Meine WM II: Entspannt

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
Klara
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Beitragvon Klara » 29.06.2010, 14:50

Meine WM II: Entspannt

Mittags, an der Ampel (auf dem Fahrrad). Hinter mir brüllt jemand: „Ich zieh so an deinem BH, dass er abplatzt!“ Fühle mich nicht angesprochen (trage so gut wie nie Büstenhalter), registriere jedoch den durchaus kreativ zu nennenden Umgang mit den Worten „platzen“ und „BH“: Der soll nicht etwa reißen – sondern platzen!

Als das Auto an mir vorbeifährt, sehe ich: Es ist eine Deutschlandfahne auf vier Rädern, dürftige Ersatzbekleidung für die nackten Oberkörper der vier jungen Männer darin. Der PlatzHirsch streckt mir die muskulösen Arme entgegen, schreit weiter und macht ein wildes Gesicht dabei, als würde er mir sein überschüssiges Testosteron sofort injizieren, bis ich platze!, wenn… – na, wenn Deutschland schon Weltmeister wäre, zum Beispiel. Seine Gebärde verrutscht ihm jedoch ein wenig , weil er mir nun ins – zugegeben wenig entspannte – Gesicht sieht: So jung und knackig ist die von vorne ja gar nicht, diese Tante auf dem Fahrrad... Die ihm jetzt den linken Mittelfinger zeigt –

Neben ihm hebt ein anderer seine Flasche, denn Bier muss. Dieses Getränkt, möglichst demonstrativ zu sich genommen, gehört zum enstpannten Verhältnis der Deutschen zu sich selbst ebenso wie zur deutsch-fremdelden Diskussion jener vom Aussterben bedrohten Spezies der patriotischen Skeptiker.

Denn Entspannung muss mittlerweile auch, seit wir Weltmeister der Herzen sind. Wer bei wichtigen Länderspielen nicht mit dicken Backen in schwarz-rot-gold rumläuft, gilt als verkrampft. Spaßbremse. Out. Überall puschelt, wuschelt und nuschelt es in den Landesfarben. Patriotisch sein gehört zum guten Ton.

Schade, dass jener junge deutsch-und-bier-selige Beifahrer von Benehmen noch wenig bis nichts gehört hat. Immerhin steht er gewissermaßen als Angstgegner für unsere deutsche Zukunft: in der man ganz entspannt aggressiv sein darf. Und bei jeder Gelegenheit in aller Öffentlichkeit schwarz-rot-gold in die Ecken zu schiffen hat. Prost.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 04.07.2010, 16:52

Die "Spezies der patriotischen Skeptiker" ist nicht vom Aussterben bedroht, liebe Klara, aber ich muss zugeben, dass es auch mich mitgerissen hat, wie dieser "Strafraum-Anarchist" (SZ) Thomas Müller in der dritten Minute den Ball ins Tor köpfte ... Dabei konnte ich das nur in einem dank ländlichem dsl immer wieder stoppenden Lifestream beobachten, doch die alle 20 sek eintretenden V-Effekte haben es mich noch mehr genießen lassen, vor allem das förmlich geometrische Stellungsspiel der Schweini-Truppe. Interessant auch Ballacks herunterfallender Kiefer, als er feststellen musste, dass die das auch ohne ihn schafften! Ich glaube, der wieselige Thomas Müller ist eine Identifikationsfigur für viele junge Leute, ich mag ihn ihnen sehr gönnen!
Die Römer malten sich auch die Farben ihrer Favoriten bei den Rennställen (z.B. albata, russata) auf den Leib, das hat mit Patriotismus wenig, mit Lust an Spiel und Wette und Identitätssuche viel zu tun.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Klara
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Beitragvon Klara » 04.07.2010, 19:34

ohja, ich finde das auch ziemlich spannend - und tolles Teamspiel, gestern :)


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