„Dies Bildnis ist bezaubernd schön“

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 08.03.2008, 11:59

Mit gerecktem Hals schritt Daphne über den Schulhof, schwenkte energisch ihre rote Plastikhandtasche. Einer der Schüler riss sie ihr immer aus der Hand und rannte davon. Die anderen grölten „Mongo, Mongo!“
„Ich b…bin nicht aus M…Mongolien!“ Daphne stapfte hinterher. „Ich hau dir den Popo kaputt ...“ ihre Stimme erstickte in Tränen.
Vom anderen Ende des Hofs schleuderte der Junge die Tasche in ihre Richtung. Im Dreck blieb sie liegen.
Beim Bücken tropfte Daphne der Rotz aus der Nase. Sie öffnete den goldenen Klippverschluss und linste hinein, seufzte, weil nichts fehlte. Die Taschentücher nicht, die Schokobonbons nicht, das Bettelarmband und der rosa Lippenstift nicht.
Das Armband, ein Taufgeschenk, passte nicht mehr um ihr Handgelenk. Sie zählte die silbernen Anhänger. Katzen, Kleeblätter, Schlüssel und die Herzen, die sie jedes Jahr hinzubekam. „Eins, fünf, zehn, drei, acht ...“ Manchmal geriet sie durcheinander, bei „Zehn“ stopfte sie es zurück, roch am Lippenstift und leckte dran.
Dann lief sie weiter solange ums Viereck, bis die Glocke schrillte.

Ihr Vater wurde wütend, als er von ihrer Zeugung erfuhr.
„Das musst du wegmachen lassen“, sagte er zu Clara, „Du bist über vierzig, und ich bin verheiratet.“
Claras Bauch wuchs, Thomas wurde geschieden und zog ein.
„Thom, sieh nur die süße kleine Nase, wie ein Kätzchen und die schräg gestellten Augen!“, sagte sie entzückt, als Daphne geboren war.

Zwei Jahre später tapste die Kleine neben Clara durch den Supermarkt.
„Niedlich das Püppchen“, sagte die Kassiererin.
Eine Kundin, die nach Clara ihre Einkäufe auf das Laufband legte, meinte nach einem Blick auf Daphne: „Das wird nicht so bleiben ...“
Eine andere seufzte. „Down-Syndrom.“ Ihr Blick in die Runde heischte nach Lob.
Clara nahm Daphne auf den Arm. Beim Hinausgehen hörte sie: „Sowas ist eine Strafe Gottes.“
Clara fing an Daphne zu beobachten. Merkte man ihr das Gen zuviel so deutlich an? Sie konnte keinen Unterschied zu anderen Kindern feststellen.
Lange Jahre hatte sie sich ein Kind gewünscht und jetzt sollte sie aus Angst vor den Leuten nicht mehr auf die Straße? Clara schüttelte den Kopf darüber, umarmte Daphne. Sie war stolz.
Als sie Thomas an ihren Gedanken teilhaben ließ, zwischen Tür und Angel – er verbrachte die meiste Zeit mit arbeiten, sagte er: „Ich habe dich angefleht.“
Er zog sich noch mehr zurück. Schließlich fing er ein Verhältnis mit seiner geschiedenen Frau an, übernachtete auswärts. Clara stellte verblüfft fest, dass es ihr nichts ausmachte.
Sie schleppte Daphne überallhin mit. Äußerte jemand, wie bedauernswert ihr Schicksal sei, sagte sie: „Ich bin überglücklich mit meiner Tochter, sie hat einen starken Charakter.“
Daphnes sechsten Geburtstag feierten sie allein; Thomas hatte angerufen und gesagt, er würde bei seiner ersten Frau bleiben, aber natürlich Unterhalt für das Kind bezahlen.
„B...blablabla!“ Daphne lachte Clara an, die ihr die Karte und das Kuvert aus der Hand nahm und vorlas: „Liebe Daphne, Glück und Segen auf all deinen Wegen. Ich lade dich in die Oper ein zur Zauberflöte. Deine Mama.“
Daphne klatschte in die Hände und blies alle Kerzen auf der Schokoladetorte aus. Sie zerbiss das rosa Seidenband des zweiten Geschenkes. Die Puppe mit blonden Locken sah sie kurz an, ehe sie sie in die Ecke schmiss.

Zwei Tage später saß Daphne mucksmäuschenstill auf zwei Telefonbüchern. Mit aufgerissenem Mund verfolgte sie das Geschehen auf der Bühne. Clara lächelte. Als der letzte Vorhang fiel, hopste Daphne vom Stuhl, fasste nach der Hand ihrer Mutter und zog sie hinaus. Auf dem Heimweg summte sie eine Weile. Plötzlich sang sie: „Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, zernichten Heuchler Macht.“
Clara trat auf die Bremse, drehte sich um. „Was hast du gesagt?“
Daphnes Augen glänzten. Sie wiederholte den Vers Sarastros aus der letzten Szene.

Clara tauschte die Puppe gegen einen Kassettenrekorder um und kaufte die Zauberflöte. Täglich hörte Daphne vor dem Schlafengehen ihre Lieblingsarien und sang sie begeistert und ganz ohne zu Stottern nach.

Ein paar Jahre später tauchte Daphne spät abends im Nachthemd im Wohnzimmer auf. Clara hatte ein paar Freunde, die ihr treu geblieben waren, eingeladen.
„M...Mama G...Geb...burtstag.“
Jemand lachte, was ihm einen scharfen Blick Claras einbrachte.
„Daphne weiß Geschenk“, sagte Daphne und stellte sich vor dem Fenster in Pose. „Pa-Pa-Pa-Papagena!“, begann sie zu schmettern.
Um den Wechsel zwischen Papageno und Papagena spielen zu können, trieb Daphne ihren gedrungenen Körper unerbittlich in Claras Wohnzimmer von einem Ende zum anderen. „Pa-pa-pa-pa-geno“, sang sie beim Kamin und dann vom Fenster her: „Pa-pa-pa-pa-gena.“
Hochrot, mit leuchtenden Augen hinter den Brillengläsern verbeugte sie sich. Clara weinte vor Freude und alle klatschten.
Danach stopfte Daphne Schokoladekuchen in den Mund, die Gäste schauten weg.

„Wir müssen einen Büstenhalter für dich kaufen, Liebling, du wirst langsam erwachsen.“
Daphne patschte auf ihre Rundungen und hüpfte auf und ab.
In der Wäscheabteilung stürzte sie sich mit einem Schrei der Begeisterung auf einen roten Satin-BH.
Die Verkäuferin entwand ihn Daphnes Händen. „Ein Einzelstück. Falsche Größe.“
„Was hältst du von diesem da?“ Clara zeigte auf einen hellblauen.
„Nein. Den da!“ Mit einem Ausfallschritt riss Daphne das rote Teil wieder an sich und zog sich hinter einen der Drehständer zurück.
„Gib her, der passt nicht, sagt die Dame.“
Daphne schnaufte und zog eine wütende Grimasse. Als Clara auf sie zuging, wich sie aus und stieß eine Figurine im grünen Negligé um, schrie: „Will aber!“ Sie stürmte davon, Clara hinterher. „Hör auf damit, du machst doch alles kaputt!“
Aber Daphne kippte drei Drehständer mit Dessous um und tobte weiter. „Ich will rot haben, rot, rot!“
Erst als Clara mit hängenden Armen stehen blieb, hielt Daphne an und streckte den Verkäuferinnen die Zunge heraus. „Rot!“
Clara drückte einer der Damen einen großen Geldschein in die Hand und verließ mit Daphne und einem zu großen, roten Büstenhalter den Laden.

Eine Tante lud am kommenden Wochenende zu ihrem achtzigsten Geburtstag ein. Daphne präsentierte den roten BH, dann sang sie eine Arie aus dem Fliegenden Holländer. Die Familie saß dicht gedrängt um die Kaffeetafel, Clara und Daphne teilten sich einen Stuhl. Mitten in der angeregten Unterhaltung seufzte Daphne laut auf. Mit verklärtem Gesichtsausdruck rieb sie ihr Geschlecht an der Stuhlkante. Sie stöhnte auf dem Höhepunkt, zuckte und sank entspannt in sich zusammen.
„Gut“, sagte sie und griff nach einem Stück Torte.
Einige hüstelten. Clara sagte: „Wir müssen gehen, mein Engel.“

In der Beratungsstelle für Eltern mit behinderten Kinder sagte man Clara: „Menschen wie Daphne haben eine starke Libido, ohne zu begreifen ...“
Clara nahm es hin und verkehrte nur noch mit Verwandten und Freunden, die ihre Tochter akzeptierten, wie sie eben war.

Eines Tages war das Bettelarmband aus der Handtasche verschwunden, nachdem Daphne sie zurückerobert hatte. Der Junge, der trotz aller Ermahnungen nicht genug davon bekommen konnte, sie zu ärgern, schrie: „Mongo! Mongo!“
Als Daphne den Diebstahl bemerkte, warf sie sich auf den Asphalt, wälzte sich und brüllte wie am Spieß. Sie keuchte wie unter Schock bis sie schließlich das Bewusstsein verlor. Der Rettungswagen brachte sie in die Klinik.

Die Schulleitung entschied, dass Daphne besser in einer Sonderschule aufgehoben wäre.
Clara begann wieder zu arbeiten. Halbtags in einem Steuerberatungsbüro. Einer der Klienten machte ihr den Hof.
„M...M...Matthias“, sagte Daphne, als er bei ihnen einzog. Er unterstützte Clara, indem er ihre Tochter von der Schule abholte, wenn sie länger im Büro zu tun hatte.
„Ich kann mir meine Zeit als Selbständiger gut einteilen“, meinte Matthias. Er besaß Seminarräume, die er für esoterische Kurse vermietete.
Er war begeistert von Daphne und zeigte ihr, wie sie auch ohne Sesselkante Lusterfüllung bekommen konnte. Während sie auf dem Bett im Kinderzimmer die Beine spreizte und masturbierte, saß er auf dem Kinderschaukelstuhl und rieb sich. Daphne lachte.
„Springbrunnen“, sagte sie zu seinem ejakulierenden Glied.
Nachher fütterte er sie mit Schokoladekuchen, wischte ihr den Mund ab.
Eines Tages kam Clara früher von der Arbeit und hörte Matthias aus dem Kinderzimmer stöhnen. Sie riss ihn an den Haaren, schlug auf ihn ein.
„Hau ab oder ich zeige dich an“, sagte sie, bemüht, nicht zu schreien, um ihr Kind nicht zu erschrecken.
Matthias packte hastig ein paar Sachen und war innerhalb einer Stunde verschwunden.
Clara sah nach Daphne. Sie hockte auf dem Bett, die Kopfhörer auf und hörte die Zauberflöte.

Als sie mit vierzehn die Sonderschule beendet hatte und tagsüber eine Behindertenwerkstätte besuchte, rief Matthias immer noch an.
„Ich will nichts mehr besprechen mit dir, sei froh, dass du so davon gekommen bist, Matthias“, sagte Clara, wenn er sie anflehte, ihm zu vergeben.
„Ich kann so nicht leben, weiß ja nicht einmal, was in mich gefahren war ...“
„Pech“, sagte Clara und legte auf.
Daphne hatte alle paar Tage einen anderen Freund.
„Sch...schau!“ Sie zupfte das Bild des Favoriten aus der roten Plastikhandtasche, ging von Tisch zu Tisch und hielt es jedem unter die Nase.
„Gut“, sagten die Kollegen und unterbrachen ihre Arbeit, um es sich anzusehen.
Zuhause blätterte sie die Illustrierten durch, die Clara aus dem Wartezimmer des Steuerberaters mitnahm. Gefiel ihr ein Foto, riss Daphne es heraus, stammelte: „Sch...schön.“
Sie drückte das Blatt an ihre Brust, nahm es mit in die Werkstätte und wenn es abgewetzt und eingerissen war, suchte sie sich ein Neues aus.

„Ich bin verlobt“, stieß Daphne eines Tages hervor und klopfte aufgeregt mit dem Zeigefinger auf den Auserwählten der Woche. Clara setzte die Lesebrille auf. Schräg stehende Augen, ein liebevolles Lächeln strahlten sie an.
Diesmal riss Daphne die Seite nicht heraus, sie nahm eine Bastelschere. Die Zunge zwischen den Zähnen konzentrierte sie sich auf das Ausschneiden.
„Soll ich dir helfen, Daphne?“
„Nein! Allein machen!“
Clara ging in die Küche, um Abendbrot vorzubreiten. Vor Schreck ließ sie einen Teller fallen, als Daphne plötzlich wie ein Stier aufbrüllte.
Mit verzerrtem Gesicht trampelte Daphne auf der Zeitschrift herum. „Blöde Schere!“, heulte sie und warf sie nach ihrer Mutter, die zur Seite sprang. Beide fingen an zu weinen.
Clara breitete die Arme aus. „Komm her, mein Kind, komm zur Mama.“
Mit gesenktem Kopf trottete ihre Tochter auf sie zu.
Später saßen sie auf dem Sofa. Daphne knetete ihre Hände rot, den Kopf an Claras Schulter gelehnt. „Mein Verlobter ...“
„Gleich Morgen kaufen wir einen neuen Stern. Und dann machen wir es zusammen. Und du bekommst einen Bilderrahmen, damit du deinen Verlobten aufstellen kannst.“
Daphne Nase rieb an ihrer Schulter. „Ja, Mama“, sagte sie. Sie ließ sich ins Bett bringen, Clara schob sie an der zerfledderten Zeitschrift vorbei.

Daphne durfte die Seite festhalten und Clara führte die Schere. Sie klebte das Bild sorgfältig auf Karton, schob es in den Rahmen aus Plexiglas.

„Jetzt setz dich bitte hin und arbeite wie die anderen“, wurde Daphne ermahnt. Mit eingezogenem Kopf schlurfte sie zu ihrem Platz und schimpfte: „B...blöder Hund!“
Sie blinzelte trübe in den Saal, wetzte auf dem Stuhl herum, beobachtete ihre Tischnachbarin, die ein Lampenschirmdrahtgestell mit Bast umwickelte. Ihr eigenes Werkstück, das wie ein Klumpen Fäden aussah, flog quer durch den Saal.
Sie holte den Dalai Lama aus ihrer Tasche und weinte.
Georg, der Werkstättenleiter, bat Daphnes Mutter zu einem Gespräch.
„Sie ist eben keine Handarbeiterin, sie hat andere Talente“, sagte Clara.
„Das ist schon richtig. Aber die Plätze bei uns sind sehr gesucht und ich kann keinen hier behalten, der sich nicht bemüht.“
„Aber sie ist doch ... das tut sie doch!“, sagte Clara.
Daphne drückte ihre Nase an der Fensterausnehmung in der Tür platt. Sie klopfte an die Scheibe und hielt das Bild des Dalai Lama hoch. „Mein Verlobter will ich hier bin!“
Clara winkte ihr zu. „Ich habe eine Idee“, sagte sie, „meine Tochter singt wunderschön Opernarien. Können Sie sie nicht zur Stimmungsmacherin ernennen? Das geht die Arbeit leichter von der Hand.“
Georg schüttelte den Kopf, aber er willigte ein.

Am nächsten Morgen, als Clara Daphne ablieferte, schlich sie mit schmalen Lippen zu ihrem Platz.
„Daphne, du musst das nicht mehr machen. Weißt du was?“, sagte Georg, während sie ihn anblinzelte, „Ab heute singst du für uns, damit wir mehr Spaß bei der Arbeit haben. Bist du einverstanden?“
Daphne stand langsam auf, sie lachte. Sie schritt durch den Raum an den Tischen vorbei und gab eine Arie nach der anderen zum Besten. Bei Applaus verbeugte sie sich, klatschte niemand, applaudierte sie sich selbst.

Matthias wartete eines Tages vor dem Haus, als Clara zur Arbeit ging.
„Ich möchte, dass du mir verzeihst. Bitte.“
Sofort hatte sie die Szene vor Augen. „Geh. Ich kann nichts tun für dich.“ Sie ließ ihn stehen.

Als Clara in den vorzeitigen Ruhestand ging – die Behindertenwertstätte hieß neuerdings Geschützte Werkstätte und Menschen mit Down-Syndrom wurden nicht mehr als mongoloid bezeichnet – bot sie ehrenamtliche Hilfe an, um ihrer Tochter nahe zu sein.
Georg war gern mit Clara zusammen. Sie half ihm fast täglich für ein paar Stunden in der Betreuung, teilte das Mittagessen aus.
Ihre Hände berührten sich bei einem der Teller. Clara blickte auf und lächelte Georg an. „Sagen musst schon du etwas als Mann.“
Er räusperte sich.
Sie drückte seine Hand. „Morgen Abend bei uns zum Essen?“

Daphne hatte ein ausgesprochen dramatisches Talent und Georg zerbrach sich den Kopf, ob man sie fördern könnte. Ihm gefiel, wie frei von allen Zwängen sie war, sich spontan engagierte, wenn jemand in der Gruppe bockte oder traurig war, er hatte sie gern.
Eines Abends lief im Fernsehen ein Beitrag über eine Opernschüleraufführung. Der Deutschlehrer sagte, sie hätten die Oper gekürzt, damit sie spielbar würde. In den nächsten Wochen suchten Clara und Georg im Wechsel Sponsoren, sprachen mit Banken, Kulturausschüssen der Parteien und karitativen Vereinigungen. Clara und Georg strichen die Zauberflöte zu einer einfachen Fassung zusammen und übten mit den Mitwirkenden die Rollen ein. Die Proben dauerten ein dreiviertel Jahr.

Mit roten Wangen starrte Daphne Georg an. Als er ihr das Zeichen gab, stapfte sie auf die Bühne.
Den Dalai Lama an die Brust gepresst, sang sie: „Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst verloren, listige Schlange Opfer koren. Barmherzige Götter! Schon nahet sich; Ach rettet mich! Ach schützet mich!“

Die Presse lobte die Arbeit als beachtlich. Während eines Fernsehinterviews hielt Daphne das Foto in die Kamera und ihr Lachen war wie das des Dalai Lama. „M... Mein Verlobter. W... Wie gefällt dir m... mein Lippenstift?“, fragte sie und zeigte auf das Rosa. Die Journalistin drehte sich hilfesuchend um.
„Sag doch, wie gefällt er dir?“ Als Daphne keine Antwort bekam, winkte sie in die Kamera und ging aus dem Studio.

Bei der letzten Aufführung saß Matthias in der ersten Reihe.
„In heiligen Hallen kennt die Rache nicht, und ein Mensch gefallen, führt Liebe ihn zur Pflicht“, sang Daphne.
In diesem Augenblick erhob sich Matthias. In einen bodenlangen hellen Samtmantel gehüllt, nickte sie ihm zu, während sie weiter sang: „In heiligen Mauern, wo Mensch Menschen liebt, kann kein Verräter lauern, man dem Feind vergibt ...“
Sie beendete Sarastros Arie am Bühnenrand. „Wen solche Lehren nicht erfreu'n, verdienet nicht Mensch sein.“

Daphne aß kein Fleisch mehr, Clara und Georg beobachteten sie. Jedem blickte sie aufmerksam in die Augen. Sie machte keinen Unterschied, ob es ein Mensch war oder ein Tier.
„Als würde sie einem ins Herz hineinschauen“, sagten sie, ohne es besser beschreiben zu können.
Sie war Ende zwanzig, ihre Regel blieb aus. Noch immer sang sie Arien zur Unterhaltung in der Werkstätte, dazwischen ging sie hinaus in den Hof und setzte sich auf den Rasenfleck, legte das Foto neben sich ins Gras.
Wenn Georg zu ihnen nach Hause kam, nahm Daphne das ohne Einwand zur Kenntnis. Einmal beim Frühstück sagte sie: „Du kannst bleiben. Bist nett.“ Sie ging auf den Balkon hinaus und schaute in den Himmel.
Als Georg das nächste Mal kam, zog er ein Päckchen aus der Tasche des Sakkos. „Für dich, Daphne.“
Sie lachte ihn an, packte die Sonnenbrille aus und setzte sie auf. Sie legte sich der Länge nach auf den Boden des Balkons, verschränkte die Arme und starrte stundenlang in die Wolken.
Georg fragte Clara, ob sie seine Frau werden möchte.
„Ja“, sagte sie.
Georg war zehn Jahre jünger als sie, die auf die siebzig zuging. Er versprach ihr, sich eines Tages um Daphne zu kümmern.

Nach Claras Tod sorgte Georg dafür, dass Daphne eine Gewöhnungszeit blieb, sich auf ein Leben im Heim einzustellen. Als er selbst pflegebedürftig wurde, brachte er sie dorthin. Belegschaft und Bewohner versammelten sich zu ihrem Empfang im Gemeinschaftsraum. Sie hatten Papiergirlanden aufgehängt und es gab Schokoladekuchen.

Hoch in den Siebzigern legte sie sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Einmal noch bekam sie einen Wutanfall. Die Krankenschwester hatte versehentlich das Bild ihres Verlobten vom Nachtkästchen gestoßen.
Eine anhaltende Lungenentzündung schwächte Daphne. Trotz Dekubitus begrüßte sie lächelnd jeden, der an ihr Bett trat, deutete mit zitternder Hand, dann nur mehr mit den Augen auf den Dalai Lama.

Die Werkstätte und das Heim sammelten für einen besonderen Grabstein, in dem ein Porträt von Dalai Lama eingelassen war. Darunter die Worte: „Wenn Leute lachen, sind sie fähig zu denken ...“

©ELsa Rieger
Schreiben ist atmen

Trixie

Beitragvon Trixie » 09.03.2008, 16:02

die figur "matthias" spielt im leben der daphne auch eine größere rolle. die des georg im leben ihrer mutter. er (matthias) gibt ihr mehr und vor allem das, was ihr die anderen menschen/männer nicht geben und er ist nicht nur erziehungsteil. ich denke, das ist ausschlaggebend für die figur und daher wichtig. es passiert sehr oft, dass downies sich in irgendwelche männer verlieben, sei es nun brad pitt oder den wurstverkäufer von nebenan. die verliebtheit hat elsa auf die fotos von den stars im spiegel, zb. dem dalai lama geschoben. zu matthias besteht jedoch keine ausdrückliche. woran liegt das, wenn er doch sogar ihr noch hilft, ihre libido "in den griff" zu kriegen?

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 09.03.2008, 16:14

Ich wundere mich gerade sehr.
Was anderes als ein sexueller Mißbrauch soll die Szene zwischen Matthias und Daphne sonst sein.
Eine einfache Geilheit?
Da geilt sich jemand daran auf, daß ein anderer Mensch sich, ohne dies zu erkennen, sexuell freizügig präsentiert.
Matthias nützt dies für seine eigene Befriedigung aus. Er mißbraucht den Umstand, daß Daphne so mit ihrer Sexualität umgeht und er mißbraucht den Umstand, daß sie garnicht richtig einschätzen kann, worum es überhaupt geht. Sie ist doch überhaupt nicht aufgeklärt worden, ihr wurde nicht gezeigt, wie sie sonst damit umgehen kann.
Wie soll es sie auch stören, was Matthias da macht, mit ihr da macht, wenn sie garnicht weiß, wie sie dies einzuordnen hat.
Wie muß jemand ticken, wenn er sich zu seiner eigenen Befriedigung einen anderen Menschen so zurückrückt, wie es Matthias getan hat.

denn sie hat das ja gerne getan und es hat sie nicht gestört, dass er ihr dabei zusah und sich selbst auch befriedigt hat

Das ist ja fast schon ein Freibrief für jedewede sexuelle Handlung an und mit geistig Behinderten, wenn jemand den Umstand ausnutzt, daß jemand aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht erkennt, daß ein andere ihn mißbraucht.
Dieser Umstand ist es doch, warum gerade Menschen mit einer geistigen Behinderung ein leichtes Ziel sind.

Sam
Und damit entlarvt Elsa in der Geschichte sämtlichen Klischees, in dem sie ihnen den Rang des Alltäglichen zuweist.


Mir ist nicht klar, wie Du Sam dies meinst.
Das was die Geschichte erzählt, ist doch nicht das alltägliche Leben eines Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihrer Angehörigen.
Was soll jemand denken, wenn er liest, daß sind alles alltägliche und damit "normale" Erlebnisse und Geschehnisse in dem Leben eines Menschen mit einer geistigen Behinderung.
Das ergibt doch ein völlig schiefes Bild.
Meiner Meinung nach werden hier keine Klischees entlarvt, sondern nur noch verstärkt.
Für mich hat der Text eine fatale Außenwirkung.
Welches Bild von einem Menschen mit Down Syndrom prägt sich dem Leser hier ein?
Daß diese Menschen emotional immer gleichmäßig empfinden, daß diese Menschen stur sind und zu wutanfällen neigen, daß diese Menschen freizügig mit ihrer Sexualität umgehen.

Oder hier:
trixie
aber in diesem falle sehe ich es - und überhaupt die ganze rolle des matthias!!! - als beinahe beispielhafte norm an. wäre das alles nicht so wie in dieser geschichte, hätte man sie nicht erzählen müssen, denke ich. die besonderen ereignisse sind meiner erfahrung nach durchaus realitätsnah und glaubhaft. j

Da haben wir es doch schon. Beispielhafte Norm, realitisch, realitätsnah.
Also wenn das die Norm ist, wie hier ein Matthias mit Daphne umgeht, na dann wird mir aber Angst und Bange.
Wenn das immer realistisch und realitätsnah ist, wie Daphne hier reagiert beim Einkaufen, die Sache mit dem Bild und so weiter, denkt ja nachher jeder, so sind sie eben die Menschen mit einem Down Syndrom.
Nein, so sind sie eben nicht.
Sie sind im Grund wie wir, da gibt es die unterschiedlichsten Charakter, da gibt es liebenswerte, da gibt es Menschen, die kann man nicht leiden, sie sind so unterschiedlich wie wir auch.


Damit tut man aber diesen Menschen sowas von unrecht und sie haben dann alle Hände voll zu tun, dieses Bild, welches der Text erzeugt, wieder zurecht zu rücken.

Man stelle sich mal vor, die Geschichte stellt so das Leben eines nicht geistig behinderten Menschen dar - wie er es hier mit Daphnes Lebensgeschichte macht.
Zählt alle Klischees auf, ohne sie zu recht zu rücken, keine Erklärungen, einfach nur alle über einen Kamm scherend, einseitig.
Ich denke mal, es gäbe einiges an Widerspruch und Empörung.

Die Geschichte ist nicht realitätsnah.

viele Grüße
Sethe

(sorry, Elsa)

Edit:

Matthias hilft ihr doch nicht, ihre Libido in den Griff zu kriegen. Das kann man auch anders machen, und nicht wie er es macht, seinen persönlichen Nutzen daraus zuziehen. Wenn er helfen wollte, ihre Libido in den Griff zu kriegen, hätte er sich nicht frontal ihr gegenüber in den Kinderstuhl gesetzt und sich nicht einen runter geholt.
Er nutzt ihre Undedarfheit aus, nichts weiter.
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Gast

Beitragvon Gast » 09.03.2008, 16:57

Hallo Sethe,

du hast meine Zustimmung, zu dem, was du zur Frage, ob den überhaupt ein "Missbrauch" vorliege, geschrieben und zu bedenken gegeben hast.

Irgendwie fühle ich mich bei dieser Diskussion unangenehm daran erinnert, dass Pädophile sich häufig damit rausreden wollen , dass es den Kindern Spaß gemacht habe ...


Sethe hat geschrieben:Wie muß jemand ticken, wenn er sich zu seiner eigenen Befriedigung einen anderen Menschen so zurückrückt, wie es Matthias getan hat.
Zitat:
denn sie hat das ja gerne getan und es hat sie nicht gestört, dass er ihr dabei zusah und sich selbst auch befriedigt hat


Das ist ja fast schon ein Freibrief für jedewede sexuelle Handlung an und mit geistig Behinderten, wenn jemand den Umstand ausnutzt, daß jemand aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht erkennt, daß ein andere ihn mißbraucht.
Dieser Umstand ist es doch, warum gerade Menschen mit einer geistigen Behinderung ein leichtes Ziel sind.


Ich finde hier steht alles drin, was man dazu sagen muss, will man, dass Behinderte den Schutz erhalten, der je nach Grad ihrer Behinderung notwendig ist, um sie vor Übergriffen zu schützen.

Liebe Grüße
Gerda

Sam

Beitragvon Sam » 09.03.2008, 16:59

Hallo Sethe,

danke für deine Meinung. Sie bildet einen interessanten Kontrapunkt zu dem bisher gesagten.

Zunächst dies:

Zitat:Sam
Und damit entlarvt Elsa in der Geschichte sämtlichen Klischees, in dem sie ihnen den Rang des Alltäglichen zuweist.


Mir ist nicht klar, wie Du Sam dies meinst.
Das was die Geschichte erzählt, ist doch nicht das alltägliche Leben eines Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihrer Angehörigen.

Nein, vielleicht ist das nicht das Alltägliche. Vielleicht einfach nur das Mögliche. Klischeehaft würde Elsas Text meiner Meinung erst dann werden, wenn den beschriebenen Szenen eine zu große Bedeutung zugemessen würde. So aber werden diese Dinge als Teil eines Lebenslaufes beschrieben, der an keiner Stelle behauptet exemplarisch zu sein. Und in dem beinahe gleichwertigen Nebeneinander der Ereignisse ensteht der Entwurf eines möglichen Lebens. All das, was hier als Klischee bezeichnet wird, hat im Endeffekt keinen wirklichen Einfluss auf den Lebensverlauf von Daphne. Sie ist behindert und bleibt behindert und der Text macht an keiner Stelle den Versuch, diese Tatsache zu beschönigen oder in irgendeiner Weise zu überhöhen und durch irgendwelche Ereignisse, wie die Theateraufführung, diese Tastache glattzubügeln. Und das finde ich gelungen. (Aus meinem beschränkten Erfahrungshorizont heraus natürlich)

An deinem Kommentar fällt mir noch auf, dass du in sexueller Hinsicht das "Behindertenrecht" proklamierst, aber in allen anderen Lebensbereichen für die Behinderten Normalität einforderst.
Die Frage ist doch, inwieweit das , was zwischen Matthias und Daphne vorfällt, nicht nur das Ergebnis seiner Geilheit, sondern auch ihrer sexuellen Wünsche ist.

Liebe Grüße

Sam

Trixie

Beitragvon Trixie » 09.03.2008, 17:00

sethe, ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst.

vielleicht hast du kontakt zu allen down-syndrom menschen auf der welt, dass du so pauschal urteilen kannst und behaupten kannst, dass sie NICHT so sind? vielleicht willst du es nicht wahrhaben, dass es tatsächlich häufig vorkommt, dass es genau so ist, wie elsa es beschreibt? vielleicht müssen sich die leute einfach eingestehen, dass es so ist! dass menschen mit geistiger behinderung nun mal anders ticken als wir. das heißt nicht, dass man nicht genau den selben respekt haben sollte. das heißt aber auch nicht, dass man mal sagen kann "die sind anders, deshalb darf man keinen sex mit ihnen haben" und dann wieder "die sind nicht anders als wir auch".

inklusive mann verlassen-arien singen-klammernde mutter, finde ich die geschichte sehr wohl realitätsnah: ich kenne allein zwei fälle (!), bei denen die mutter über 40 war und der mann sie verlassen hat, bzw. angefangen hat zu trinken und die mädchen wohnen jetzt noch, beide um die dreißig mittlerweile, bei der über 70jährigen mutter. sie sind liebenswert manchmal und aggressiv hin und wieder. und sie haben beide sehr außergewöhnliche hobbies (teppiche knüpfen zb.).

ich behaupte auch nicht, dass alllle so sein müssen, aber du behauptest, dass das, was elsa schreibt, absolut nicht realitätsnah ist. willst du mir damit vorwerfen, ich hätte die beiden erfahrungen, die eindeutig realität sind, erfunden oder würde lügen?
entschuldige mal, aber das leben von behinderte menschen ist nun mal anders, komplizierter etc. und nur weil elsa in ihrer geschichte, anhand derer ich versuchte zu argumentieren, keinen mißbrauch beschreibt, heißt das nicht, dass es in der realität auch immer so ist. vielleicht war es falsch, ja. (aber wie oft werden männer frauen gegenüber grob und diese tun es ab als temperament oder sonst irgendwas? und die haben alle ihre sinne beisammen.) umgekehrt würde ich sogar aus deiner aussage schließen, dass behinderte menschen keinerlei sexualleben führen dürfen, denn sie wissen ja gar nicht, was sie da tun. das finde ich auch ein wenig anmaßend. einerseits normales leben führen sollen und andererseits es eh nicht tun können?

wenn du andere erfahrungen gemacht hast, dann kehre du doch auch nicht alles über einen kamm, denn wie gesagt: du kennst mit sicherheit nicht alle downies der welt um beurteilen zu können, was klischee ist und nicht. und ich bin mir sicher, dass elsa auch nicht einfach sich die geschichte ausgedacht hat, sondern vorher gründlich recherchiert hat, bevor sie anfing, diese geschichte zu schreiben.

schade, dass du genau das machst, was du anderen vorwirfst: pauschalisieren und ein falsches bild von menschen mit dieser krankheit erzeugen. denn im endeffekt geht es nicht darum, mit geschichten die welt zu verbessern oder klar zu stellen. jeder hat andere erfahrungen gemacht und gerade bei behinderten menschen, egal ob geistig oder körperlich, haben wir subjektive erfahrungen, weil jeder mensch anders ist und man nicht einfach sagen kann "die sind so" oder "die sind nicht so". elsa hat ja nie behauptet, dass alle menschen mit down-syndrom so sind. sie beschreibt nur einen fall, bei dem niemand von uns urteilen kann, ob der vollständig realistisch ist oder nicht. wir können nur sagen: das trifft auf alle down-syndrom-menschen nicht zu. aber es gibt sicherlich welche, bei denen das genau so ist.

gruß
trixie

Sam

Beitragvon Sam » 09.03.2008, 17:38

Hallo,

ich hoffe, wir können bei der Diskussion am Text bleiben, und die Situation so analysieren, wie Elsa sie dargestellt hat.

Irgendwie fühle ich mich bei dieser Diskussion unangenehm daran erinnert, dass Pädophile sich häufig damit rausreden wollen , dass es den Kindern Spaß gemacht habe ...

Inwieweit Daphne "Spaß" hatte, ist aus dem Text ja nicht zu ersehen. Offensichtlich war es ihr aber nicht "unangenehm".

Etwas anders ist mir aufgfallen:
Nachher fütterte er sie mit Schokoladekuchen, wischte ihr den Mund ab.

Ist dieses Füttern dann doch eine Art Wiedergutmachung? Ein Zeichen von Matthias schlechtem Gewissen? Anderseits greift sie in der Szene zuvor nach ihrer Selbstbefriedigung an der Stuhlkante nach einem Stück Torte. Vielleicht besteht für Daphne auch eine enge Verbindung zwischen sexueller Erregung und dem Genuß von Süßspeisen.

Ich sehe es wie Trixie. Das sind so kleine Details, die auf mich den Eindruck von recht genauer Recherche machen.

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 09.03.2008, 18:10

Ich habe nirgendwo geschrieben, daß Menschen mit einer geistigen Behinderung keinen Sex haben dürfen. Natürlich haben auch Menschen mit einer geistigen Behinderung Sex. Etliche unserer Wohnstättenbewohner haben Sex, etliche haben keinen, weil sie es schlicht nicht interessiert, und viel wissen garnicht was Sex ist. Viele sind nicht aufgeklärt, obwohl sie durchaus in der Lage sind, es zu verstehen. Und wenn dann jemand sowohl das eine (werden nie wissen was Sex ist, oder sie sind nicht aufgeklärt) ausnutzt für seine eigenen Bedürfnisse, ist das ein Mißbrauch.

Sex bei Menschen mit einer geistigen Behinderung ist noch immer ein Tabuthema. Das spürt man häufig an den Reaktionen der Eltern: Ich habe doch meine Tochter nicht in ein Heim gegeben, damit sie jetzt Sex mit einem anderen Bewohner hat, so eine empörte Mutter.
Aber noch ein größeres Tabuthema ist der sexuelle Mißbrauch von Menschen mit einer geistigen Behinderung.

Es heißt, soviel Normalität wie möglich, soviel Förderung wie notwendig.
Dies bedeutet für das von Dir Sam an angesprochene Normalitätsprinzip, daß Menschen mit einer geistigen Behinderung in den Bereichen so "normal" wie unsereins leben können, wo sie ihre Fähigkeiten haben, aber in den Bereichen, wo ihnen aufgrund ihrer geistigen Behinderung bestimmte Fähigkeiten fehlen, sie eben gefördert und auch beschützt werden.
Es kann doch wohl nicht sein, daß eine sexuelle Handlung als normal eingestuft wird, wenn der Sexualpartner (Partner setzt ja wohl eine gleiche Ebene voraus, gleichberechtigte Partner, wo ist das zwischen Matthias und Daphne gegeben?) garnicht aufgrund seiner Behinderung in der Lage ist, zu erkennen, was da vorsich geht. Hier gehört der Mensch mit einer geistigen Behinderung geschützt.

Sicher Sam, der Text beschönigt nichts. Eben das ist ja auch. Er zählt nur negative Erlebnisse auf, so daß in der Tat die Sache mit dem Singen so wirkt, als sei als Ausgleich für das ganze Negative gedacht.
In dem Text finde ich persönlich nichts von dem positiven, von den alltäglichen Fähigkeiten, die ein Mensch mit einer geistigen Behinderung haben kann. Die alltäglichen Fähigkeiten vom Brot schmieren, bis Zähneputzen bis hin zum Zählen, Uhr lesen können etc. Es wird nur eine besondere außergewöhnlichen Fähigkeit beschrieben. Selbst dort, wo sie auftauchen, die alltäglichen Fähigkeiten, ganz am Anfang bei dem Zählen, wird diese alltägliche Fähigkeit durch die Art de Darstellung irgendwie abgewertet.

Es gibt Menschen mit einer geistigen Behinderung, die machen es einen sehr schwer, sie zu mögen. In der Tat diese gibt es auch. Gerade diese Menschen sind es, die es vielen Menschen schwer macht, sich ihnen zu näheren. Und der Text von Elsa trägt nicht dazu bei, dies zu ändern. Das finde ich schade, weil ich mir denke, Elsa hat den Text nicht so einfach hingeschrieben. Ich kann es nicht an einzelnen Wörtern, an einzelnen Sätzen festmachen. Es ist der Gesamteindruck.
Was ich an dem Text von Elsa hauptsächlich kritisiere, ist der Umstand, daß diese Geschichte so erzählt wird, als ob dies so bei allen so ist. So kommt diese Geschichte rüber.
Es geht mir um die exemplarische Darstellung eines Menschen mit einer geistigen Behinderung, und die Geschichte ist so geschrieben, daß sie so wirkt, als ob alle so wären.

Die Beschreibung, Daphne geht mit 14 Jahren von der Schule ab, die Beschreibung der Werkstatttätigkeit (Lampenschirme flechten) mag vielleicht mal so vor 30 Jahren gewesen sein, aber so ist heute doch nicht mehr. Hier vermisse ich den zeitlichen Hinweis, zu welcher Zeit diese Geschichte spielt.
So entsteht der Eindruck, dies ist heute noch so. Dies ist aber heute nicht mehr so.

Ein anderes Leben zu führen bzw. hier führen zu müssen, weil halt ein geistige Behinderung vorliegt, heißt nicht automatisch, daß dieses Leben komplizierter, schwerer, belastender ist. Es ist halt nur anders.

Ich habe bei meiner Arbeit mittlerweile viele Lebensgeschichten gehört. Ich habe einen 60 jährigen Mann(ein Gentleman, anders kann ich ihn nicht beschreiben; Bruder eines Menschen mit einer geistigen Behinderung) vor mir sitzen gehabt, der anfing zu heulen, weil er seine Eltern nicht davon überzeugen konnte, seinen Bruder zumindest mal in der Werkstatt arbeiten zu lassen.
Ich habe über 70 jährige Eltern vor mir gehabt, die heute noch in Erinnerung der Demütigungen von vor über 50 Jahren anfingen in Tränen auszubrechen.
Keinem der von uns betreuten Menschen beginnend von 1 Monat bis zum 60 Lebensjahr kann ich in der Geschichte von Elsa wiederfinden. Nicht wie die Geschichte geschrieben ist.

Wenn ich daran denke, wie viel Kraft es den Menschen mit einer geistigen Behinderung gekostet hat und noch kostet, sich ihren Platz in unserer Gesellschaft zu schaffen, die Kraft, die es den Eltern gekostet hat, die Kraft, die es den Menschen gekostet hat, die mit geistige behinderten Menschen arbeiten, und lese dann die Geschichte von Elsa, mit ihrem Gesamteindruck, dann bekomme ich das Gefühl und den Eindruck, daß diese ganze Anstrengungen umsonst waren.

Trixie, Du schreibst, es geht nicht darum, mit Geschichten die Welt zu verbessern oder klar zu stellen.

Wenn ich als Autor über etwas bestimmtes schreibe, habe ich dann nicht auch die Verantwortung dafür, daß das was ich schreibe, auch der Realität entspricht? Oder zumindest die Basis der Sachdaten stimmt? Ich meine, habe ich nicht als Autor so etwas wie eine Verantwortung für das was, was mein Text bewirken kann? Kann ich mich als Autor damit zurückziehen, zu sagen, es entspricht nur meiner subjektiven Empfindung, meinen persönlichen Erlebnissen? Wenn dies so ist, sollte dies der Text dann nicht zum Ausdruck bringen, daß das Geschriebene auf persönlichen Erlebnissen beruht? Gerade dann, wenn es um Themen geht, die einen breiten gesellschaftlichen Bezug haben?
Dies macht der Text von Elsa ja garade nicht. Es gibt keinen Erzähler, der sagt, es sind meine persönlichen Erlebnisse. Es wird bei dem Text nicht klar, daß es persönliche Erlebnisse sind, persönliche Erfahrungen sind.
So habe ich bei dem Text den Eindruck, es ist eine Beschreibung mit objektiven Hintergrund. So ensteht der Eindruck, daß das was erzählt wird, für alle gilt.

Eine geistige Behinderung - das Down Syndrom- ist übrigens keine Krankheit.
Bei einer Krankheit besteht zumindest die Chance auf eine Heilung, und daß die Krankheit wieder verschwindet.
Bei einer geistigen Behinderung, beim Down-Syndrom ist dies aber nicht so.
Eine geistige Behinderung ist nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht heilbar.
Die geistige Behinderung bleibt ein ganzes Leben lang.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

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Beitragvon Sethe » 09.03.2008, 18:14

Sam hat geschrieben:
Etwas anders ist mir aufgfallen:
Nachher fütterte er sie mit Schokoladekuchen, wischte ihr den Mund ab.

Ist dieses Füttern dann doch eine Art Wiedergutmachung? Ein Zeichen von Matthias schlechtem Gewissen? Anderseits greift sie in der Szene zuvor nach ihrer Selbstbefriedigung an der Stuhlkante nach einem Stück Torte. Vielleicht besteht für Daphne auch eine enge Verbindung zwischen sexueller Erregung und dem Genuß von Süßspeisen.


Sam, genau diese Aussage bestärkt meine Meinung darin, daß es ein sexueller Mißbrauch ist.
Daphne verknüpft Schokolade mit Sex. Dies nutzt Matthias aus.
Der gesamte Kontext, weißt daraufhin, wie Daphne sitzt, wie er im Kinderstuhl sitzt, wie er ihr Schokolade gibt.

Wenn für Daphne eine enge Verbindung zwischen Schokolade und Sex gibt, ist dies doch mehr als nur Hinweis darauf, daß sie nicht in der Lage ist, zu erkennen, was Sex zwischen zwei Menschen bedeutet.
Sie verbindet Schoki mit Sex, sie verbindet Sex nicht mit dem lustvollen Zusammensein von zwei Menschen.
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Sam

Beitragvon Sam » 09.03.2008, 18:34

Hallo Sehte,

was du schreibst macht mich sehr nachdenklich. Offensichtlich hast du was das Thema angeht einen sehr reichen Erfahrungsschatz, der mir natürlich fehlt. Und das Thema Sexualität in Verbindung mit behinderten Mensch ist bestimmt sehr schwierig - deswegen habe ich es auch angesprochen, weil ich es von Elsa sehr mutig fande, diesen Aspekt in ihre Geschichte aufzunehmen (Schade für die, die es nicht gelesen haben!!).

Ich bin leider noch nicht dazu gekomme, zu Wolfgangs Geschichte etwas zu schreiben aber ich sehe hier einen großen Unterschied zwischen den beiden Geschichten. (Was hälst du eigentlich von seiner Geschichte? Ich finde deine Textbesprechungen durchweg hervorragend und fände es klasse, wenn du mit deinem Erfahrungshintergrund dazu etwas schreiben würdest).

Wiolfgang gelingt es eine "Normalisierung" zu schaffen, indem er das Erlebniss eines behinderten Jungen so schildert, dass sich jeder darin widerfinden kann, auf dem Wege vom Jungen (deppen) zum jungen Mann.
Elsa geht einen ganz anderen Weg. Und zwar den, des beschreibenden Realismus. Ihr Text ist ein Lebenslaufentwurf. Und in seiner Tristess und Eintönigkeit beeindruckend und beklemmend. Ein wenig erinnert mich der Text an den Film "Requiem", in dem es um eine schizophrene junge Frau geht. Auch hier werden nicht die vielfältigen Möglichkeiten thematisiert, die Menschen mit dieser Krankheit haben, sondern allein an einem Beispiel ein möglicher und tragischger Lebenslauf gezeigt. eine solche Darstellung ht insofern ihre Berechtigung, weil sie dem Beobachter klar macht, dass der Status Quo immer hinterfragt werden muss.

Was den zeitlichen Ablauf von Elsas Geschichte angeht, so müssen sich die meisten Ereignisse in den Jahren nach dem Krieg bis in die späten sechtiger Jahre abspielen. Da sind die beschriebenen Reaktionen bestimmt passend und auch das, was über die Werkstatt gesagt wird. ganz sicher bin ich mir da aber auch nicht.

Viele Grüße

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 09.03.2008, 18:51

Sam, genau diese Aussage bestärkt meine Meinung darin, daß es ein sexueller Mißbrauch ist.
Daphne verknüpft Schokolade mit Sex. Dies nutzt Matthias aus.
Der gesamte Kontext, weißt daraufhin, wie Daphne sitzt, wie er im Kinderstuhl sitzt, wie er ihr Schokolade gibt.

Wenn für Daphne eine enge Verbindung zwischen Schokolade und Sex gibt, ist dies doch mehr als nur Hinweis darauf, daß sie nicht in der Lage ist, zu erkennen, was Sex zwischen zwei Menschen bedeutet.
Sie verbindet Schoki mit Sex, sie verbindet Sex nicht mit dem lustvollen Zusammensein von zwei Menschen.

Wahrscheinlich kann man es noch weiter einengen und sagen, sie verknüpft den Orgasmus (bzw das Wohlgefühl der Stimulation ihrer Geschlechtsorgane) mit dem Geschmack von Süßspeisen. Mit Sex hat das nichts zu tun. Matthias dagen macht eine explizite sexuelle Erfahrung, wenn er sich vor ihr selbst befriedigt.

Definiert sich die Erfahrung als "sexuelle" durch das Bewusstsein der anderen Person, die anwesend ist? Bezeihungsweise wird die sexuelle Erfahrung überhaupt als solche wahrgenommen?

Um wieder zum Text zu kommen. Wie erklärt sich dann Daphnes scheinbar besondere Bezeihung zu Matthias. Stehen da diese sexuellen oder pseudosexuellen Erfahrungen völlig aussen vor? Immerhin schenkt sie ihm bei der Aufführung eine besonder Art von Aufmerksamkeit. Oder hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun?

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Beitragvon aram » 09.03.2008, 23:34

Pjotr hat geschrieben:Es ist reine literarische Neugier, wenn ich jetzt gerne lernen würde, warum Du auf den Begriff "energisch" so allergisch reagierst.


hallo pjotr, ins letzte kann ich das glaube nicht analysieren, aber ich versuche es.

davor heißt es "mit gerecktem hals", was bereits eine bestimmte körperspannung beschreibt. das schwenken der handtasche (rot) kommt hinzu. der hals wird gereckt, die tasche dabei geschwenkt. wenn ich das lese (nachvollziehe) ist das (körperbefindlichkeits-)bild hinsichtlich des beschriebenen vollständig.

"energisch" trägt nichts neues bei, beschreibt/zeigt auch nichts, sondern etikettiert bereits beschriebenes.

außerdem, was heißt 'energisch'? - es bezeichnet ja etwas 'inneres', und das kann alles mögliche sein; für mich ist das eine ziemlich undifferenzierte bezeichnungs-schablone, die gerne mal hergenommen wird um irgendwas über den protag auszudrücken - nur was, ist überhaupt nicht klar: irgend eine art von bestimmtheit, eine unbestimmte bestimmtheit - zumindest im zusammenhang mit dem, was hier damit charakterisiert wird: das schwenken einer handtasche. eher kann ich mir vorstellen, dass 'energisch' als bezeichnung einer heraus-bewegung dient, als einer pendelbewegung. ich kann mir nicht vorstellen, dass der erzähler das 'sieht' - was ich mir hingegen vorstellen kann: dass der arm mit relativ steifem ellbogen- und handgelenk aus der schulter heraus hin-und her bewegt wird, und die umkehrpunkte der bewegung eher abrupt 'angesteuert' werden - ich vermute, etwa so etwas soll beschrieben werden: dies als "energisch" zu bezeichnen, halte ich für - interpretation.
- falls jedoch etwas anderes beschrieben werden soll, kann ich es aus 'energisch' erst recht nicht ableiten.

dazu: der 'direkte einstieg' ist auf eine art geschrieben, die so oft bemüht wird - wirkt auf mich schon schematisch. zusammengenommen erwarte ich nach dem ersten satz kein feines lesevergnügen mehr.

- solche analyseversuche sind etwas problematisch, wollen sie doch getrennt 'herauskitzeln', was sich an einer bestimmten stelle des lesens (hier beim wort 'energisch') als spontaner gesamteindruck einstellte - ich hoffe, mein antwortversuch auf deine frage ist trotz dieser einschränkung nachvollziehbar.

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Beitragvon Pjotr » 10.03.2008, 08:04

aram hat geschrieben:ich hoffe, mein antwortversuch auf deine frage ist trotz dieser einschränkung nachvollziehbar.


Hallo Aram, nicht nachvollziehen kann ich diejenige Empfindung, dass die Kopfhaltung schon auf die Armbewegung schließen lässt; gut nachvollziehen kann ich aber den Wunsch nach einem genaueren Bild, "energisch" als Pendelbewegung war auch mir so ungenau, dass ich mein Lesen kurz unterbrechen musste, um zu raten.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 10.03.2008, 09:52

gelöscht.
Zuletzt geändert von Elsa am 10.03.2008, 10:44, insgesamt 1-mal geändert.
Schreiben ist atmen

Sam

Beitragvon Sam » 10.03.2008, 09:58

Danke!


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