Ich sehe sie jeden Tag

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
Sam

Beitragvon Sam » 01.03.2008, 06:31

Ich sehe sie jeden Tag

Ich sehe sie jeden Tag. Unter der Woche nehmen wir denselben Bus und am Wochenende begegne ich ihr auf dem Weg zum Bäcker, an der Mülltonne, oder ich kann von unserer Terrasse aus beobachten, wie sie die Fenster öffnet und das Bettzeug lüftet. Wenn sie mir auf der Straße entgegen kommt, grüßt sie mich nie. Sie schaut nicht mal auf. Ihr Blick ist starr auf den halben Meter Asphalt vor ihren Füssen gerichtet. Dabei macht sie ein so ernstes Gesicht, als brodele ein kaum zu ertragender Zorn hinter ihrem milchkaffeebraunen Mestizengesicht. Sie wirkt stolz in ihrem zügigen Gang; die Arme in ihrer Stofftasche verhakt, die dunklen Augen über den hohen Wangenknochen, die schwarzen Brauen, die beinnahe über der Nasenwurzel zusammenstoßen, das fliehende Kinn, darüber volle Lippen, blaugrau schimmernde schwarze Kissen, mit scharfen Konturen, wie durch einen Strich gerahmt. Wildgelockten Haare, die bis unter ihre Schulterblätter reichen. Eine erotische Ausstrahlung von nahezu religiöser Strenge. Keine Spur von Werbeexotik und Copa Cabana. Der Anblick macht mich wahnsinnig.

Wenn sie vor mir geht und mich hinter sich bemerkt, beschleunigt sie ihren Schritt. Geht sie hinter mir, lässt sie sich Zeit, sodass ich das Geräusch ihrer Schritte bald aus den Ohren verliere.

Als ich sie das erste Mal sah, zwei Tage nachdem wir in die Straße gezogen waren, dachte ich mir, dass sie aus Brasilien sein müsste. Kurz darauf sprach ich mit ihrem Mann, einem kleinen grauhaarigen Sachsen, der nach der Wende hierher gezogen war und irgendetwas Technisches beim Rundfunk macht. Seine Frau sei aus Paulo Alfonso, sagte er, am Sao Francisco im Norden Brasiliens, und ausführlich erzählte er mir von seinen Reisen dorthin. Diese Offenheit machte ihn sympathisch und ich hörte ihm lange zu, verschwieg allerdings, dass ich selbst einige Zeit ganz in der Nähe von dem Heimatort seiner Frau gelebt hatte, in Gloria, zwanzig Kilometer nordwestlich von Paulo Alfonso, nahe dem Staudamm von Petrolandia. Ich genoss es, eine Gemeinsamkeit mit seiner Frau zu haben, eine Gemeinsamkeit, von der weder er noch sie irgendeine Ahnung hatte.

Anfangs fragte ich mich, ob sie sich hier in Deutschland wohl fühlte. Niemals sah ich sie lächeln oder mit anderen Nachbarn reden. An der Bushaltestelle schaute sie nur wie versteinert auf den Boden, ihre Tasche oder einen Aktenordner umklammernd. Mehrmals suchte ich ihren Blick, und wenn ich ihn wirklich einmal für einen Moment einfing, dann folgte keinerlei Reaktion ihrerseits, kein Blinzeln, kein leichtes Zucken eines Mundwinkels, nur der durch und durch humorlose Gesichtsausdruck und ernste Schein ihrer bewegungslosen Augen. Zu gerne hätte ich etwas in Portugiesisch gesagt, ihr irgendeinen Hinweis gegeben, dass ich ihr näher war als sie dachte.

Ich weiß nicht wie sie heißt. Ich nenne sie Vería, wie jene Vería, die am Sao Francisco über mir war und ich über ihr, die mir ihre Zunge so weit ins Ohr schraubte, dass mir schwindelig wurde.

Wenn ich sie sehe, ziehe ich sie in Gedanken aus und dann ist sie wie Vería, mit ihrem runden Fleisch an den Oberschenkeln, den hervortretenden Hüftknochen, die eine üppig wuchernde Scham flankieren. Die Haut zwischen ihren Brüsten ist etwas dunkler und ein weicher Flaum bedeckt ihren flachen Bauch wie feines Gras. Die beiden Vertiefungen an ihrem Steißbein haben die Größe meiner Fingerkuppen. Nackt steht sie vor mir, doch ihr Blick bleibt ernst, als wäre ihre Nacktheit ungewollt. Erst meine Berührung lässt die Starre in ihrem Gesicht zerfließen, verscheucht ihre Bewegungslosigkeit, lässt sie die Augen schließen und ihre Hände tasten, bis sie vor mir auf die Knie sinkt.

Ich hoffe sie ist unglücklich. Ich hoffe sie ist einsam. Eingesperrte Leidenschaften, unterdrückte Sehnsüchte wünsch ich mir in ihr, Hunger und Verzweiflung. Ihr Mann ist brav und harmlos. Längst schon hat er alle Karten auf den Tisch gelegt, ist entdeckt und erforscht, verbirgt nichts mehr, verwaltet nur noch. Nimmt sie ohne Gier, bedauert die Kürze seiner Lust mit wortlosem Gestreichel.

Vería kam als es nichts für mich zu tun gab, außer zuzuschauen wie der Schweiß in Bahnen Brusthaare an die Haut klebt und sich im Nabel sammelt wie das Wasser im Staudamm. Der einzige Mensch in einem Ort von Zehntausend, der genügend Geld hat. Einer, der sich vom Wohltätigkeitssinn reicher Europäer und Amerikaner ernährt, der beraten soll, wo es wenig zu beraten gibt und so, oft morgens schon im Rausch, dem Tag entgegendämmert, in der Hängematte hinterm Haus.

Meine Frau schon seit zwei Wochen in Deutschland um ihre Familie zu besuchen und ich satt und genervt von den schlechten Kopien amerikanischer Pornos, traf Vería am Markt und sagte was und sie sagte was, und in der verdammten Schwüle dieses Ortes gab es nichts, was einem besser vorkam, als den Schweiß von dunkler Haut zu lecken, den schweren Geruch reifer Papaya einzuatmen, durchzogen von feinen Spiralen eines fauligen Aromas, wie der Schlamm am Flussufer. Sich hineinsaugen lassen in den feuchten Strudel, auf der Zunge der Geschmack, den dieses Land in einem Körper hinterlässt.

Vería blieb drei Tage, dann hatte sie genug von mir. Später lernte meine Frau sie kennen, auf irgendeinem Fest am Ort. Bald schon trafen sie sich ein paar Mal die Woche und als ich für einen Monat in die USA flog, wohnte Vería in unserem Haus. Wir verließen Gloria ein halbes Jahr später. Die beiden Frauen verabschiedeten sich herzlich. Mir hauchte Vería einen Kuss auf die Wange und ich fand, sie roch plötzlich anders.

Meine Frau und ich führen eine Ehe, wie sie, glaube ich, irgendwie alle führen. Wir sind uns genauso oft nah, wie wir meilenweit voneinander entfernt sind. Es scheint etwas Lebendiges in dieser Beziehung zu sein, etwas, das ein- und ausatmet, uns zueinander zieht und dann wieder auseinander treibt.

Ich sehe die Nachbarin und denk an sie, wenn ich mit meiner Frau schlafe. Denk an sie, als wäre sie Vería und kann dem Fleisch unter mir überhaupt nichts abgewinnen, brauche die Vorstellung von Verías starkem Echo auf meine Gier, um überhaupt zu kommen.

An einem Morgen, die Kaffeetasse am Mund während meine Frau in der Zeitung blättert, frage ich sie, ob sie denn schon mal die Nachbarin gesehen hätte, die dunkle, die aussieht wie eine Brasilianerin. Meine Frau schaut mich an, mit diesem Blick, der überhaupt nichts mit mir zu tun haben scheint, obwohl er mir gilt, den ich hasse, weil er mich so unwichtig erscheinen lässt. Sie schaut mich an und sagt:
„Ich sehe sie jeden Tag“

Yorick

Beitragvon Yorick » 21.07.2008, 18:08

Hallo Maija,

ein Kommentar, der das Zeug zu einem Text hat!

Ist das wahr? Du nimmst mich aufn grünen, oder?

Nicole

Beitragvon Nicole » 21.07.2008, 18:14

Hi Yorick,

verzeih, wenn ich mich einmische, aber...was bedeutet "Du nimmst mich aufn grünen?" Soviel wie "Du nimmst mich auf den Arm"?!?!

Nicole

Yorick

Beitragvon Yorick » 21.07.2008, 18:28

Hallo Nicole.

Ja. Mir fiel diese Redewendung gerade wieder ein (auf das schlichte "Arm" bin ich gar nicht gekommen), mein Vater (der auch Worte wie "Nietenhose" oder "Eisschrank" benutzt), hat das immer gesagt.

Keine Ahnung, woher das kommt, ob es groß oder klein geschrieben wird.

Yorick.

Maija

Beitragvon Maija » 22.07.2008, 09:40

Hallo Yorik,

Das ist wahr! :d040: ;-) Ja es gibt so viel Zeug um einen Text zu schreiben. Zur Zeit brummt mir aber der Schädel vom vielen lesen.
Vielleicht schreibe ich darüber einmal wenn ich ein Glas Wein getrunken habe, ganz spontan. :mrgreen:

Gruß, Maija

Nicole

Beitragvon Nicole » 22.07.2008, 10:15

Hallo Maija,
Ehrlich? Am Anfang meiner Ehe habe ich oft nach einem verflossenem gerufen.
Dies hat meinem Mann sicherlich gestört. Da ich aber weiß, das jeder Mann immer an eine andere Frau denkt, spreche ich dieses Thema nicht an.
Immerhin bin ich 21 Jahre glücklich verheiratet...


Ich beiß mit schon seit gestern auf die Zunge, wegen dieser Aussage. Jetzt kann ich mir einen Kommentar, völlig Off Topic doch nicht mehr verkneifen. :-)
Wenn es wirklich so wäre, daß JEDER Mann IMMER an eine andere Frau denken würde, würde ich sofort absolute und umfassende Abstinenz schwören (irgendwie muß ich bei dem Gedanken gerade schmunzeln...).
Ich muß Kontra geben: Ich bin mir SICHER, daß ich es schon sehr häufig erlebt habe, daß der Mann, unter, über, neben mir (oder where ever), absolut und 100% in Gedanken bei mir war... (Was nicht ausschließt´, daß das ganz persönliche Kopfkino eines Beteiligten manchmal anderweitig "Schwung" geholt hat. Allerdings würde ich hier aus Erfahrung sagen (meine Erfahrung, die nicht zu verallgemeiner ist, bitte), dann stimmt da etwas ganz gewaltig nicht!)

Gruß, Nicole

Maija

Beitragvon Maija » 22.07.2008, 10:37

dann stimmt da etwas ganz gewaltig nicht!


Habe ich mal gelesen, liebe Nicole in einer Fachzeitschrift! ;-) Ich stimme dir zu, das die meisten Männer 100% bei ihrer Partnerin sind, aber ihr Kopfkino können sie nicht 100% abschalten und sicherlich wir Frauen auch nicht.
Die Hauptsache ist doch, das beide auf ihre Kosten kommen, so oder so. :pfeifen:
Das Kopfkino bei Männlein und Weiblein ist doch extrem interessant, oder?

Nicole

Beitragvon Nicole » 22.07.2008, 10:42

Hi Maija,

Kopfkino abschalten? Iiih, bewahre!! Es ist ja nur wichtig, daß der Partner Akteur in diesem Kino ist, oder?!?

Nicole

Maija

Beitragvon Maija » 22.07.2008, 10:50

Akteur


Na umgekehrt ebenso! Die Partnerin als Akteurin ;-)


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