Der Schiffbrüchige
Verfasst: 03.05.2007, 23:06
Dieser Text hat eine kleine Vorgeschichte. Als Jugendlicher lasen wir im Unterricht das Gedicht Nis Randers von Otto Ernst. Titel und Autor hatte ich schnell vergessen, nie aber die Geschichte, die in dem Gedicht erzählt wird. Beinnahe dreissig Jahre später, schrieb ich eine Geschichte aus den Erinnerungsfetzen an jenes Gedicht. Als ich den Text dann in ein Forum einstellte, wurde ich prompt auf das ursprüngliche Gedicht hingewiesen. (ich würde es gerne am Ende des Textes einstellen, aber ich weiß nicht, ob es urheberrechtlich möglich ist) Interessant war für mich zu sehen, wie sich die Geschichte in meinem Kopf verändert hatte, bzw. was sich über all die Jahre hinweg gehalten hatte.
Der Schiffbrüchige
Schon der Morgen kündigte den Sturm an. Der Himmel schimmerte wie grünspaniger Kupfer, die Dünung rollte seitwärts den Strand entlang und schlug heftig gegen die Riffe am Ende der Bucht. Der Horizont rückte minütlich näher, in einzelnen grauen Regenvorhängen, die sich schließlich zu einer bleifarbenen Front vereinten.
Jetzt kommt der Wind von Westen und wird immer stärker. Er zerbläst die Wellenkämme zu feinem Nebel und wühlt das Wasser auf. Gibt ihm die leicht lesbare Textur eines spätherbstlichen Sturmtiefs.
Seit dem späten Nachmittag steht Thomas vor dem Haus und beobachtet das Meer. Als die Dunkelheit schließlich alles verschluckt, geht er ins Haus.
Seine Mutter setzt ihm einen Tee und Suppe mit Brot vor und sieht ihm schweigend beim Essen zu.
„Das wird heftig heute Nacht“, sagt Thomas nachdem er sich den Mund an der Tischdecke abgewischt hat.
Die Mutter erwidert nichts. Sie schenkt dem Sohn etwas Tee nach, füllt sich selber eine Tasse und setzt sich ihm gegenüber an den Tisch.
„Ich hoffe, es ist heut Nacht keiner vor den Riffen unterwegs“, sagt er, wirft dabei den Kopf nach hinten, als könne er so den Blick seiner Mutter abschütteln.
„Jedenfalls werde ich das Boot klar machen“, meint er dann und steht auf.
Die Mutter tritt zwischen ihn und die Tür.
„Wer heute da draußen ist“, sagt sie leise, „der braucht ein Gebet, kein Boot.“
Ohne zu antworten schiebt sich Thomas an ihr vorbei. Aus dem Schuppen neben dem Haus nimmt er eine Kiste mit Tauen und Decken und schleppt sie hinunter zum Strand, wo ein Ruderboot, an einem Pfahl festgezurrt, in der hineinrollenden Brandung schaukelt und an dem Seil zerrt wie ein übermütiger Hund. Mit Mühe zieht Thomas das Boot auf den Strand, verstaut die Kiste hinter der Sitzbank, fettet nochmals schnell die Drehbolzen der Ruder und sichert mit zwei weiteren Knoten das Boot am Seil. Danach geht er wieder zurück ins Haus.
Gegen Mitternacht versucht er ein wenig zu schlafen. Nach einer guten Stunde steht er wieder auf. Er tritt aus dem Haus. Die heftigen Böen holen ihn fast von den Füßen. Mit einem Fernrohr sucht er den Horizont ab. Da entdeckt er ein Licht. Es tanzt in der Dunkelheit wie ein Glühwürmchen über dem Sommerschilf. Ein Schiff! Thomas schätzt es auf etwa eine drei Viertel Meile vom Riff entfernt. Der Wind kommt nun heftig aus Nordwest. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er das Schiff auf die Felsen bläst.
Thomas beobachtet das Licht, bis ihm die Augen schmerzen. Schließlich kann er erkennen, wie sich dessen Tanz verändert, wie es einen stetigen kleinen Kreis im Okular seines Fernrohrs beschreibt. Das Schiff ist aufgelaufen.
Endlich taucht die Dämmerung das Riff in ein graues Licht. Thomas versucht den Schiffstyp auszumachen. Ein dänisches oder deutsches Handelsschiff vermutet er. Es hat sich am Heck festgefahren, taucht mit seinem Bug immer wieder tief ins Wasser, reitet störrisch und verzweifelt auf mächtigen Brechern.
Sie haben Glück im Unglück, denkt Thomas. Der Fels, ein wenig nur unter der Wasseroberfläche verborgen, der sich in den Bauch des Schiffes gerammt hatte, hält es fest und verhindert, dass es gegen das Riff geschleudert wird.
Angestrengt versucht Thomas zu erspähen, ob sich noch Personen an Bord befinden. Wahrscheinlich hatte die Mannschaft das Boot verlassen, gleich nach dem Schiffbruch. Dann aber entdeckt er Mittschiffs zwei Gestalten, die versuchen zum Heck des Schiffes zu gelangen.
Thomas stürmt zurück in das Haus.
„Da ist ein Schiff“, ruft er aufgeregt, „aufgelaufen, draußen am Riff.“
Seine Mutter schaut ihn an. Durchdringend, als wolle sie sagen: Sprich bloß nicht weiter.
„Es sind noch Leute an Bord, ich hab´s genau gesehen.“
„Thomas“ sagt die Mutter laut und hebt abwehrend die Hand.
„Mutter“, wiederholt er, „da sind noch Menschen auf dem Schiff. Ich werde...“
„Sie werden ertrunken sein, bevor du überhaupt in die Nähe des Schiffes kommst, bei dem Sturm.“
„Nicht unbedingt“, erwidert Thomas, „der Sturm scheint etwas nachzulassen. Das lässt ihnen noch ein wenig Zeit, verstehst du. Ich kann hinkommen.“
Das Gesicht der Mutter ist grau wie das Meer und regungslos. Nur ihre Augen scheinen auf der Suche zu sein, als gäbe es in dem Raum irgendeine Stelle, die, wenn sie darauf blickte, den Sohn beruhigen könnte, ihn sich setzen lassen würde, setzen und nachdenken. Doch der ist schon wieder an der Tür.
„Ich rudere raus“, sagt er entschlossen.
„Nein!“, ruft die Mutter und ihre Stimme klingt ärgerlicher als der Sturm. Nahe tritt sie heran an ihren Sohn, bis sie seinen sauren Atem riecht, seinen Schweiß der Aufregung, bis sie jedes Härchen auf seiner Haut erkennen kann, die salzverkrusteten Fältchen neben den Augen.
Sie legt eine schwielige Hand auf seinen Arm, der hart ist wie Stein.
„Das Meer nimmt nur und gibt nichts her. Es hat deinen Vater genommen und auch Uwe, deinen Bruder, wird es genommen haben, wo er schon so lange verschollen ist mit seinem Schiff. Du wirst nicht gehen. Lass das Meer diese Menschen dort draußen haben, und es wird zufrieden sein. Bleibe hier, und danke Gott für die Erde unter deinen Füssen.“
„Ich soll zusehen wie diese Menschen ertrinken, obwohl ich ihnen helfen könnte?“
„Du kannst ihnen nicht helfen“, schreit die Mutter, „ihnen ist nicht mehr zu helfen.“ Da ist er aber schon fast zur Türe hinaus und sie ruft hinterher:
„Mir kannst du helfen, verstehst du, mir, indem du hier bleibst.“ Doch die Worte frisst das Heulen des Sturms als Thomas die Tür aufreißt und hinausläuft.
Die Mutter versucht im kleinen Kreis des Fernrohrs den Sohn zu finden. Sie entdeckt ihn, wie er mit kräftigen Schlägen des Ruderboot durch die hohen Wellen zwingt. Immer wieder, wenn er in ein Wellental abtaucht, entschwindet er ihrem Blick. Jedes Mal bange Sekunden, jedes Mal die Angst, er könne mit der nächsten Welle nicht mehr zu sehen sein.
Langsam nähert er sich dem Schiff. Das krängt inzwischen schwer nach Steuerbord, sie kann den aufgerissen Rumpf erkennen, kann sehen, dass es nicht mehr viel braucht um den Schiffskörper von dem Felsen zu spülen. Auch findet sie die beiden Gestalten, die sich an die Reling klammern und, da sie Thomas scheinbar schon entdeckt haben, heftig winken.
Thomas hat sie fast erreicht, als ein mächtiger Brecher das Schiff überrollt. Überhaupt scheint der Sturm sich seiner ursprünglichen Kraft zu entsinnen, als wäre es ihm wichtig noch dieses eine Opfer einzuholen, so heftig stemmt er sich in das Meer, lässt es nochmals aufkochen und als sie das Schiff wieder sehen kann, da ist nur noch eine Person an Bord.
Thomas wirft ein Tau mit Schwimmer aus. Sie beobachtet, wie sich ein Körper ins Wasser fallen lässt, dann versperren ihr die Wellen und der Regen die Sicht.
Minuten vergehen bis das Ruderboot wieder auftaucht, in tollem Ritt auf den Wellenkämmen, oftmals seitwärts gedreht von den Strömungen. Mit jedem Mal, den das Boot hinter den riesigen Wogen verschwindet, beißt sich ein furchtbarer Schmerz durch ihre Brust und ihren Bauch. Sie erstickt beinahe an ihrer Angst.
Sie weiß nicht, ob das Boot näher kommt. Mal scheint es nach Norden abzudriften, mal nach Süden, dann wieder hat sie das Gefühl, es entferne sich mehr von der Küste, als dass es ihr näher käme.
Wen du mit dem Meer lebst, denkt sie, bist du niemals sicher vor ihm. Es verschluckt diejenigen, die sich auf es hinaus trauen. Und die an Land zurück bleiben zehrt es langsam aus. Bis man nur noch eine Vogelscheuche ist, an der sich der Wind vergnügt.
Dann ist sie sicher, Thomas hat es fast geschafft. Sie rennt hinunter zum Strand. Aber noch ist er ein Stück draußen, noch beißt die See nach ihm.
Groß möchte sie sein, groß genug, um sich einfach nur herabbeugen zu müssen, um den Jungen aus dem Boot zu nehmen und an ihre Brust zu drücken. Aber so groß sie sich wünscht, so klein ist sie, so ohnmächtig, kaum dass sie stehen kann im Fauchen des Sturmes, blind fast im Gepeitsche von Regen und Schnee und Sand.
Fast nicht zu sehen wie Thomas in das knietiefe Wasser springt, sich nur schwer auf den Füßen halten kann, der Sog ihm die Beine wegziehen will, er das Boot auf den Sand schleift, es sich zur Seite neigt, soweit, dass ein in Decken gewickelter Körper hinaus rollt. Sie will hinlaufen zu ihrem Sohn, will ihn schlagen, will ihn küssen, will ihm allen Schmerz und alle Erleichterung ins Gesicht schreien, bleibt dennoch stehen, gelähmt vor Stolz und Wut.
Thomas packt den regungslosen Körper unter den Armen, dreht sich zu seiner Mutter herum und ruft:
„Komm, fass mit an.“
Noch kann sie sich nicht bewegen. Aber dann bemerkt sie den Blick ihres Sohnes, das zusammengekniffene Gesicht, das trotz der unaufhörlichen Geißelung durch Luft und Wasser einen unendlichen Triumph verrät.
„Mutter“, ruft er nochmals, „fass mit an! Es ist Uwe!“
Der Schiffbrüchige
Schon der Morgen kündigte den Sturm an. Der Himmel schimmerte wie grünspaniger Kupfer, die Dünung rollte seitwärts den Strand entlang und schlug heftig gegen die Riffe am Ende der Bucht. Der Horizont rückte minütlich näher, in einzelnen grauen Regenvorhängen, die sich schließlich zu einer bleifarbenen Front vereinten.
Jetzt kommt der Wind von Westen und wird immer stärker. Er zerbläst die Wellenkämme zu feinem Nebel und wühlt das Wasser auf. Gibt ihm die leicht lesbare Textur eines spätherbstlichen Sturmtiefs.
Seit dem späten Nachmittag steht Thomas vor dem Haus und beobachtet das Meer. Als die Dunkelheit schließlich alles verschluckt, geht er ins Haus.
Seine Mutter setzt ihm einen Tee und Suppe mit Brot vor und sieht ihm schweigend beim Essen zu.
„Das wird heftig heute Nacht“, sagt Thomas nachdem er sich den Mund an der Tischdecke abgewischt hat.
Die Mutter erwidert nichts. Sie schenkt dem Sohn etwas Tee nach, füllt sich selber eine Tasse und setzt sich ihm gegenüber an den Tisch.
„Ich hoffe, es ist heut Nacht keiner vor den Riffen unterwegs“, sagt er, wirft dabei den Kopf nach hinten, als könne er so den Blick seiner Mutter abschütteln.
„Jedenfalls werde ich das Boot klar machen“, meint er dann und steht auf.
Die Mutter tritt zwischen ihn und die Tür.
„Wer heute da draußen ist“, sagt sie leise, „der braucht ein Gebet, kein Boot.“
Ohne zu antworten schiebt sich Thomas an ihr vorbei. Aus dem Schuppen neben dem Haus nimmt er eine Kiste mit Tauen und Decken und schleppt sie hinunter zum Strand, wo ein Ruderboot, an einem Pfahl festgezurrt, in der hineinrollenden Brandung schaukelt und an dem Seil zerrt wie ein übermütiger Hund. Mit Mühe zieht Thomas das Boot auf den Strand, verstaut die Kiste hinter der Sitzbank, fettet nochmals schnell die Drehbolzen der Ruder und sichert mit zwei weiteren Knoten das Boot am Seil. Danach geht er wieder zurück ins Haus.
Gegen Mitternacht versucht er ein wenig zu schlafen. Nach einer guten Stunde steht er wieder auf. Er tritt aus dem Haus. Die heftigen Böen holen ihn fast von den Füßen. Mit einem Fernrohr sucht er den Horizont ab. Da entdeckt er ein Licht. Es tanzt in der Dunkelheit wie ein Glühwürmchen über dem Sommerschilf. Ein Schiff! Thomas schätzt es auf etwa eine drei Viertel Meile vom Riff entfernt. Der Wind kommt nun heftig aus Nordwest. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er das Schiff auf die Felsen bläst.
Thomas beobachtet das Licht, bis ihm die Augen schmerzen. Schließlich kann er erkennen, wie sich dessen Tanz verändert, wie es einen stetigen kleinen Kreis im Okular seines Fernrohrs beschreibt. Das Schiff ist aufgelaufen.
Endlich taucht die Dämmerung das Riff in ein graues Licht. Thomas versucht den Schiffstyp auszumachen. Ein dänisches oder deutsches Handelsschiff vermutet er. Es hat sich am Heck festgefahren, taucht mit seinem Bug immer wieder tief ins Wasser, reitet störrisch und verzweifelt auf mächtigen Brechern.
Sie haben Glück im Unglück, denkt Thomas. Der Fels, ein wenig nur unter der Wasseroberfläche verborgen, der sich in den Bauch des Schiffes gerammt hatte, hält es fest und verhindert, dass es gegen das Riff geschleudert wird.
Angestrengt versucht Thomas zu erspähen, ob sich noch Personen an Bord befinden. Wahrscheinlich hatte die Mannschaft das Boot verlassen, gleich nach dem Schiffbruch. Dann aber entdeckt er Mittschiffs zwei Gestalten, die versuchen zum Heck des Schiffes zu gelangen.
Thomas stürmt zurück in das Haus.
„Da ist ein Schiff“, ruft er aufgeregt, „aufgelaufen, draußen am Riff.“
Seine Mutter schaut ihn an. Durchdringend, als wolle sie sagen: Sprich bloß nicht weiter.
„Es sind noch Leute an Bord, ich hab´s genau gesehen.“
„Thomas“ sagt die Mutter laut und hebt abwehrend die Hand.
„Mutter“, wiederholt er, „da sind noch Menschen auf dem Schiff. Ich werde...“
„Sie werden ertrunken sein, bevor du überhaupt in die Nähe des Schiffes kommst, bei dem Sturm.“
„Nicht unbedingt“, erwidert Thomas, „der Sturm scheint etwas nachzulassen. Das lässt ihnen noch ein wenig Zeit, verstehst du. Ich kann hinkommen.“
Das Gesicht der Mutter ist grau wie das Meer und regungslos. Nur ihre Augen scheinen auf der Suche zu sein, als gäbe es in dem Raum irgendeine Stelle, die, wenn sie darauf blickte, den Sohn beruhigen könnte, ihn sich setzen lassen würde, setzen und nachdenken. Doch der ist schon wieder an der Tür.
„Ich rudere raus“, sagt er entschlossen.
„Nein!“, ruft die Mutter und ihre Stimme klingt ärgerlicher als der Sturm. Nahe tritt sie heran an ihren Sohn, bis sie seinen sauren Atem riecht, seinen Schweiß der Aufregung, bis sie jedes Härchen auf seiner Haut erkennen kann, die salzverkrusteten Fältchen neben den Augen.
Sie legt eine schwielige Hand auf seinen Arm, der hart ist wie Stein.
„Das Meer nimmt nur und gibt nichts her. Es hat deinen Vater genommen und auch Uwe, deinen Bruder, wird es genommen haben, wo er schon so lange verschollen ist mit seinem Schiff. Du wirst nicht gehen. Lass das Meer diese Menschen dort draußen haben, und es wird zufrieden sein. Bleibe hier, und danke Gott für die Erde unter deinen Füssen.“
„Ich soll zusehen wie diese Menschen ertrinken, obwohl ich ihnen helfen könnte?“
„Du kannst ihnen nicht helfen“, schreit die Mutter, „ihnen ist nicht mehr zu helfen.“ Da ist er aber schon fast zur Türe hinaus und sie ruft hinterher:
„Mir kannst du helfen, verstehst du, mir, indem du hier bleibst.“ Doch die Worte frisst das Heulen des Sturms als Thomas die Tür aufreißt und hinausläuft.
Die Mutter versucht im kleinen Kreis des Fernrohrs den Sohn zu finden. Sie entdeckt ihn, wie er mit kräftigen Schlägen des Ruderboot durch die hohen Wellen zwingt. Immer wieder, wenn er in ein Wellental abtaucht, entschwindet er ihrem Blick. Jedes Mal bange Sekunden, jedes Mal die Angst, er könne mit der nächsten Welle nicht mehr zu sehen sein.
Langsam nähert er sich dem Schiff. Das krängt inzwischen schwer nach Steuerbord, sie kann den aufgerissen Rumpf erkennen, kann sehen, dass es nicht mehr viel braucht um den Schiffskörper von dem Felsen zu spülen. Auch findet sie die beiden Gestalten, die sich an die Reling klammern und, da sie Thomas scheinbar schon entdeckt haben, heftig winken.
Thomas hat sie fast erreicht, als ein mächtiger Brecher das Schiff überrollt. Überhaupt scheint der Sturm sich seiner ursprünglichen Kraft zu entsinnen, als wäre es ihm wichtig noch dieses eine Opfer einzuholen, so heftig stemmt er sich in das Meer, lässt es nochmals aufkochen und als sie das Schiff wieder sehen kann, da ist nur noch eine Person an Bord.
Thomas wirft ein Tau mit Schwimmer aus. Sie beobachtet, wie sich ein Körper ins Wasser fallen lässt, dann versperren ihr die Wellen und der Regen die Sicht.
Minuten vergehen bis das Ruderboot wieder auftaucht, in tollem Ritt auf den Wellenkämmen, oftmals seitwärts gedreht von den Strömungen. Mit jedem Mal, den das Boot hinter den riesigen Wogen verschwindet, beißt sich ein furchtbarer Schmerz durch ihre Brust und ihren Bauch. Sie erstickt beinahe an ihrer Angst.
Sie weiß nicht, ob das Boot näher kommt. Mal scheint es nach Norden abzudriften, mal nach Süden, dann wieder hat sie das Gefühl, es entferne sich mehr von der Küste, als dass es ihr näher käme.
Wen du mit dem Meer lebst, denkt sie, bist du niemals sicher vor ihm. Es verschluckt diejenigen, die sich auf es hinaus trauen. Und die an Land zurück bleiben zehrt es langsam aus. Bis man nur noch eine Vogelscheuche ist, an der sich der Wind vergnügt.
Dann ist sie sicher, Thomas hat es fast geschafft. Sie rennt hinunter zum Strand. Aber noch ist er ein Stück draußen, noch beißt die See nach ihm.
Groß möchte sie sein, groß genug, um sich einfach nur herabbeugen zu müssen, um den Jungen aus dem Boot zu nehmen und an ihre Brust zu drücken. Aber so groß sie sich wünscht, so klein ist sie, so ohnmächtig, kaum dass sie stehen kann im Fauchen des Sturmes, blind fast im Gepeitsche von Regen und Schnee und Sand.
Fast nicht zu sehen wie Thomas in das knietiefe Wasser springt, sich nur schwer auf den Füßen halten kann, der Sog ihm die Beine wegziehen will, er das Boot auf den Sand schleift, es sich zur Seite neigt, soweit, dass ein in Decken gewickelter Körper hinaus rollt. Sie will hinlaufen zu ihrem Sohn, will ihn schlagen, will ihn küssen, will ihm allen Schmerz und alle Erleichterung ins Gesicht schreien, bleibt dennoch stehen, gelähmt vor Stolz und Wut.
Thomas packt den regungslosen Körper unter den Armen, dreht sich zu seiner Mutter herum und ruft:
„Komm, fass mit an.“
Noch kann sie sich nicht bewegen. Aber dann bemerkt sie den Blick ihres Sohnes, das zusammengekniffene Gesicht, das trotz der unaufhörlichen Geißelung durch Luft und Wasser einen unendlichen Triumph verrät.
„Mutter“, ruft er nochmals, „fass mit an! Es ist Uwe!“