Seite 1 von 1

Treppe zum Gleis 3

Verfasst: 17.04.2007, 21:52
von Othmar
Treppe zum Gleis 3

Auf der Stufe der Treppe,
die mich auf Gleis 3 bringt,
liegt eine Kastanie.

Ihre Botschaft begreife ich,
als ich mich bücke
und sie aufhebe.

Braun ist sie - jetzt meine Kastanie -
und die kleinen Schürfwunden,
die der lange Weg gefordert hat,
machen ihre dick-saftige Schale behutsam zart.

Aus meiner Hand formt sie ein Bett
und legt sich hinein.
Nimm mich mit! schläft sie leise,
nimm mich mit.

Verfasst: 18.04.2007, 00:29
von ferdi
Hallo Othmar!

Gefällt mir gut, bis vielleicht auf den letzten Vers des dritten Abschnitts, der mir zu schwer wirkt. Und in der allerersten Zeile hätte ich "eine Stufe" statt "der Stufe" erwartet - so klingt es etwas, als gäbe es nur eine Stufe. Ach ja, Abschnitt drei, Zeile eins: "Kastanie-." Zwei Satzzeichen?!

Ferdigruß!

Verfasst: 18.04.2007, 21:33
von Othmar
Hallo Ferdi.

Danke für oben.
Das mit den Satzzeichen habe ich geändert.
„Auf der Stufe …“ ich denke / dachte immer nur an den bestimmten Artikel. Der Ziel, bevor "ich" die Kastanie gefunden habe, war klar: Gleis 3. Was "ich" auf den Weg dorthin erleben sollte, davon wußte "ich" nichts.
Dass Dir der letzte Vers in Strophe zu schwer wirkt - ich kanns nachvollziehen. Ob ich diesen Vers genaue erklären kann - auch mir erklären kann? Das ist nicht immer einfach. Es hat damit zu tun, dass das Erlebte und die Erfahrung einfachster Alltag sind. Deshalb auch die viele „Prosa“. Und dieser Satz hat aus meiner Sicht die meiste Prosa. Die lässt mich nicht wirklich los; andererseits ich sie auch nicht.

LG - Othmar

Verfasst: 22.04.2007, 12:05
von Lisa
Lieber Othmar,

ich finde in diesem zweiten Text erkennt man deine Perspektive wieder, die ich schon in "Olivenzweige zwischen den Zehen" kennen gelernt habe, etwas Kleines wird bemerkt und in ihm ein größeres Geheimnis oder Gefühl sichtbar. Als Kindheitsameisenbeobachterin kenne ich solche Kastanienfunde sehr gut und sie sind mir "wahr". Auch finde ich, dass das Bild der Kastanie sich sehr gut eignet, ein Samen, das glänzen, der weiße Kern...


In Strophe 1 ist es etwas falsch ausgedrückt (der Titel geht für sich noch):
Auf der Stufe der Treppe,
die mich auf Gleis 3 bringt,
liegt eine Kastanie.


Du meinst, die dich auf den Bahnsteig bringt, auf die Gleise bringt dich die Treppe hoffentlich nicht ;-). Ich glaube, das ist hier grenzwertig, das so zu sagen.

Diese Strophe

Ihre Botschaft begreife ich,
als ich mich bücke
und sie aufhebe.


ist mir zu deutlich, sie nimmt den Zauber, weil sie zuviel erklärt. Wenn man erst den "Ruf" der Kastanie so deutlich erklären muss, nimmt man ihm das Magische.

Ebenso geht es mir mit dieser Stelle:

die der lange Weg gefordert hat,


zu erklärend, ohne den Vers für mich viel stärker, da ungewollter erzählend (rutscht so fast ins Moralische).

Dagegen finde ich:

Aus meiner Hand macht sie ein Bett
und legt sich hinein.


schön aktiv erzählt

woran dann der ungewöhnliche Gebrauch von "schläft":

Nimm mich mit! schläft sie leise,
nimm mich mit.


gelungen anschließt.


Insgesamt scheinst du mir diesen Text zu stark zu einem Gedicht gemacht haben zu wollen, man merkt an einigen Stellen dass die Aussagen noch nicht frei atmen. Der Text muss sicher keine völlig ohne lyrische Elemente auskommen, aber ich glaube, er möchte noch mehr ins Erzählende gleiten. Mir ist zuviel zurückgehalten, so im Korsett eines Gedichts wirkt das noch etwas angestrengt.


Wäre der Titel vielleicht lesbarer, wenn er hieße: Treppe zu Gleis 3? (vielleicht falsch, aber für mich flüssiger).


Liebe Grüße,
Lisa

Verfasst: 22.04.2007, 15:13
von Othmar
Hallo Lisa.

Gehe doch mal davon aus: ich habe den Text absichtlich so geschrieben, dass er der Prosa sehr nah kommt. Und ich mache ihn mit Absicht zu einem Gedicht. Dann gäbe es vielleicht ein Frage, nämlich die: Warum?

Ich weiß doch selbst, dass ich mit der 2. Strophe den Zauber der Kastanie nehme – den hebe ich mir bis ganz zum Schluss auf, bis ich das Stilmittel der Katachrese verwende, um die beidseitige Änderung der Beziehung sprachlich zu gestalten und ins Lyrische hinüber zu führen.

Den Zauber der Kastanie nehme ich in den 2. Strophe – aber nur oberflächlich. Wenn ich die auf die Begriffe „begreifen“, „bücken“ und „aufheben“ verzichte, würde ich auf etwas Wesentliches verzichten, das nicht mehr erreichbar wäre. Denn den körperlichen Bückling des Lyrischen Ichs vor der Kastanie brauchts unbedingt, Ehrfurcht, Respekt, Mühen, das Aufgeben der eigenen Haltung. Erst dann ist das Aufheben im dialektischen Sinne des Begriffs möglich und erst dann kann die Verwandlung beginnen. Und dann kann auch der Zug abfahren.

Wie ich eben beim Lesen des Gedichts feststelle, hatte ich den ersten Vers der vierten Strophe in der ersten Version geschrieben:
„Aus meiner Hand formt sie ein Bett“ (statt: macht sie ein Bett). Ich weiß nicht, wo ich das "formt" verloren habe. Aber der Begriff ist wichtig wegen seiner Bedeutung und vor allem auch wegen des Vokals "o": genauso sieht das Bett aus, in dem die Kastanie schläft.

Lisa, so wie das Lyrische Ich die Reise gestartet hat - ein wenig stürmisch -, bringt ihn die Treppe tatsächlich zum Gleis 3.


Liebe Grüße und Danke - Othmar