so, dass, wenn ein solches Machtgefälle vorliegt, eine solche Tat als Missbrauch gewertet wird und ich finde das richtig so. Zum Beispiel zwischen Lehrer/Schüler, Arzt/Patientin, Psychologe/Klientin, Eltern /Kind.

Selbst wenn "keine Böswilligkeit" vorliegt, was oft genug nur heißt, dass ein Täter nicht bereit ist, seine Tat zu reflektieren. Selbst wenn es beiden gefallen hat: Da war einer in einer wie auch immer gearteten Überlegenheit gegenüber dem anderen und hat das ausgenutzt.
Und das ist Missbrauch.

Argumente wie: "es lag keine Böswilligkeit seinerseits vor" und "sie hatte ja auch ihren Spaß" finde ich deshalb völlig fehl am Platz. Das sind letztlich Argumente, die die Täter schützen.
Als erwachsener Mensch muss man in der Lage sein, seine eigene Verantwortung zu erkennen und man muss in der Lage sein, seine Überlegenheit nicht auszunutzen und sich verantwortlich zu verhalten. Da mag man noch so geil, verknallt oder sonst was sein.

So sehe ich das und an dem Punkt bin ich nicht tolerant. Kein bisschen.

leonie

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.03.2008, 13:35

Ich bin etwas spät, aber da ich zu wolfgangs Text einen Kommentar geschrieben habe, der wohl auch ein bisschen Anlass ist, weshalb der Text hier steht, möchte ich doch noch etwas zum Text schreiben (ich habe zwar die Diskussion verfolgt, aber nur überfliegend oder nach und nach, deshalb entschuldigung, falls das argument schon gefallen sein sollte):

mein argument bezieht sich nicht auf die frage: ist es sexueller missbrauch, wenn jemand gar nicht einschätzen kann, was er für Handlungen begeht, der andere aber schon (das kommt erst danach, diese Frage aufzuwerfen, könnte die Leistung des Textes sein), sondern mein argument bezieht auf das erzählverfahren des textes:

Ich glaube, warum es für mich klar ist, dass es auf einen Missbrauch hinauslaufen muss, ist die Erzählperspektive, selbst wenn der Text es darauf angelegt hat, die entsprechende Stelle offen zu lassen (um den Leser zu verstören, sich selbst zu überlassen). Der Text kann dies aufgrund der Erzählhaltung nicht schaffen (vielleicht will er es aber auch nicht). warum kann er es nicht? weil die Position der Mutter unangetastet ist: die mutter wird uneingeschränkt als daphneliebesfähig gekennzeichnet und in dem Maße, wie sie liebesfähig gegenüber daphne ist, ist sie auch (über die behinderung und alles, was diese betrifft) urteilskräftig.das ist die anlage des textes (und daher beurteilt das verhalten der mutter gegenüber matthias, matthias verhalten: die mutter schmeißt matthias raus und es ist die rede davon, dass sie dies auf eine weise macht, die das kind nicht anmerken lassen soll, was vor sich geht, um es zu schützen.).
die anlage empfinde ich als fragwürdig, weil einseitig und klischeeerzeugend, die ich nicht aufgehoben sehe. Was mich auch stört, ist, dass der Text den Text von Geburt bis zum Tod von daphne schildert und währenddessen versucht alle aspekte eines aufwachsenden behinderten menschen unterzubringen. sethe hat hinzugefügt (werkstätten etc.), dass diese zum teil auch nicht zutreffen, hier maße ich mir kein urteil an mangels Wissen.

So negativ das bisherige auch klang - irgendeine ganz starke kraft hat der text trotzdem für mich. er schlummert tatsächlich in dem versuch, das thema sexualität und behinderte aufzugreifen und in dem matthias-daphne teil, der bei anderer erzählhaltungsgestaltung für meine begriffe sehr stark werden könnte.

ich könnte mir vorstellen, dass es sich unbedingt lohnen würde, diesen Text mit hier verweilender Kopie (oder neu eingestellt!) im Prosabereich (mithilfe der bisher beteiligten) zu bearbeiten und zu einem feinen, ausdifferenziertem deutlich kürzerem Text in eien zweite Version umzuarbeiten? soweit die autorin lust dazu hat, kann sie mir gerne eine Pn schicken. natürlich ist es aber auch ganz und gar ok, wenn dies nicht der fall ist!
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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