Der Nebelmann

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
derSibirier

Beitragvon derSibirier » 13.03.2010, 07:51

Manchmal sprachen die Leute von ihm. Von dem Mann, der wie ein Geist im Hafen gelebt haben soll. Sie nannten ihn den Nebelmann.

Er sei nicht daran zerbrochen, weil ihm etwas genommen worden wäre, sagten sie, denn er habe nie etwas besessen, nur sein Leben und eine dreckige Hose und ein paar Träume, die ihm die Menschen und die Ratten nicht hätten wegnehmen können. Er habe im Park unter der Brücke geschlafen, und wenn es regnete hinter den Containern in einer leeren Blechhalle der Konservenfabrik.

Zu seinem Boot sei er durch einen glücklichen Zufall gekommen. Bernadette, die anlehnungsbedürftige Händchen gehalten haben solle, habe stundenweise als Buchhalterin beim Hafenmeister im Erdgeschoss gearbeitet. Er solle sie das erste Mal an einem Augusttag, an dem die Segelboote besten Wind hatten, gesehen haben. Er habe gerade unter dem Löwen von Lindau auf vergammelten Zeitungen geschlafen, als ihre Lippen ihn wachgeküsst hätten.

Wispernd fragte sie: „Möchtest du ein Zuhause, wo du dich wohlfühlst?“

Bernadette nahm ihn bei der Hand und sie gingen auf dem Steg zu einem Segelboot. Das mittelgroße Schiff war irgendwann mal über den See gefahren, es musste lange her sein. Der Anstrich war abgebröckelt und der Mast ragte wie eine krumme Fahnenstange empor. Am Rumpf war verwittert „Nebelkrähe“ und die Jahreszahl „1952“ zu lesen.
Sie betraten das Boot und die alten Bretter stöhnten, als wären sie Fischgräten mit erbärmlichen Schmerzen, oder als hätten sie die Schwindsucht mit bösem Fieber. Bernadette fragte ihn nach Geld und Angehörigen. Er schüttelte den Kopf und sagte, dass er so etwas nie besessen habe, oder sich nicht erinnern könne, und dass sie einen süßen Mund habe und er sie gerne küssen würde. Bernadette fragte ihn nicht weiter und hielt ihm ihre schwulstigen Lippen entgegen, und dann küsste er sie, und dann noch einmal. Ihre Lippen waren weich und er saugte daran, als wäre er ein Fisch, der zu atmen versuchte, aber keine Lungen hatte und dessen Kiemen voller Sand steckten.
Sie führte ihn kichernd unter Deck. Die Kajüte war klein und dreckig, die Luft reizte seine Schleimhäute. Es stank nach Öl und das Bullauge war ein ödes Loch mit blinder Scheibe. Die Pritsche mit einem sauberen Laken überzogen und Bernadette fett und nackt. Sie war das Obdach seiner Begierde.
Bernadette kam fast jeden Abend auf das Boot. Ihre kalten Hände und der Zigarettenatem waren die einzigen in diesem schwülen Sommer, die nicht schwitzten. Bevor die Sonne aufging, war sie wieder verschwunden, so wie der Dunst über dem trüben Wasser des Hafens. Tagsüber döste er vor sich hin. Die Boote in der Nachbarschaft fuhren morgens raus und die Freizeitkapitäne legten ihm gegenüber eine schmierige Freundlichkeit an Tag, die seinen Magen rebellieren ließ.
Auf den Booten, die in seiner unmittelbarer Nähe vertäut lagen, tummelten sich die Reichen, und ihre krebsroten Weiber kreischten mit den blassen Gören. Am liebsten mochte er den Fischer, der vor Tagesanbruch ablegte und nie vergaß, vorher noch über die Reling in den See zu pinkeln. Wochenlang ging er nicht von Bord, versteckte sich vor Lindau und seinen Gesichtern. Abweisend und fremd war ihm alles geworden. Die Möwen ruhten souverän auf dem Mast und zeichneten das Boot. Der Fischer blieb manchmal stehen und gab ihm etwas von seinem Fang ab. Sie sprachen kein Wort, es war nicht nötig. Die Kinder luden in abends zum Spielen ein und er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben beachtet und willkommen.
Zu späterer Stunde brachte ihm Bernadette ihren dicken Körper und ließ sich nehmen, als wäre sie ein Trüffel, der zum letzten Mal seine Sporen verteilte. Er liebte sie bis in die frühen Morgenstunden und seine Samenstränge spuckten aus, was er vom Leben bisher bekommen hatte – ein paar Kohlehydrate und ein bisschen warmen Wind. Dann träumte er von toten Hunden, von schwarzen Pferden auf der Schlachtbank und er war glücklich dabei. Selbst Auswürfe des Lebens erschienen ihm in den alkoholgeschwängerten Fantastereien seiner Träume wunderschön.
Dieser Lindauer Sommer war sein Sommer.
Dann war der Sommer vorbei und der Hafenmeister sagte, dass er verschwinden solle. Er sah ihn erst dämlich an und überlegte, ob er den Meister in die See werfen solle, meinte dann aber, dass es ihm nichts ausmache, wegzugehen.
Am nächsten Morgen hing er am Mast und ein paar Leute blickten wohlwollend zu ihm hoch. Eine Silbermöwe ruhte auf seiner Schulter und spielte mit seinem Haar und einem seiner Augen. Bernadette saß wie ein trauriges Walross darunter und weinte. Der Fischer streichelte ihr Haar und schwieg wie damals, als der Nebelmann noch lebte und etwas später dann, da küsste er sie.

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Beitragvon Mnemosyne » 13.03.2010, 16:11

Hallo Sibirier,
das gefällt mir insgesamt recht gut. Eine gewisse Lässigkeit in der Wortwahl harmoniert hier gut mit dieser für Häfen typischen Atmosphäre, alles ist auf eine fast romantische Weise roh, dreckig, verschmiert, körperlich. Dieser scheinbare Widerspruch wird hier in der Schilderung einer "Hafenliebe" eingefangen.

Einige Kleinigkeiten, die mir aufgefallen sind:

"Kohlehydrate" -> KohleNhydrate
(Ansonsten finde ich das Bild an dieser Stelle - oder besser die Analogie - ziemlich stark.)

"die Luft reizte seine Schleimhäute"
Das ist mir in diesem Kontext zu medizinisch, zu technisch. Irgendwie passt der Ausdruck "Schleimhäute" für mich nicht in die Hafenstimmung. Das klingt eher nach der reflektierten Selbstwahrnehmung eines Bildungsbürgers als nach der Wirkung dreckiger Luft auf einen Obdachlosen. Könnte man hier nicht etwas finden, was seiner Erlebnisweise näher käme? (Notfalls muß er husten. :-) )

"alkoholgeschwängerten Fantastereien seiner Träume"
Hier bin ich mir nicht sicher, ob die "Fantastereien" nicht schon in den "Träumen" enthalten sind. Wenn nicht: Wäre "alkoholgeschwängerte Traumphantasien" evtl. eine bündigere Alternative?

"anlehnungsbedürftige Händchen"
kam mir als pars pro toto erst etwas schräg vor, nach erneutem Lesen mag ich es aber.

"Die Pritsche mit einem sauberen Laken überzogen und Bernadette fett und nackt."
Dieser Satz kein Verb. Ist das Absicht, um ein wiederholtes "war" zu vermeiden? Im Prinzip paßt so eine Verknappung natürlich zur Wortwahl, die man im geschilderten Milieu erwarten würde, aber wenn es so gemeint ist, sollte das auch an anderen Stellen vorkommen, um überzeugend zu wirken.

"Sie war das Obdach seiner Begierde."
Bernadette oder die Pritsche?

"Ihre kalten Hände und der Zigarettenatem waren die einzigen in diesem schwülen Sommer, die nicht schwitzten."
Was es bedeuten soll, dass ein Atem nicht schwitzt, ist mir unklar.

"ihre krebsroten Weiber kreischten mit den blassen Gören"
Ist gemeint, dass sie mit ihnen in kreischendem Ton *schimpfen*? Hier denke ich zuerst an ein gemeinschaftliches Kreischen, so wie man etwa zusammen singt.

"Am nächsten Morgen hing er am Mast und ein paar Leute blickten wohlwollend zu ihm hoch."
Dieses "Wohlwollen" bedarf meiner Ansicht nach einer näheren Qualifikation. Wieso schaut man "wohlwollend" auf den Leichnam eines Obdachlosen, der sich erhängt hat?

Vielleicht kannst du ja mit dem einen oder anderen etwas anfangen.
Liebe Grüße
Merlin

immekeppel

Beitragvon immekeppel » 11.05.2010, 11:31

lieber sibirier,

nette "galgenvogel" story, nebelkrähe war einst der spitzname meiner ältesten tochter, vergeben von meiner mutter, da werden gleich erinnerungen wach *g*

schön, wie er da am ende so hängt, gegangen für jedermann sichtbar, bedacht von möwen und der fetten bernadette, die rasch neue amüsierlichkeiten findet. und im gegesatz zu mnemosyne gefällt mir sowohl das kreisschen der weiber, der gören, der nebelkrähen und der möwen - das ist der zerrende klang der wirklichkeit....
und auch das wohlwollen erklärt sich mir darin, na prima, nu isser tot, der schmuddelkerl, hat sich selbst entsorgt und für den rest sorgen die erfüllungsgehilfen des staates....

ein paar kleinigkeiten hätte auch ich anders gemacht - da geb ich dem herrn mnemosyne recht - die ganze unterdeck-szenerie bietet sich an für einen tätigkeitswortlosen abschnitt, in den man das lied der begierde vielleicht beinahe lyrisch abhandeln könnte?

und als angehörige eines ehemaligen ingenieurs im schiffbau hab ich das "mittelgroße" schiff nicht gelesen *g*


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