im taxi

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
Klara
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Beitragvon Klara » 18.12.2007, 09:17

im taxi

kleine zwerge hängen vom rückspiegel lächeln ihre plastikmünder sind rot mit kleinen abgebrochenen stellen sie klebt ihren blick daran. hört die kratzige stimme des dauerrauchers wo soll's n hinjehn er klopft mit den händen aufs steuer könn' ja nich ewich hier stehn bleim aber wenn es nach ihr ginge könnten sie das und sein dreckiges berlinerisch kann er sich in sein dreckiges maul zurückstecken diese zwerge machen sie fertig mit ihrem lächeln mit ihrem lächeln.
potsdam schloss sanssouci hab dort etwas zu erledigen es ist ein befehl mitten in der nacht fragt er nicht ob die frau im fond einen an der waffel hat fährt schweigend eine lohnende fahrt sie sieht nicht aus als ob sie kein geld hätte, nur kein händchen, und das geht ihn nichts an.
die giftzwerge lächeln die lichter der autobahn belästigen ihre augen darf ich einen haben wat meinst’n so einen giftzwerg sie zeigt auf die dinger. sind doch keene giftzwerge er grummelt gegen ihre sorgfältige diktion grabbelt mit dicken gelben fingern einen vom spiegel und reicht ihn nach hinten wo sie die schadhaften plastiklippen küsst und dann das männeken in ihren ausschnitt schiebt der sehr viel haut zeigt ihre dürre faltige braune brust erregt ihn wider willen und er ertappt sich dabei wie er nun doch gerne wüsste was sie sich eigentlich dabei denkt.
am ende gibt sie ihm keinen cent trinkgeld und er ärgert sich nun wird einer seiner zwerge an ihrer haut liegen für werweißwielange nur einer. außerhalb seiner kontrolle.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 18.12.2007, 10:50

Kommafrei. Hier funktioniert der Satzzeichenboykott blendend und unterstützt die originelle Art der Erzählfahrt zusätzlich.

Der letzte Satz bildet die Spitze und ist zugleich die überraschende Wende eines exponentiell aufgebäumten Spannungsbogens: die Machtfrage. Wer hat was im Griff? Wer bringt wen wohin? Passend dazu die freche grobe Sprache und das Taxiuniversum. Brilliant.

Für mich passt in diesem Text alles, bis auf einen kleinen kosmetischen Fehler (die Zwerge im Plural mit ihren ...).


Edit: Ziehe meinen letzten Satz zurück. Das Plural ist natürlich korrekt. Was ist bloß los mit mir? Ich leide seit gestern unter Pluralitis.
Zuletzt geändert von Pjotr am 20.12.2007, 00:49, insgesamt 1-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 20.12.2007, 00:24

Ein Text "ohne Perspektive"

Das gelungene an diesem Text finde ich die Ausgestaltung der Erzählperspektive, die nicht klar definiert ist zwischen auktorialem und personal bzw. subjektiven Erzählen, an den richtigen Stellen wissen die Worte alles und an den richtigen wissen sie nichts - und außer den Worten ist da auch keiner, der was zu behaupten hätte (außer den Zwergen vielleicht, aber die sprechen ja nur durch jemand anderen oder hängen nur irgendwo dran). Darum stimme ich Pjotr zu, dass dieser Text "ohne Punkt und Komma" genau richtig gesetzt ist.
Für mich treffen da zwei Gestalten aufeinander (Taxifahrer und Frau), die völlig verschieden sind, aber doch aufeinander reagieren (sie bilden dabei allerdings keine dramatische Ausnahme, keine notwendige, geheimnisvolle Konstellation, die es so nur einmal gibt, sondern sie sind es nun mal in dieser nächtlichen Taxifahrtschnittstelle, die sich gegenseitig nicht entrinnen können. Wobei das Entrinnen kein Übermäßiges ist, es entsteht kein Strudel, weshalb die Fahrt von beiden auch nicht als Aufregung, sondern eher als Ärgernis wahrgenommen wird. Dass die beiden in etwa gleich irrwitzig und verloren sind kommt dramatisch gar nicht an die Oberfläche, wird nur in Form des Ärgers (in den sogar die Erregung des Taxifahrers gehört). Die Nacht, das Taxi bildet immer eine Schnittstelle, an der etwas passiert und nur in dem, was passiert, entscheidet sich, wer wen wohin bringt durch die Begegnung. So auch hier: Zunächst scheint die Frau, wenn auch vom Taxifahrer scheinbar nicht weiter hinterfragt, die Fragwürdige, was sie da so macht mitten in der Nacht mit ihrem Satz "potsdam schloss sanssouci hab dort etwas zu erledigen", gleichzeitig würdigt sie "deshalb" die Art des taxisfahrers als derb-primitiv ab. Durch den Absatz angekündigt wendet sich aber dann das (Schreib-)blatt (und die Perspektive in der Tendenz zum Taxifahrer): auf einmal ist er, der nicht anders kann, dessen Ziel nicht erreicht wird oder fragwürdig wird, denn er gibt seinen Einsatz (ohne möglichen Widerstand!) , aber er wird nicht eingelöst. Man sollte nicht überbewerten, dass der Mann am Schluss den Satz mit den Zwergen spricht - meiner Meinung nach weiß sich keiner der beiden überlegen, nur die Kippe ist wichtig (auch wenn die Frau nicht unklug ist, nach einem der Zwerge zu fragen, um die Angst vor ihnen so zu bannen, so ist das doch immer ihre Art mit solchen Situationen umzugehen, die Art von jemanden, wie er immer mit etwas umgeht, ist aber leider nie die Befreiung. Darum ist für mich die Frau nicht befreiter als der Mann, auch wenn es auf niederer >Ebene so scheint. "Seltsam wie die Zwerge", dass beide Figuren durch die Worte und die Wenden etwas "Diabolisches" für jeweils den anderen haben, obwohl alles zugleich absolut-großstadt-alltäglich anmutet (in einer Flut von Nachtmenschen).

Mir scheint: der machtlose scheint der zu sein, der beobachtet; und das ist einzig vielleicht der Leser (denn einen Über-Erzähler gibt es hier nicht), die beiden Figuren jedenfalls sind beide Beobachter.

Wie eine Sequenz aus "Night on Earth", nur autistischer - oder sagen wir deutscher?

Das hat mir gut gefallen; leider musste ich zu früh mit der Interpretation Schluss machen - da geht noch viel mehr!

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 20.12.2007, 01:10

"Night on Earth"!

Mein Lieblingsfilm, Lisa!

Volltreffer. Würde als weitere Episode im Film bestens passen, meine ich. Aber nicht als autistische oder deutsche Facette, sondern als Divaeske. Zwischen Hausfrau und Marlene Dietrich.


Cheers

Pjotr

Sam

Beitragvon Sam » 21.12.2007, 08:51

Kammerspiel mit Giftzwergen


Taxifahren hat sowohl in der modernen Literatur, vor allem aber im Film ein festen Platz. Das mag daran liegen, dass es genauso zum Leben gehört, wie Fernsehen oder Urlaubsreisen. Wahrscheinlich steckt aber viel mehr dahinter. Gerade im Film ist die Wahl des Fortbewegungsmittels immer symbolträchtig. Sitzt der Prot. im Bus oder der U-Bahn, dann denkt er nach. Entschlüsse reifen heran, die in den folgen Seiten oder Szenen in die Tat umgesetzt werden, oder auch nicht. Interessanterweise lässt kein Autor oder Regisseur jemanden in ein Taxi steigen, damit er dort nachdenkt. Nein, das Taxi wird umfunktioniert als Bühne für ein Kammerspiel. In diesem Rahmen kann man Konflikte hervorbrechen lassen, weil das Taxi, ist es am Fahren, ein Ausweichen oder Flüchten unmöglich macht. Symbolisch gesehen, markiert das Taxi den Ort, an den man sich seinen Ängsten und Konflikten zu stellen hat. Nicht selten wirkt der Taxifahrer als Katalysator. Völlig konträr zum Prot. angelegt, provoziert er Reaktionen und schlüpft in die verschiedensten Rollen, sei als Beichtvater, Ratgeber, Richter. Und manchmal beeinflusst er den Fortlauf der ganzen Geschichte.
Was macht aber das Taxi in dieser Hinsicht so reizvoll? Warum kann sich jeder, der Geschichten erzählen will, dieser Konstellation so gut bedienen, vor allem, wenn entscheidende Wendungen symbolisiert werden sollen?
Es kann daran liegen, dass sich beim Taxifahren zwei Menschen auf unterschiedlichen Ebenen begegnen und diese dann während der Fahrt nicht selten vertauscht werden. Der Gast kommt zunächst von oben, er sagt wo es hingeht. Der Taxifahrer reagiert von unten, und fährt dorthin, wo der Gast es möchte. Auf der anderen Seite befindet sich der Gast während der Fahrt in der „Intimsphäre“ des Fahrers (symbolisiert durch verschiedene persönliche Dinge des Fahrers, seien es Aufkleber, Figuren, Fotos oder eben Zwerge). Zudem liegt die Sicherheit des Gastes in den Händen des Fahrers. Je länger die Fahrt dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Verhältnisse umkehren und der Fahrer plötzlich „oben“ ist und der Gast „unten“.

Klara dreht nun diese (natürlich rein theoretische) Konstellation um. Hier ist zunächst der Fahrer in der oberen Position, während die Frau unentschlossen auf der Rückbank sitzt und keine Anweisungen zu geben vermag. Vielmehr fühlt sie sich von der persönlichen Atmosphäre in dem Taxi bedroht (dargestellt durch die Zwerge, die für sie Giftzwerge sind.) Und dann macht sie das, was man in solchen Situationen am sinnvollsten erscheint: sie nimmt das Heft selber in die Hand. Nennt einen Zielort (dass sie auch noch erklärt warum, ist einer der wenigen Schwachpunkte in dem Text) und sie erbittet sich noch einen der Giftzwerge, steckt ihn sich zwischen die Brüste. Also auch hier eine Umkehrung auf wirklich hervorragende Weise symbolisiert. Was anfänglich abschreckend wirkte (die Zwerge auf die Frau), wird nun zu etwas, dass den Fahrer sogar erregt. Sein Mittel zur Kontrolle seines persönlichen Einflussbereiches (das Taxi) wird nun von jemand anderem benutzt, um ihn zu kontrollieren bzw. zu beeinflussen.
Natürlich ist die Erregung des Taxifahrers nur von kurzer Dauer. Was darauf folgt, ist Ärger und die übliche Verbitterung. Und die Erkenntnis, dass man die Kontrolle nie verlieren darf.
Die Frau aber wird anders aus dem Taxi gestiegen sein, wie sie dort einstieg. Vielleicht wird sie zu der Erkenntnis gekommen sein, dass man die Nase von Giftzwergen einfach mal in den eigenen Ausschnitt drücken muss, um die Kontrolle zurückzugewinnen.

Ein wunderbarer kleiner Text, fein herausgearbeitet und von selten zu lesender psychologischer Tiefe.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 21.12.2007, 10:57

"Nennt einen Zielort (dass sie auch noch erklärt warum, ist einer der wenigen Schwachpunkte in dem Text) ..." (Sam)

Gerade diese Erklärung halte ich für einen wichtigen Punkt, der zur besagten psychologischen Tiefe beiträgt. Jemand, der im Schloss Sanssouci wirklich zu tun hätte, besäße Prestige genug, darüber zu schweigen.


Salut

Pjotr

Sam

Beitragvon Sam » 21.12.2007, 11:12

"Nennt einen Zielort (dass sie auch noch erklärt warum, ist einer der wenigen Schwachpunkte in dem Text) ..." (Sam)

Gerade diese Erklärung halte ich für einen wichtigen Punkt, der zur besagten psychologischen Tiefe beiträgt. Jemand, der im Schloss Sanssouci wirklich zu tun hätte, besäße Prestige genug, darüber zu schweigen.


Du hast Recht. Aber da steht dieses kleine Wort Befehl. Einen Befehl erklärt man nicht. Also entweder das eine oder andere. Aber zugegeben, das ist ein wenig Haarspalterei. Gut ist der Text so oder so.

Liebe Grüße

Sam


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