Ariadnes Furcht

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 07.08.2006, 18:47

Ariadnes Furcht

In einem Zimmer
sitz ich

und du
in einem anderen

und doch
in einem Haus

Zimmer
an Wand
an Tür
an Schloss


Wie lang wirst du
mich noch lieben

wenn ich hier sitzen bleibe
und mir Labyrinthe baue

aus müdem Lehm
und Trauerstuck

Zimmer
an Wand
an Tür
an Schloss

dich heiße
den Faden
zu halten

für eine kleine Weile
immerfort

den ich selbst gewunden.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 08.08.2006, 12:40

Hallo blaue Labyrinthdame,

schlanke Schrift ... ohne jegliches Patina ... gefällt mir.

Der Anfang liest sich ein bisschen wie ein Kinderrätsel:


In einem Zimmer
sitz ich

und du
in einem anderen

und doch
in einem Haus

Schneckenwohngemeinschaft ? *g

Ich denke es liegt an: "und doch in einem Haus"
Könnte auf die Anfangszeilen ganz verzichten.
Würde bei "Wie lange wirst du" einsteigen.


aus müdem Lehm
und Trauerstuck

starkes Bild

Eine originelle Perspektive zeigst du auf. Denn primär befürchtet man ja eher, dass das Knäul nicht genügend Faden hergibt für ein "immerfort", statt Angst zu haben, dass der Faden losgelassen wird ... aber vermutlich weil LyI den Faden selbst gewunden, weiß sie, dass er ausreicht. (tolle Metaebenen eröffnen sich da)
Aber Ariadne hat doch keine Labyrinthe gebaut, oder liege ich falsch ? Außerdem ist sie doch die Retterin und nicht die zu Rettende (rein mythisch gesehen ... bin da aber nicht so sattelfest)
Metaphorisch gefällt mir das aber. Sie ist gefangen in ihrem eigenen Labyrinth, nur den Faden zeigt sie von sich, sonst nichts ... nur über den Faden kann er Zugang zu ihr bekommen ... schön.

LG
Nifl

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 08.08.2006, 13:08

Hallo Nifl,

danke, dass du dich diesem text angenommen hast, ich muss sagen, dass ich (nein, ich sage das nicht bei jedem meiner texte :-)) mit ihm ziemlich unzufrieden bin. Den ersten Teil zu streichen empfinde ich durchaus als möglich, ich bin da etwas unentschieden, denn der Gedanke zum gedicht kam mir eben durch diese beiden Zimmer, die doch in einem haus sind und dennoch sich gegenseitig unednlich fern...

Das größere problem macht mir auch, dass sowohl mythologisch als auch inhaltlich der Text teilweise unlogisch ist. ich bin selbst nicht mythologisch bewandert, aber Ariadne war die retterin ja und sie hat das Labyrinth auch nicht gebaut. Das geht für mich noch in soweit auf, als dass Theseus und Ariadne (auch wenn der Unflätige sie später schlafend auf einer Insel zurücklies wie es die antiken helden wohl immer mit damen zu zun pflegen :mrgreen:) sich "liebten" und das ich das Bild so wandeln wollte, dass die Erfindung des Fadens von Ariadne erst das Labyrinth schafft. Als die Umwege sind für Theseus also nur da, weil Ariadne sie für ihn/sich schafft...der Faden, der zwar auch den weg isn Innerste des Labyrinthes sichert ist zugleich die Bedingung, warum er überhautp das Labyrinth durchreisen muss und dabei wird der faden immer länger und länger...

Trotzdem passt das alles irgednwie nicht (bildlich/erzählerisch) und ich bin davon überzeugt, dass da auch nicht mehr viel zu retten ist :angst_2:

letzendlich sollte das Thema zeit durch das "Wie lang" ausgedrückt werden

Liebe Schneckenhausgrüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 08.08.2006, 22:39

Liebe Lisa,

für mich ist dieses Gedicht unverhüllter - ach, in einem echten Literaturforum muss man wohl schreiben "weniger hermetisch" - als die allermeisten Deiner Texte. Das hat den Vorteil, dass ich ihn sehr gut lesen und verstehen kann, aber poetisch wird er dadurch gleichzeitig knapper als andere Deiner Texte. Das ist nicht immer nachteilig sein, bei Dir fällt es nur besonders auf, weil Du so eine große Bildkraft hast. Auffällig finde ich weiterhin, dass relativ gewöhnliche Bild des Hauses mit fernen Zimmern, das ich nicht anders als ein Haus lesen kann, vielleicht als ein Leben.

Stark finde ich

aus müdem Lehm
und Trauerstuck


Das ist die Lisa aus vielen Gedichten hier :-). Die letzte Zeile erinnert mich an die "Selbstverwunschenheit" aus einem alten Stück von Dir, das ich vor langer Zeit mal lesen durfte.

Mit dem Titel mag ich noch nicht ganz zurecht kommen. Es ist ja nicht Ariadne, die am Faden durch das Labyrinth läuft, sondern Theseus, sie hält ihn noch nicht einmal, hat ihn nur gestiftet. Und, wenn man die Geschichte der Ariadne aufruft, könnte man daran denken auch den Minotaurus auftreten zu lassen ... aber das sind nur vage Ideen.

Dem lyrischen Ich mächte man eigentlich zurufen, warum es denn all diese Labyrinthe baut .. Theseus hatte ja keine Wahl, das lyr. Ich, so denke ich sehr wohl.

Liebe Grüße
Max

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 09.08.2006, 03:39

Dieses Gedicht finde ich von oben bis unten, in allen Details, unfassbar genial. Wie kann man mit so einem Geniestreich unzufrieden sein? Vielleicht deshalb, weil das vollendete Werk nicht ganz so wirkt, wie der Plan vorsah? Wenn so, dann zum Teufel mit dem Plan. Ich, als Leser, kenne den Plan nicht, ich genieße nur das vollendete Werk.

Nur zur Sicherheit: ich meine den Geniestreich vom 07 Aug 2006 18:47 -- Wer weiß, wie er sich noch verändern wird ...

;-)

Pjotr

steyk

Beitragvon steyk » 10.08.2006, 07:37

liebe lisa,
man lebt zusammen, beieinnander, nebenan
und doch vergeht die zeit für jeden anders.

gruß stefan

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 10.08.2006, 09:40

Zum Teufel mit dem Plan.

Ein ungewohnt irdenes und unentrücktes Gedicht von dir, Lisa. Ist das der Moment, wenn Lyrisches und körperliches Ich eins werden?

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

scarlett

Beitragvon scarlett » 10.08.2006, 11:14

Liebe Lisa,

ich kann eigentlich auch nicht so recht nachvollziehen, daß du mit diesem Gedicht unzufrieden bist - auch wenn ich das Gefühl sehr genau kenne, etwas ganz Bestimmtes gewollt zu haben, eine ganz bestimmte Intention verfolgt zu haben und dann zu meinen, man habe das nicht erreicht, zumindest nicht so versprachlicht, wie mans gern hätte.
Trotzdem kommt dein Gedicht sehr gut bei mir an - es ist, wie Max schon gesagt hat - weit weniger "hermetisch" als so manch andere Texte von dir, mit denen ich mich - zugegebenermaßen - etwas schwer tue. Nicht so bei diesem...

Auch finde ich den Titel völlig ok - das lyrIch fürchtet doch, evtl. irgendwann nicht mehr geliebt zu werden, wenn es nur weiter baut an seinem Labyrinth, (das heißt sich auch in Einsamkeit zurückzieht, trotzdem ist es aktiv, das Du hingegen soll ja nur die Fäden halten, ihm folgen)... es stellt ja diese Frage selbst: "wie lang wirst du..."

Auf die Eingangszeilen zu verzichten, wäre für mich dann so wie "mit der Tür ins Haus zu fallen" - ich finde, sie schaffen eine Atmosphäre, in der das Folgende erst an Tiefe noch gewinnt: ein Haus, zwei Zimmer und doch unendlicher Platz, um ein Labyrinth entstehen zu lassen - wie weit sind lyrIch und Du schon voneinander weg??? - Also ich find das genial...
Durch die Wiederholung kommt für mich sowas wie Märchenhaftes hinein, es hat was Beschwörendes und gleichzeitig Eindringliches.

Für mich spielen die mythologischen Bezüge in diesem Gedicht - trotz Ariadne, Faden usw. - eher eine untergeordnete Rolle - klar, es ist wichtig, ohne Zweifel, aber wie wo was genau ... Theseus, Minotaurus usw. nee, das brauch ich zum Verständnis nicht. Das Gedicht spricht auch so zu mir, liebe Lisa, aber du magst vielleicht einen höheren Anspruch stellen an deinen Text.
Ich finde ihn wunderschön, traurig, melancholisch...

Lieben Gruß,

scarlett

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 12.08.2006, 18:44

Liebe Lisa,

ich denke ebenfalls, dass Du mit Deinem Gedicht nicht zu perfektionistisch ins Gericht gehen solltest.

Schön auch, wie Du die Rollen vertauschst. Schließlich sitzt doch Theseus im Labyrinth fest.

Weißt Du auch, wie die Sage weitergeht, nachdem Theseus mit Ariadnes Faden dem Labyrinth entrinnen konnte?

Er verließ sie auf Wunsch des Dionysos, damit dieser sie zur Frau nehmen konnte.

Beste Grüße

Paul Ost

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.08.2006, 16:02

Hallo ihr,

Pjotr, damit hast du mich herrlich zum Lachen gebracht:

Wenn so, dann zum Teufel mit dem Plan.


wunderbar! Und recht hast du wohl :smile:

Danke auch den anderen für das Lob...nun ja, mit meiner Einschätzung steht es trotzdem nicht besser, was ich aber interessant finde: Scarlett: Ich fänd es wirklich sehr sehr hilfreich (wie kann ich das formulieren, dass es glaubwürdig klingt?), wenn du mir zu meinen hermetischeren texten Rückmeldung gibst, was dir den text verschließt (falls das überhautp möglich ist :razz: ). Dann zieht Gerda nicht immer alleine an dem Strang, mich in die Realität zurückzuholen :smile: ). Ich kann da wirklich auch negatives Feedback sehr brauchen und denke, wsolange es begründet es, kann ich auch prima damit umgehen. Vielleicht kann ich oft nichts an dem Text selbst dann mehr ändern, aber für das weitere Gedichteschreiben fließt sowas natürlich mit in die Feder hinein...mir würde das also sehr helfen!

ich glaube, ich bin bei diesem Gedicht gar nicht unzufrieden, weil das gedicht keinem Plan gerecht geworden ist (den habe ich soweiso nicht oft :mrgreen: ), sondern eher, weil es für ich selbst nicht fertig erscheint..seltsam dass dir, pjotr, diese Texte dann scheinbar zusagt. Wer weiß, vielleicht zensiert mein Kopf dann weniger und beschwert sich hintehrer darüber :mrgreen:

Danke euch allen und Paul: ja, das wusste ich, ich dahcte aber zunächst sogar dass Theseus sie absichtlich auf der Insel zurücklies...aber dem war wohl nicht so?

Liebe grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 13.08.2006, 16:57

Hehehe. Lisa, meine Äußerung war schlichtweg nur egoistisch von mir: die besagte Version Deines Gedicht paßt einfach wunderbar auf jenes Musikstück; ich hatte beim Arrangieren diesselbe Szenerie wie in diesem Gedicht in meinem Kopf.

Tja, du sagst, es gäbe keinen Plan, aber es erscheine "unfertig". Ich meine, das kommt aufs gleiche raus: "unfertig" kann nur dasjenige sein, was dem Plan noch nicht ganz entspricht. Also Jacke wie Hose. Plan wie Vorhaben wie Intention wie Absicht. Ich meine all dies. Nun Schluß mit meinem Egoismus. Wenn das Gedicht Dir unfertig erscheint, dann fehlt Dir noch etwas. Das ist immerhin besser, als etwas zu streichen; die ersten zehn Zeilen würde ich auf keinen Fall streichen; wegen ihnen habe ich überhaupt weitergelesen. Das Bild hat so einen schönen Hauch von surrealer Groteske ...


Cheers

Pjotr

Max

Beitragvon Max » 13.08.2006, 18:40

*g* Lisa, das sieht den Frauen ähnlich: wenn Männer großmütig sind, wird ihnen auch noch böse Absicht unterstellt ;-)

Liebe Grüße trotzdem
Max

aram
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Beitragvon aram » 07.09.2006, 23:59

liebe lisa -

(auch hier - ein wenig spät von mir - passt zum thema)


zum ersten teil bis 'wie lang' gibt es ja unterschiedliche empfindungen -
ich gehöre zu denen, die in diesen teil nicht 'reinkommen' - jedoch nur wegen der einen strophe

und doch / in einem haus

- warum weiß ich nicht, aber sie katapultiert mich aus der lyrik (*g) -

(doch, ich weiß: der verstand geht quer und kommt aus seinem ruhezustand, sieht nach -
denn: zwei zimmer in einem haus sind eh normal - daher 'alarmiert' hier das 'doch'. dann 'ist' da aber gar nichts; somit bricht der illusionsraum ein)

ohne sie ist's für mich berührend, mit ihr komisch.
(wie ich unsere lyr.ichs kenne .-), vermute ich, dass für dich genau diese stelle besondere bedeutung haben könnte - ?)

ansonsten transportiert das gedicht für mich heute - anders als beim ersten lesen - ab "lieben" - müdigkeit, leere handlungsunfähigkeit, verzagt, schwach, 'nicht ganz da' - alles wie durch einen schleier.

es geht mir immer wieder so mit deinen texten, dass sie nicht gleich bleiben, sich verändern für mich.


obwohl ich ansonsten zu denen gehöre, die auf genauigkeit von bezügen innerhalb des textes und aus ihm heraus ziemliches augenmerk legen, ist mir die mythologische entsprechung bie diesem gedicht überhaupt nicht wichtig - ich hab nicht das gefühl, dass es um den mythos geht, sondern dass bilder daraus genommen sind und auf neue figuren gelegt werden.

liebe grüße,
aram


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